Die Asena-Legende ist ein auf chinesische Quellen gestützter Ursprungsmythos der Türken. Asena ist eine türkeitürkische Nebenform zu Aschina, dem Stammvater des herrschenden Clans der Kök-Türken, die in chinesischen Quellen als Tujue (突厥) bezeichnet werden. Aschina ist in den chinesischen Quellen auch der Familienname der türkischen Chagane.
In Zentralasien sind verschiedene Versionen dieser Erzählung verbreitet. Die ältesten schriftlichen Erwähnungen finden sich in der chinesischen Literatur, vor allem in den Annalen verschiedener chinesischer Herrscherhäuser. Die älteste Erwähnung findet sich in den Aufzeichnungen der Nördlichen Zhou-Dynastie (Mitte des sechsten Jahrhunderts). Bis auf eine Ausnahme spielt in allen chinesischen Erzählungen zur Abstammung der Türken eine Wölfin eine besondere Rolle.[1] Ein ähnlicher Abstammungsmythos, in dem eine Wölfin eine besondere Rolle spielt, wurde bereits früher im Shiji des ersten großen chinesischen Historikers Sima Qian († 85 v. Chr.) mit den Wusun (Wu-sun) und später in der Geheimen Geschichte der Mongolen (Mitte des 13. Jahrhunderts) mit den Mongolen verbunden.[2]
Die Legende erzählt von einem kleinen Jungen, dem einzigen Überlebenden seines Stammes. Der Stamm fällt einem Massaker zum Opfer, doch der Junge wird von einer Wölfin gefunden und aufgezogen. Die Wölfin flieht mit dem Jungen in eine Höhle in den Bergen nordwestlich von Gaochang (Kao-Ch'ang). In der Höhle befindet sich eine große Ebene mit reicher Vegetation.[1] In manchen Versionen ist der Junge noch ein Säugling, der von der Wölfin gesäugt wird. In anderen Versionen ist er bereits zehn Jahre alt und wird mit Fleisch ernährt. Der Junge wächst heran und vereinigt sich mit der Wölfin. In manchen Versionen lebt der Junge lange genug, um Rache zu nehmen. Aus der Vereinigung mit der Wölfin gehen zehn Jungen hervor.
Der Wolf (türkisch kurt, alttürkisch böri) ist ein pantürkisches Symbol. Er wurde als heiliges Totemtier und Ahne verehrt. Früher hieß er kök böri („blauer, himmlischer Wolf“), wobei es in manchen Stämmen als tabu galt, seinen Namen Böri in Bezug auf das Tier auszusprechen. Wissenschaftler brachten die Zahl „zehn“ in der Legende mit den zehn Stämmen (On Oq = „zehn Pfeile“) in Verbindung, aus denen der Westteil des ersten Reiches der Göktürken bestand.[3] Das Gebirge nordwestlich von Kao-ch'ang wurde als das Altai-Gebirge wiedererkannt.[1]
Die Herrscher des ersten und zweiten Reiches der Göktürken entstammten dem Hause Aschina, dem Adelsgeschlecht, das der Überlieferung nach mit dem Abstammungsmythos insofern eng verbunden war, als je nach Variante des Mythos einer oder alle Abkömmlinge der Wölfin in der ersten Generation oder einer Folgegeneration den Namen Aschina annahm, der dann als Familienname geführt wurde.[4] Aus dem Namen Aschina wurde später der Name der Wölfin Asena abgeleitet.
Die älteste Version dieser Variante befindet sich in den Aufzeichnungen der kurzlebigen Nördlichen Zhou-Dynastie (556–581) in dem um 629 fertiggestellten Zhou shu. Eine etwas andere Version derselben Legende ist im um das Jahr 659 fertiggestellten Pei shih zu finden. Die Aufzeichnungen der Sui-Dynastie, das zwischen 629 und 636 geschriebene Sui Shu, sind nahezu Wort für Wort identisch mit der Erzählung im Pei shih. Diese Variante ist vermutlich die unter der Mehrheit der damaligen Türken am meisten verbreitete Variante gewesen.[5] Die Stele von Bugut, eines der ältesten schriftlichen Zeugnisse der Türken, ist mit einer Wölfin geschmückt, die ein Kind säugt; die Flagge des göktürkischen Reichs zeigte einen goldenen Wolfskopf; die Leibgarde der Herrscher der Türken wurde laut chinesischen Quellen fu-li (türk. böri, also „Wölfe“) genannt.[6] Das Zhou shu gibt des Weiteren an, dass die Osttürken alljährlich die Stattlichen an die „Höhle des Ahnen“ führten, um eine Opfergabe zu zelebrieren. Das Sui shu bestätigt das und gibt an, dass auch die Westtürken hohe Würdenträger zur alljährlichen Zeremonie entsandten. (Die Höhle, in der dieses Ritual stattfand, befand sich auf osttürkischem Territorium.) In der Wissenschaft wird angezweifelt, dass es sich dabei um die gleiche Höhle wie in der Legende handelte. Schon die chinesischen Texte verwendeten zwei verschiedene Bezeichnungen für die Höhlen (hsüeh für die Höhle in der Legende, k'u für die Höhle, in der die alljährliche Zeremonie stattfand).[7]
Diesen Quellen ist die Überzeugung gemein, dass es sich bei den Türken (chin.: t'u-chüeh) um einen von den Xiongnu losgelösten Zweig handelt.[5] Im Zhou shu ist folgendes zu lesen:
Die Erzählung im Pei shih ist dieser Erzählung ähnlich. Unterschiede oder Ergänzungen gibt es in folgenden Punkten:
Diese Variante scheint die tatsächlich gegebene Abhängigkeit der Türken von den Juan-Juan bis zu ihrer Revolte im Jahr 552 widerzuspiegeln.[10]
Diese Variante befindet sich ebenso im Zhou shu, den Aufzeichnungen der Zhou-Dynastie. Auch in dieser Version stammen die Türken von einem Wolf ab. Es gibt einige wenige Überschneidungen mit der am meisten verbreiteten Version.
Die wichtigsten Angaben in dieser Version sind:
Auch hier bleibt der historische Kern minimal. Das So-Reich, der Berg Chien-hsi-ch’u-chih-shih sowie A-pang-pu, der nur im Zhou shu erwähnt wird, sind nicht zu identifizieren. A-hsien-shih wird in dieser Variante im Zhou shu und in der ersten Variante im Pei shih erwähnt. Na-tu-liu-shih ist dagegen etwas besser bekannt. Die Aufzeichnungen der Tang-Dynastie (618–930) – das T'ang-shu[12] – erwähnen ihn als Urgroßvater T'u-mens (also Bumins), des Gründers des göktürkischen Reichs.[13]
A-fu ist der Fluss Abakan, Chien ist der obere Jenissei, der Ch'u-chih entspricht vermutlich dem mittleren Teil des Jenissei. Die Ch’i-ku sind die Kirgisen, so dass in dieser Variante die Türken und die Kirgisen als Brüder oder Halbbrüder dargestellt werden und beide vom selben Vater Ni-shih-tu hervorgegangen sind.[14]
Eine dritte Abstammungslegende der Türken ist diesmal nicht in offiziellen Papieren chinesischer Dynastien, sondern in der chinesischen Anekdotensammlung Yu-yang tsa-tu, die wahrscheinlich 860 geschrieben wurde, überliefert.[15]
In dieser Version ist der Urahn der Türken kein Wolf, sondern ein Seegeist namens She-mo-she-li, der westlich der A-shih-te-Höhle lebt und sich mit einer weißen Hirschkuh vereinigt. Da in dieser Version der Wolf keine Rolle spielt, ist sie hier nur von marginalem Interesse.
Die in dieser Version enthaltenen Namen She-mo-she-li sowie der Name eines Stammes A-erh sind aus keiner anderen Quelle bekannt. She-li ist aber vermutlich der Name einer 649 für die Türken errichteten Präfektur, so dass bei Punktsetzung nach She-mo She-mo-she-li „der Seegeist von She-li“ bedeuten könnte. Der Name A-shih-te ist dagegen historisch belegt. Der mächtige Minister des zweiten Göktürkenreiches Tonyuquq gehörte nicht dem A-shih-na-Geschlecht, sondern dem A-shih-te-Geschlecht an.[15]
Jean-Paul Roux schreibt in seinem Beitrag zur alttürkischen Mythologie des Wolfes: