Altgläubige (russisch староверы, auch Altritualisten, старообря́дцы, Altorthodoxe, древлеправосла́вные oder abwertend Raskolniki, раско́льники, Abtrünnige bzw. Spalter[1]) ist eine Bezeichnung für verschiedene christliche Richtungen und Gemeinschaften in Russland, die seit 1667 nicht mehr zur Russisch-Orthodoxen Kirche gehörten. Die Altgläubigen wandten sich gegen liturgische Reformen des Patriarchen Nikon und des Zaren Alexei I., die Texte und Riten der russisch-orthodoxen Gottesdienste nach zeitgenössischem griechisch-orthodoxen Vorbild reformierten. Die Altgläubigen unterteilen sich in Popowzen (поповцы, priesterliche Altgläubige) und Bespopowzen (беспоповцы, priesterlose Altgläubige).
Heute gibt es altgläubige Gemeinschaften in Russland, der Ukraine, Rumänien, den USA und anderen Ländern.
1652 initiierte Patriarch Nikon die erste Reform des russischen Ritus. Es wurde behauptet, der russische Ritus sei infolge von Fehlern beim Kopieren der Kirchenbücher vom griechischen Urtext und Ritus abgewichen. Dies war für Nikon und seine Anhänger die Rechtfertigung, Kirchenreformen durchzuführen. In den folgenden Jahren lehnten zahlreiche kleinere Gemeinschaften die Reformen ab und behielten den alten Ritus bei (priesterliche Altgläubige).
Auf einer Synode 1666 und 1667 beschloss die Russisch-Orthodoxe Kirche den Ausschluss dieser Gemeinschaften und jedes anderen, der die Reformen ablehnte und belegte sie mit dem Kirchenbann (Anathema). Es entstanden Gemeinschaften, die sich von den Normen der orthodoxen Kirche erheblich entfernten, indem sie das Priestertum, die Sakramente und andere Lehren ablehnten (priesterlose Altgläubige).
Die Gegner dieser Kirchenreformen wurden verfolgt und Zehntausende wurden hingerichtet. Um der Verfolgung durch die Behörden zu entgehen, zogen sich die Altgläubigen oft in abgelegene Gegenden des Russischen Reiches oder ins Ausland zurück und bildeten dort eigene Gemeinwesen. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts ließen die Verfolgungen nach. Viele diskriminierende Gesetze blieben jedoch bestehen. So hatten die Altgläubigen nach wie vor keine Bürgerrechte. Erst 1905 wurden die Altgläubigen legalisiert.
In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten Wissenschaftler der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften fest, dass der altrussische Ritus nicht von dem altbyzantinischen Ritus abwich, sondern dass sich der griechische Ritus unter Einfluss verschiedener Faktoren im 13. und 14. Jahrhundert allmählich geändert hatte. Dieser Prozess erklärte den Unterschied zwischen dem russischen und griechischen Ritus Mitte des 17. Jahrhunderts. Bei den Gutachtern handelte es sich unter anderem um die Professoren A. Dmitrijewski und E. Golubinski von der Moskauer Geistlichen Akademie sowie N. Kapterew und A. Kartaschow. 1971 hob die Großkirche des Patriarchats Moskau den Bann des altrussischen Ritus auf.
Der bekannteste Vertreter und einer der Begründer des Altgläubigentums war der Protopope Awwakum, dessen Autobiographie ein bedeutendes Zeugnis der russischen Literatur des 17. Jahrhunderts darstellt.
Folgende Änderungen der Liturgie unter Nikon werden von den Altgläubigen als die schwerwiegendsten benannt:
Altrussische Liturgie | Liturgie Nikons | |
Nizänisches Glaubensbekenntnis | рождена, а не сотворена (gezeugt, aber nicht geschaffen); И в Духа Святаго, Господа истиннаго и Животворящаго (Und an den Heiligen Geist, den wahren Herrn, der lebendig macht) | рождена, не сотворена (gezeugt, nicht geschaffen); И в Духа Святаго, Господа Животворящаго (Und an den Heiligen Geist, den Herrn, der lebendig macht) |
Kreuzzeichen | Zwei Finger gerade, drei gekrümmt | Drei Finger gerade, zwei gekrümmt |
Anzahl der Prosphoren (Abendmahlsbrote) in der Eucharistie | Sieben Prosphoren | Fünf Prosphoren |
Richtung der Prozession | Mit dem Sonnenlauf (im Uhrzeigersinn) | Gegen den Sonnenlauf (gegen den Uhrzeigersinn). |
Halleluja | Аллилуїа, аллилуїа, слава Тебе, Боже (Zweimal Halleluja) | Аллилуїа, аллилуїа, аллилуїа, слава Тебе, Боже (Dreimal Halleluja) |
Schreibweise des Namens Christi | Ісусъ (Isus) | Іисусъ (Iisus) |
Dazu kommen unterschiedliche Schreibweisen in Literatur (z. B. die Formulierung der Doxologie) und Kirchengesang.
Besonders in der Vergangenheit wurde die Position der Altgläubigen nicht selten als ein starrer, fanatischer Glaube an Rituale dargestellt, der ein bedeutungsloses Leiden Zehntausender zur Folge hatte. Es wurde behauptet, die Reformen beträfen nur äußerliche, rituelle Aspekte und die Altgläubigen seien nicht in der Lage, Nebensächlichkeiten von Hauptsachen zu unterscheiden. Von den Altgläubigen wurde dagegen eingewendet, dass die Glaubensinhalte nicht von der Form zu trennen seien. Viele Gläubige waren damals der Meinung, dass mit dem „Verfluchen“ des alten Ritus und der alten Texte Glaubenswahrheiten angetastet wurden, die seit den ersten Jahrhunderten in bestimmte Rituale gekleidet waren und somit der Glaube in seinem Wesen angetastet wurde. Zur Erhaltung eines Mikroklimas, in dem der Mensch seine Seele retten kann, sei nicht nur das Befolgen der Gebote Christi erforderlich, sondern auch eine sorgfältige Bewahrung der kirchlichen Überlieferung, die geistige Kräfte und spirituelle Erfahrung vieler Jahrhunderte in sich trägt, deren Formen zwar äußerlich, aber nicht willkürlich oder akzidentell seien.[2]
Die Priesterlichen Altgläubigen (Поповцы, Popowzy) stellten die konservative und gemäßigte Opposition dar, sie strebten nach einer Fortsetzung des kirchlichen Lebens, wie es bis zu den Reformen existiert hatte. Sie akzeptierten Priester aus der Amtskirche, die sich ihnen anschließen wollten, und waren so in der Lage, Priester anzuwerben und damit die Sakramente zu behalten. Die Kirchen der priesterlichen Altgläubigen weichen in theologischer Hinsicht nicht vom orthodoxen Glauben ab.
Die Theologie der Priesterlosen/Popenlosen (Беспоповцы, Bespopowzy) ist von einer antiklerikalen und apokalyptischen Stimmung gekennzeichnet. Die Priesterlosen behaupten, der Antichrist sei schon in die Welt gekommen, zwar nicht leiblich, aber „im Geiste“, und die wahrhafte Kirche existiere nicht mehr auf Erden. Sie glauben deshalb, es gebe auch kein gültiges Priestertum mehr, und feiern daher keine Eucharistie mehr. Sie lehnen die orthodoxe Amtskirche und den mit ihr verbundenen Staat ab, weil auch diese als Instrumente des Antichristen betrachtet werden.[5]
Innerhalb der priesterlosen Altgläubigen gab es viele Richtungen:
Die priesterlichen Altgläubigen umfassen zwei getrennte Hierarchien: die Altgläubigen der Hierarchie von Belaja Kriniza und die Hierarchie von Nowosybkow. Folgende Eparchien gibt es in diesen beiden Kirchen:
Heutzutage sind die Pomoren als Altorthodoxe Pomorische Kirche (russisch Древлеправославная Поморская Церковь) organisiert. Im Jahr 2004 hatte die Kirche 42 Gemeinden. Sie akzeptieren die Heirat.[9]
Siehe Jedinowerzy.
Von Interesse zur Kenntnis der Altgläubigen sind die Erzählungen von Nikolai Leskow. Reiches, obwohl nicht immer objektives, Material zu den Altgläubigen findet sich in den Romanen In den Wäldern (russisch В лесах; 1871–1875) und In den Bergen (russisch На горах; 1875–1881) von Pawel Iwanowitsch Melnikow (1818–1883).[10] Melnikow, der als Beamter einen Teil seines Lebens die Altgläubigen verfolgt hatte, stellte in diesen Romanen ihre Glaubensgemeinschaft die Verkörperung der Religiosität des russischen Volkes und die Rettung vor nihilistischer Glaubenslosigkeit dar.
Maxim Gorki greift das Thema in seiner Erzählung Drei Menschen auf.
Das Buch Die Vergessenen der Taiga von Wassili Peskow beschreibt die Geschichte der altgläubigen Familie Lykow im einsamen Sajangebirge, wo die Familie in der Sowjetepoche von 1940 bis 1978 völlig isoliert von der Außenwelt lebte. Noch 2021 lebt Agafja Lykowa einsam in ihrer Holzhütte am Abakan.[11]
Die Thematik rund um die Altgläubigen ist auch ein wichtiges Element in der Oper Chowanschtschina von Modest Mussorgski.