Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski (russisch Анатолий Васильевич Луначарский, wiss. Transliteration Anatolij Vasil'evič Lunačarskij; * 11.jul. / 23. November 1875greg. in Poltawa, Russisches Kaiserreich, heute Ukraine; † 26. Dezember 1933 in Menton, Frankreich) war ab seiner Berufung durch Lenin 1917 bis zu seiner Entlassung durch Josef Stalin 1929 Volkskommissar für Bildung der RSFSR. Er gilt als einer der bedeutendsten marxistischen Kulturpolitiker.
Lunatscharski, Sohn eines höheren Beamten in Poltawa, besuchte das Gymnasium in Kiew und kam dort erstmals mit revolutionärem Gedankengut in Kontakt. Wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ verweigerte man ihm infolgedessen die Aufnahme in die Moskauer Universität. Deshalb emigrierte er nach der Absolvierung des Gymnasiums in die Schweiz, wo er 1895 an der Universität Zürich Philosophie und Naturwissenschaften studierte.[1] In dieser Zeit wurde Lunatscharski mit dem philosophischen System des Machisten Richard Avenarius, Professor an der Universität Zürich, vertraut. Der Einfluss dieses bürgerlichen Philosophen und die Freundschaft zu dem machistischen Sozialdemokraten Alexander Bogdanow wirkten sich auf die Anschauungen von Lunatscharski lange Zeit aus.
Nach zwei Jahren Emigration kehrte Lunatscharski nach Russland zurück. Er nahm als Propagandist, Agitator und Organisator die illegale revolutionäre Arbeit wieder auf. Sein weiteres Wirken wurde durch Verhaftung, Einkerkerung und Verbannung oft unterbrochen.
Seit 1904, erneut in der Emigration, arbeitete er in Genf in der Redaktion der Zeitschriften Vorwärts (Вперед) und Proletarier (Пролетарий). 1905 kehrte er nach Sankt Petersburg zurück, wurde erneut verhaftet und floh nach Stockholm. 1908 erregte er Aufmerksamkeit mit seiner Schrift Religion und Sozialismus, die auf eine philosophische Synthese abzielte (Gottbauerntum). 1910/11 organisierte er in Italien eine Schule nach dem Montessori-Prinzip, später arbeitete er in Paris wieder als Journalist.
Lunatscharski war seit 1897 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Er war gegenüber den Künsten, der Literatur, dem Theater und der Musik sehr aufgeschlossen. Durch seine Aufenthalte in der Emigration von 1906 bis 1917, wo er während des Ersten Weltkriegs zum engeren Kreis Lenins gehört hatte, besaß er profunde Kenntnisse der westeuropäischen Kunstszene und vertrat in Kunstfragen eine eher liberale Haltung. Lenin dagegen war in Kunstfragen ausgesprochen konservativ. Lunatscharski war von November 1917 bis Juli 1929 Volkskommissar für das Bildungswesen. Er wurde seines Amtes enthoben, nachdem er im April 1929 gegen den Abriss der Kremlklöster protestiert hatte.[2] Lunatscharski sorgte dafür, dass auch mit der „Neuen Ökonomischen Politik“, die in Russland ab 1921 galt, der Avantgarde noch gewisse Freiräume offenstanden. Er war ein ausgesprochen geschickter Taktierer, der in Kauf nahm, dass sich seine Äußerungen widersprachen. Lunatscharski verstand sich letztlich als politischer Revolutionär, bei dem die Bedürfnisse der Massen von Arbeitern und Bauern Vorrang hatten. Den Niedergang der avantgardistischen Kunst, der in der Doktrin des Sozialistischen Realismus endete, konnte er nicht verhindern.
Ab 1922 war er mit der Schauspielerin Natalja Alexandrowna Rosenel verheiratet.
1930 wurde er zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gewählt.[3] Von 1931 bis 1933 war er Direktor des Instituts für russische Literatur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR.
Im September 1933 wurde Lunatscharski zum Bevollmächtigten Vertreter der UdSSR in Spanien ernannt. Auf dem Weg von Genf nach Spanien, er weilte als Stellvertretender Leiter der Sowjetdelegation auf der Abrüstungskonferenz des Völkerbundes, starb er an Herzversagen.
Die Veränderung in der Kunstpolitik Russlands lässt sich an drei von Lunatscharskis Veröffentlichungen gut nachvollziehen. Sie sind im Folgenden zitiert:
Lunatscharskis philosophische Position wurde vor allem von Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Lenin und Avenarius beeinflusst.
In seiner Schulzeit wurde Lunatscharski mit den Ideen von Marx vertraut, von denen er bis zu seinem Tod überzeugt war. Lunatscharski war ein überzeugter Marxist und er beteiligte sich schon während seiner Gymnasialzeit bei Schülerzirkeln, die unter marxistischem Einfluss standen.
Während seines Studiums in der Schweiz stand Lunatscharski unter starkem Einfluss von Richard Avenarius, Professor an der Universität Zürich. Avenarius versuchte mit einem kritischen Empirismus, eine von dogmatischer Metaphysik unabhängige Wirklichkeitslehre zu geben (Positivismus).
Da Lunatscharski eine Empfänglichkeit für alles Formstarke und künstlerisch Emotionale besaß, war er fasziniert von Nietzsche, wie auch viele andere Philosophen seiner Zeit. Erst spät hat sich die marxistische Kritik mit den Lehren von Nietzsche befasst, so auch Lunatscharski.
Beim ersten Zusammentreffen mit Lenin bat dieser ihn, sich an der Arbeit für die Zeitung Wperjod zu beteiligen, weil er in ihm ein wertvolles Parteimitglied sah und ihn von Avenarius’ „Irrlehren“ befreien wollte. Lenin sah in der Philosophie von Avenarius einen subjektivistischen Idealismus und bekämpfte dessen starke Wirkung auf die russische Philosophie. Die heftige Kritik Lenins in seinem Werk Materialismus und Empiriokritizismus galt den russischen Machisten, vor allem aber auch Lunatscharski. Lenin und Lunatscharski standen auch später noch oft in heftiger Kritik zueinander. Jedoch konnte dies ihre Zusammenarbeit nie ernsthaft gefährden.
Lunatscharskis Theorie der Ästhetik ist von Richard Avenarius, Herbert Spencer beeinflusst, aber auch von Arthur Schopenhauer und Charles Darwin. Entwickelt hat er sie in Grundlagen einer positiven Ästhetik (1904).
Die Frage „Was ist Leben?“ ist der Ausgangspunkt seiner ästhetischen Überlegungen. Biomechanische und psychologische Überlegungen stellen für Lunatscharski das für die „positive Ästhetik“ notwendige Fundament dar, da die Ästhetik die Wissenschaft von der Wertung, zum Teil auch von der schöpferischen Tätigkeit ist, welche der Wertung entspringt.
Die Kunst, aber auch die Wissenschaft, Religion und Philosophie, entwickeln sich demnach innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Diese Entwicklung ist auch folglich mit der Struktur der Gesellschaft und deren wirtschaftlichen Basis verbunden. Die Kunst soll lediglich Freude und Freiheit schenken. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn die „ursprünglichen Bedürfnisse“ zumindest zeitweilig befriedigt sind.
Lunatscharski war auch als Schriftsteller tätig, er schrieb unter anderem die Theaterstücke Faust und die Stadt (russisch Фауст и город) und Der befreite Don Quijote (russisch Освобожденный Дон-Кихот), das am 27. November 1925 im Theater Volksbühne am Bülowplatz Berlin uraufgeführt wurde (Regie: Fritz Holl, mit Friedrich Kayssler in der Hauptrolle) und 1945 auch am Wiener Volkstheater aufgeführt wurde (Regie: Günther Haenel, mit Max Paulsen in der Titelrolle). Der sowjetische Puppenanimationsfilm Oswoboschdenny Don Kichot von Wadim Kurtschewski (1987) basiert auf diesem Werk.
Seine Urne wurde an der Nekropole an der Kremlmauer in Moskau beigesetzt.[4]
Das Moskauer Staatliche Institut für Theaterkunst trug von 1934 bis 1991 zu Ehren Lunatscharskis dessen Namen, ebenso das Weißrussische Staatliche Konservatorium in Minsk von 1934 bis 1992.
Der 1971 entdeckte Asteroid des inneren Hauptgürtels (2446) Lunacharsky wurde nach ihm benannt.[5]
Personendaten | |
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NAME | Lunatscharski, Anatoli Wassiljewitsch |
ALTERNATIVNAMEN | Lunacharsky, Anatoly Vasilyevich; Луначарский, Анатолий Васильевич |
KURZBESCHREIBUNG | russischer Volkskommissar für das Bildungswesen (NARKOMPROS) |
GEBURTSDATUM | 23. November 1875 |
GEBURTSORT | Poltawa |
STERBEDATUM | 26. Dezember 1933 |
STERBEORT | Menton, Frankreich |