Als Ars moriendi (lateinisch für „die Kunst des Sterbens“, „Sterbekunst“) wird eine im Spätmittelalter entstandene Gattung der Erbauungsliteratur bezeichnet, die die christliche Vorbereitung auf einen guten, das Leben gut abschließenden bzw. heilsamen Tod lehrt. Dabei kann Ars moriendi sowohl die unmittelbare Situation des Sterbens (den „guten Tod“) als auch die Einübung des Sterbens zur rechten Zeit und die „Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens“ bedeuten. Der „Gegenbegriff“ ist Ars vivendi. Auch in der asiatischen Kultur wird die Vorbereitung auf den Tod gelehrt, so vor allem im Tibetanischen Totenbuch.
Im Mittelalter fürchtete man, auch vor dem Hintergrund vieler Seuchen wie dem Schwarzen Tod, vor allem den unerwarteten Tod. Einige Heilige, wie etwa der hl. Christophorus oder der hl. Josef, wurden gegen einen unvorbereiteten Tod oder um ein gutes Sterben angerufen. Der tägliche Anblick des hl. Christophorus sollte vor einem unvorbereiteten Tod bewahren; die übergroße Darstellung des hl. Christophorus an vielen Kirchen diente diesem Zweck. Man fürchtete insbesondere, ohne die rechte Vorbereitung der Seele und ohne christliche Begleitung sterben zu müssen, etwa, indem man von Räubern erschlagen wurde.
Mit der Einübung einer Ars moriendi wollte man erreichen, dass die Menschen sich um das Heil ihrer Seele(salus animae) bemühten, solange noch Zeit dazu war. In einer solchen Erbauungsschrift finden sich für gewöhnlich Ausführungen über die Versuchungen und Wurzelsünden, die dem Heil der Seele gefährlich oder abträglich sein konnten: Versuchungen des Glaubens, der Verzweiflung nachgeben, dem Hochmut oder Stolz (superbia) verfallen, wie auch die Versuchung durch irdische Güter, gefolgt von Erläuterungen, wie diesen Versuchungen begegnet werden könne. Vor allem in den „Letzten Worten“ soll die Einsicht des Sterbenden in den Sinn seines Lebens zum Ausdruck kommen, wobei die Interpretation dieser Worte oft umstritten ist: Goethe soll in der Stunde seines Todes gesagt haben: „Mehr Licht“, einige wollen aber verstanden haben: „Mehr nicht!“[1]
Jean Gerson schrieb um 1408 den Prototyp der Textgattung der Ars moriendi, das Opus(culum) tripartitum. Der elsässische Prediger Johann Geiler von Kaysersberg übersetzte dieses Werk um 1481 unter dem Titel Wie man sich halten sol by eym sterbenden Menschen und verfasste 1497 eine selbständige Schrift: Ein ABC, wie man sich schicken sol, zu einem kostlichen seligen tod.
Die Ars moriendi des Meisters E. S. von 1415 bzw. in einer zweiten Fassung von 1450 enthält zahlreiche illustrierende Holzschnitte, die wiederum auf Illuminationen früherer Autoren beruhten.
Domenico Kardinal Capranica verfasste 1452 ein weiteres Erbauungsbuch über einen guten Tod, den Speculum artis bene moriendi („Spiegel der Kunst des guten Sterbens“, auch Ars bene moriendi, „Die Kunst des guten Sterbens“), das 1473 in deutscher Übertragung vorlag. Daneben wurden auch viele Artes moriendi ohne Angabe des Verfassers gedruckt. In der bildlichen Kunst des Mittelalters entspricht deren Grundhaltung auch der des sogenannten Totentanzes, dessen Darstellung vom Spätmittelalter bis ins 16. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte.[2][3]
Die ars moriendi war bis ins Zeitalter der Aufklärung Bestandteil der europäischen Philosophie. So schrieb Michel de Montaigne „Philosophieren heißt sterben lernen“.[4]
In jüngerer Zeit geht man offener mit dem Thema des Sterbens um als früher. Es häufen sich Berichte über Nahtoderfahrungen, auch Tagebücher von Menschen, die beschreiben, wie sie sich – z. B. angesichts schwerer Krankheiten – auf den Tod vorbereiten. Darunter ist der Bericht von Peter Noll hervorzuheben[5], kommentiert von seinem Freund Max Frisch.
Ars vivendi – Ars moriendi. Die Kunst zu leben – Die Kunst zu sterben. Die Handschriftensammlung Renate König. 34 der schönsten Andachtsbücher des Mittelalters aus der wohl bedeutendsten Sammlung in deutschem Privatbesitz. Hrsg. und bearbeitet von Joachim M. Plotzek u. a. Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Köln. Hirmer, München 2001, ISBN 3-7774-9180-2.
Klaus Bergdolt: Die Meditatio Mortis als Medizin. Betrachtungen zur Ethik der Todesangst im Spätmittelalter und heute. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. Band 9, 1991, S. 249–258, insbesondere S. 252 ff.
Roger Chartier: Les arts de mourir, 1450–1600. In: Annales E.S.C. Band 31, 1976, S. 51–75 (zum Genre der Ars moriendi).
Franz Falk: Die deutschen Sterbebüchlein von der ältesten Zeit des Buchdrucks bis zum Jahre 1520. Bachem, Köln 1890; Nachdruck: Rodopi, Amsterdam 1969 (gibt einen guten Überblick und weitere Titel).
Franz Josef Illhardt: Ars moriendi – Hilfe beim Sterben. Ein historisches Modell, in: Erich Matouschek (Hrsg.): Arzt und Tod: Verantwortung, Freiheiten und Zwänge, Stuttgart: Schattauer 1989, S. 89–103.
Anne Klärner: Die Lebens-Kultur der ars moriendi. Literatur als Weg in der Lebens- und Sterbebegleitung. hospizverlag, Wuppertal 2006, ISBN 3-9810020-7-5.
Jacques Laager (Hrsg./Übers.): Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von Cicero bis Luther, mit 11 Kupferstichen von Meister E.S. Manesse, Zürich 1996, ISBN 3-7175-1884-4, ISBN 3-7175-1885-2.
Peter Neher: Ars moriendi – Eine historisch-pastoraltheologische Analyse. Eos Verlag, St. Ottilien 1989, ISBN 3-88096-834-9.
Fidel Rädle: Johannes Gerson, De arte moriendi, lateinisch ediert, kommentiert und deutsch übersetzt. In: Nine Miedema, Rudolf Suntrup (Hrsg.): Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 721–738.
Claudia Resch: Trost im Angesicht des Todes. Frühe reformatorische Anleitungen zur Seelsorge an Kranken und Sterbenden, A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2006, ISBN 978-3-7720-8191-0.
Rainer Rudolf, Rudolf Mohr, Gerd Heinz-Mohr: Ars moriendi I. Mittelalter II. 16. bis 18. Jahrhundert III. Praktisch-theologisch. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 4, 1979, S. 143–156.
Thomas Schwaiger: Christliches Totenbuch. Meditationen über Ende und Anfang. Kösel, München 2005, ISBN 3-466-36699-2.
Magnus Schmid: Die Kunst des Sterbens als Lebenskunst. Von der Ars moriendi des Mittelalters zu wahrer und falscher Sterbehilfe heute. In: Ärztliche Praxis. Band 28, 1976, S. 497–503.
Michael Stolberg: Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-940529-79-4, insbesondere S. 44 f., 96 f. und 104–116.
webhistoriker.de Todesvorstellungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hier auch Erläuterungen zu Totentanz und ars moriendi
Donald F. Duclow: Ars Moriendi. In: R. Kastenbaum (Hrsg.): [Macmillan], Encyclopedia of Death and Dying. The Gale Group Inc. 2003, Online-Ausgabe Advameg, Illinois 2012.
Peter Godzik (Hrsg.): Sterbenden Freund sein. Texte aus der seelsorgerlichen und liturgischen Tradition der Kirche (Texte aus der VELKD 55/1993). Lutherisches Kirchenamt, Hannover 1993. (online auf pkgodzik.de) (PDF; 695 kB)
↑Hans Georg Wehrens: Der Totentanz im alemannischen Sprachraum. "Muos ich doch dran – und weis nit wan. Schnell & Steiner, Regensburg 2012, S. 14 und 49 ff. ISBN 978-3-7954-2563-0.
↑Heinrich Schipperges: Die Technik der Medizin und die Ethik des Arztes. Es geht um den Patienten. Frankfurt am Main 1988, S. 74.
↑Michel Eyquem de Montaigne, Hans Stilett, Michel Eyquem de Montaigne: Essais (= Die andere Bibliothek Sonderband). 8., korrigierte Auflage. Eichborn, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-8218-4472-5, Erstes Buch, Essay Nr. 20, S.45–52.
↑Peter Noll: Diktate über Sterben & Tod. mit einer Totenrede von Max Frisch. Pendo, Zürich 1985, ISBN 978-3-85842-080-0.