Die Agenda 2010 ist ein Konzept zur Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes, das von 2003 bis 2005 von der aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gebildeten Bundesregierung (Kabinett Schröder II) weitgehend umgesetzt wurde.
Die Bezeichnung Agenda 2010 verweist auf Europa. So hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 auf einem Sondergipfel in Portugal beschlossen, die EU bis zum Jahr 2010 nach der sogenannten „Lissabon-Strategie“ zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Die Inhalte der Agenda 2010 decken sich jedoch nur begrenzt mit denen der Lissabon-Agenda, die auf die Förderung von Innovation, der Wissensgesellschaft und der sozialen Kohäsion abzielte. Die Agenda 2010 sollte vor allem einen Schritt zur Bewältigung der Arbeitsmarktprobleme und des sich abzeichnenden demografischen Wandels in Deutschland darstellen.[1]
Die Agenda 2010 wurde in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003[2] verkündet. Vorarbeiten waren bereits im Schröder-Blair-Papier von 1999 geleistet worden sowie mit dem Bericht der sogenannten Hartz-Kommission vom 16. August 2002.[3] Als Ziele nannte Schröder unter anderem die Verbesserung der „Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung“ sowie den „Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung“.[2] Die mit den Worten „Wir werden Leistungen des Staates kürzen“[2] angekündigten Maßnahmen führten zu heftigen Kontroversen, insbesondere auch in der SPD selbst.
Die Delegierten des Sonderparteitags der SPD am 1. Juni 2003 in Berlin nahmen den Leitantrag mit 90 Prozent der Stimmen an. Bei der vorhergehenden Diskussion hatte auch der Parteilinke Erhard Eppler zur Annahme des Antrags aufgerufen. Im Parteivorstand gab es vier Gegenstimmen.[4] Ebenso wurde ein Leitantrag zur Agenda 2010 auf dem Sonderparteitag von Bündnis 90/Die Grünen am 14./15. Juni 2003 mit etwa 90-prozentiger Mehrheit angenommen.
Ein innerparteiliches Mitgliederbegehren, das von mehreren linken SPD-Mitgliedern gestartet worden war, scheiterte.
Große Teile des Konzeptes wurden von den Oppositionsparteien unterstützt und von CDU/CSU aktiv mitgestaltet. In ihrer Regierungserklärung vom 30. November 2005 äußerte Schröders Amtsnachfolgerin Angela Merkel: „Ich möchte Bundeskanzler Schröder ganz persönlich dafür danken, dass er mit seiner Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, eine Tür zu Reformen, und dass er die Agenda gegen Widerstände durchgesetzt hat.“[5]
Das Reformkonzept wurde von der Bertelsmann Stiftung maßgeblich geprägt.[6][7] Der „Wirtschaftspolitische Forderungskatalog für die ersten hundert Tage der Regierung“ der Stiftung – unter anderem im Wirtschaftsmagazin Capital publiziert – ist inhaltlich zu weiten Teilen übernommen worden.[8]
Die Agenda 2010 setzt insbesondere arbeitgeberfreundliche angebotspolitische Ideen um: Da der Staat in einer Marktwirtschaft gewerbliche Arbeitsplätze nicht per Anweisung schaffen könne und auch nicht durch öffentliche Investitionen bestehende Arbeitsplätze sichern oder neue schaffen solle, werden indirekte angebotsökonomische Einzelmaßnahmen in der Erwartung ergriffen, dass damit Anreize zu verstärkten privaten Investitionen geschaffen werden, woraus neue Arbeitsplätze entstünden.
Von vielen Politikern werden die Arbeitsmarkt-Reformen der Agenda 2010 als entscheidende Faktoren für Deutschlands „wirtschaftlichen Erfolg“ angeführt.[9]
Nach Ansicht der Ökonomen Christian Dustmann, Bernd Fitzenberger, Uta Schönberg und Alexandra Spitz-Oener würden die Deutschland zugeschriebenen „wirtschaftlichen Erfolge“ im Anschluss an die Agenda-Reform dieser jedoch fälschlicherweise zugeschrieben. In ihrem Aufsatz im Journal of Economic Perspectives argumentieren sie, dass nicht die Hartz-Reformen und auch nicht die Handelsbilanzen in der Euro-Zone die Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs Deutschlands seien.[10]:S. 184.[9] Die Ökonomen sehen seit der Deutschen Wiedervereinigung eine Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, da sich die Deutsche Bundesbank aufgrund Inflationsdrucks und steigender Staatsverschuldung zu einer restriktiven Geldpolitik veranlasst sah, was den Wechselkurs der DM steigen ließ. Auch der Euro-Beitritt erfolgte zu einem überhöhten Wechselkurs. Um das Preisniveau zu korrigieren, sei eine Innere Abwertung insbesondere durch Reallohnverluste erforderlich gewesen.[11][12][13] Diese notwendige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sei aber nicht der Reformpolitik, sondern der Unabhängigkeit der Lohnverhandlungen von der staatlichen Gesetzgebung und dem im internationalen Vergleich einzigartigen Zusammenspiel der deutschen Tarifpartner bei der Entscheidung über Löhne und Tarifverträge mithilfe der Tarifautonomie zuzuschreiben. Die typisch deutschen Arbeitsmarktinstitutionen der Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Betriebsräte seien die Voraussetzung dafür, dass flexibel auf außergewöhnliche ökonomische Situationen reagiert werden könne, wie sie die Deutsche Wiedervereinigung und die Osterweiterung der EU darstellten. Die Tarifpartner könnten so bei der Lohnfindung auf die konjunkturelle Lage je nach Branche, Region oder sogar innerhalb der Unternehmen selbst Rücksicht nehmen, unabhängig von gesetzlichen Regelungen wie etwa Mindestlöhnen oder den Arbeitszeiten, und sich im gegenseitigen Einvernehmen einigen.[10]:S. 168. Nach Beobachtung der Ökonomen begann die außergewöhnliche Lohnzurückhaltung bereits 1995 und damit ein Jahrzehnt vor den Agenda-Reformen.[10]:S. 184.[9] Der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln Michael Hüther stimmt der Analyse zu, fügt aber noch hinzu, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hierzulande ab dem Jahr 1995 auch dadurch gestiegen sei, dass in großem Umfang Auslandsstandorte genutzt worden seien.[9] Jay C. Shambaugh sieht für den betrachteten Zeitraum ebenfalls eine unterdurchschnittliche Preisentwicklung Deutschlands, hält aber die Unterschiede zu der Preisentwicklung einiger anderer Länder der Euro-Zone für nicht so signifikant, um rundheraus von einer Inneren Abwertung zu sprechen.[14]
Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass Deutschland schon vor der Agenda 2010 mit der Lohnzurückhaltung über das Ziel hinausgeschossen sei. Ausweislich des positiven Leistungsbilanzsaldos ab 2001 könne spätestens dann von mangelnder Wettbewerbsfähigkeit keine Rede mehr sein. Seit 2001 sei die unterdurchschnittliche Lohnentwicklung eine einseitige Exportförderung auf Kosten der anderen Euro-Staaten gewesen, die maßgeblich zur Eurokrise beigetragen habe.[15][16][17][18]
Der Agenda 2010 wird nachgesagt, nachhaltige und positive Effekte auf die Beschäftigung gehabt zu haben. So stellen Karl Brenke und Klaus F. Zimmermann fest, dass, „obwohl die Wirtschaftsleistung im gegenwärtigen Aufschwung nicht stärker zulegte als im vorhergehenden“, sich „die Beschäftigung am Arbeitsvolumen gemessen besser“ entwickelte und die „Arbeitslosigkeit deutlicher zurückging“. Besonders auffallend sei, „dass die Langzeitarbeitslosigkeit außergewöhnlich stark gesunken ist – ein im Vergleich zu früheren Konjunkturzyklen neues Phänomen. Und bei Problemgruppen wie jungen und älteren Erwerbspersonen hat die Erwerbslosigkeit ebenfalls überdurchschnittlich abgenommen. Dies lässt sich weder auf konjunkturelle Ursachen zurückführen, noch kommt in Betracht, dass sich durch eine Ausweitung von Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik die statistisch erfasste Unterbeschäftigung reduziert hat.“[19][20][21]
Nach Ansicht der Ökonomen Christian Dustmann, Bernd Fitzenberger, Uta Schönberg, Alexandra Spitz-Oener und Michael Hüther sei das Ausmaß der Agenda-Reformen zu gering, um für den Anstieg der Wettbewerbsfähigkeit verantwortlich zu sein, der zu einem enormen Rückgang der Arbeitslosigkeit geführt und dafür gesorgt habe, dass der deutsche Arbeitsmarkt die tiefe Rezession von 2008 und 2009 gut überstanden habe. Die Reformen der Agenda 2010 hätten aber entscheidend zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit beigetragen, insbesondere durch Schaffung eines Niedriglohnsektors.[9][10]
Eine erste kritische Reaktion auf die Agenda 2010 folgte am 23. Mai 2003: 400 Wissenschaftler unterzeichneten den Aufruf Sozialstaat reformieren statt abbauen – Arbeitslosigkeit bekämpfen statt Arbeitslose bestrafen![22] Ein weiterer Aufruf erkannte in der Agenda 2010 den „Abbau von gesellschaftlicher Fairness und sozialem Ausgleich“ und forderte im Sinne des Keynesianismus „kurze Vollzeit für alle“.[23]
Auch der Ökonom Spiridon Paraskewopoulos warf 2003 die Frage auf, ob mit der „Agenda 2010“ bewusst ein „Wirtschaftssystemwechsel angestrebt“ werde. Dabei sei eine Diskrepanz zwischen der pessimistischen Darstellung der seiner Meinung nach existenten wirtschaftlichen Situation Deutschlands und den tatsächlichen Erfolgen festzustellen. „Neuesten Zahlen zufolge hat Deutschland inzwischen die USA als größte Exportnation abgelöst. Das Letztere spricht vor allem für die starke Wettbewerbsfähigkeit und für den großen Wettbewerbsvorteil der deutschen Wirtschaft im Welthandel. Ausgerechnet dieses bisher erfolgreiche Konzept einer Wirtschaftsordnung soll nach der Beurteilung der sogenannten Experten, der Bundesregierung, der Opposition und der Medien für die Bewältigung der heutigen Probleme nicht mehr geeignet sein. […] Die deutsche Volkswirtschaft kann sich angeblich das bisherige erfolgreichste Wirtschafts- und Sozialsicherungssystem der deutschen Geschichte nicht mehr leisten.“[24]
Das DIW Berlin kommt in einer Studie zum Arbeitslosengeld II, der die Daten des sozio-oekonomischen Panels zugrunde liegen, zum Ergebnis: „Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II bedeutet für mehr als die Hälfte der Betroffenen Einkommenseinbußen. Etwa ein Drittel wurde durch die Reform finanziell besser gestellt. […] Die Armutsquote der Leistungsempfänger – vor der Reform gut die Hälfte – erhöhte sich auf zwei Drittel.“[25]
Ein häufig vorgebrachter Vorwurf ist, dass moderate Arbeitslosenzahlen mithilfe der Herausbildung eines umfangreichen Sektors prekärer Beschäftigung erkauft worden seien. So wurde im Rahmen der Agenda 2010 der Leiharbeitssektor massiv ausgebaut.[26][27] Insbesondere der Wegfall der zeitlichen Beschränkung der Überlassungsdauer führte zu einer problematischen Verselbstständigung der Leiharbeit und zu einem dauerhaft prekären Arbeitsverhältnis. Leiharbeit sei aufgrund der günstigen Personalkosten für Arbeitgeber ein attraktives Modell und fände daher weite Verbreitung.[28]
Die Maßnahmen der Agenda 2010 tragen vielen Kritikern zufolge nur kurzfristig zur Lösung der Rentenproblematik und zur Minderung der steigenden Kosten der Krankenversicherung bei. Mehr Arbeitsplätze seien nötig, um die Zahl der Beitragszahler für die Sozialversicherung zu erhöhen. Für mehr Beschäftigung sollen durch Reduzierung der Lohnnebenkosten die Kosten für Arbeitsplätze gesenkt werden.
Nach Ansicht des Chefökonomen der Financial Times Deutschland, Thomas Fricke, habe die Agenda 2010 den Aufschwung nur auf „relativ bescheidene Art“ verstärkt, auf der anderen Seite aber „Kollateralschäden“ wie Konsumzurückhaltung aus Angst vor Hartz IV möglicherweise verstärkt und verursacht. Dies wiederum beeinträchtige eine Verstetigung des Aufschwungs.[29][30]
Schröders Agenda-Politik war auch innerhalb der SPD sehr umstritten. Zusammen mit seinem dominanten Führungsstil (Basta-Politik) trug sie zu einer Krise der SPD bei: Viele gewerkschaftlich orientierte Anhänger wandten sich von ihr ab, prominente Mitglieder wie Oskar Lafontaine, Ulrich Maurer und Peter von Oertzen traten aus. Als Partei der sozialen Gerechtigkeit verlor die SPD an Glaubwürdigkeit.
Wirtschaftspolitisch bedeutete die Agenda-Politik das offene programmatische Eingeständnis der praktisch seit 1999 von Gerhard Schröder vollzogenen Abkehr von der politischen Regulierung des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus im Sinne des Keynesianismus, wie sie seit dem Godesberger Programm von der deutschen Sozialdemokratie vertreten worden war. Favorisiert wurden stattdessen neoklassische Modelle der Volkswirtschaftstheorie, die sich Wachstum durch ökonomischen Druck auf die Einzelnen versprechen.[31] Diese programmatische Abkehr vom Sozialstaat zugunsten eines repressiven Konditionalstaates wurde in die ideologisch widersprüchliche Formel vom „aktivierenden Sozialstaat“ gefasst. Hartmut Elsenhans erkannte in der Agenda 2010 nur den Gipfelpunkt einer seit 1999 von der rechten Sozialdemokratie betriebenen neoklassischen Wirtschaftspolitik der Schröderschen Konterreformen, eine politische Krise der Sozialdemokratie, deren Ausmaß noch nicht abzuschätzen sei: „Viele verlorene Jahre für die Gestaltung des Kapitalismus zu Gunsten der Massen“.
Die Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative (WASG) spaltete sich 2004 von der SPD ab und wurde von vielen enttäuschten Sozialdemokraten bei den folgenden Landtags- und Bundestagswahlen gewählt. Angesichts der von Gerhard Schröder erzwungenen Vorverlegung der Bundestagswahl in den September 2005 geriet die WASG unter Zeitdruck und fand den Ausweg allein im Beitritt zur PDS. Im weiteren Verlauf erfuhr die PDS zwei Jahre später eine weitere Umbenennung in Die Linke, wobei der juristische Akt des Beitritts der WASG als Zusammenschluss und die Umbenennung der PDS für die mediale Presse-Öffentlichkeit als Neugründung interpretiert worden ist. Auf diese Weise gelang der ehemaligen Staatspartei der DDR doch noch die bis dahin trotz mehrfacher Kampagnen missglückte West-Ausdehnung.[32]
Im Jahr 2023 erklärte Schröder, dass seine Entscheidung für die Agenda 2010 eine war, die er gegen sein eigenes moralisches Verständnis getroffen habe.[33]