Aurora consurgens (lateinisch: 'aufsteigende Morgenröte') ist der Titel eines alchimistischenTraktates aus dem 15. Jahrhundert (um 1420), das stilistisch und inhaltlich völlig einzigartig sei.[3] Häufig wird Aurora Consurgens dem Thomas von Aquin zugeschrieben, was umstritten ist. Gegen dessen Autorschaft spreche nicht zuletzt der unähnliche Stil (bis auf eine Ausnahme: Stil und Inhalt der vierten Parabel, entsprechen der Expositio in Symbolum Apostolorum – einem mündlichen Vortrag Thomas von Aquins).[4]
Für die Autorschaft des Thomas von Aquin sprechen nach von Franz folgende Indizien: Der Autor der Aurora zeige große Vertrautheit mit der Heiligen Schrift und der Liturgie, zitiere nur verhältnismäßig wenige der klassischen alchemistischer Traktate und keine chemischen Rezepte oder technischen Vorschriften. Dies spreche für einen Kleriker; das Lob der "pauperes" (Armen) für einen Dominikaner oder Franziskaner.[5] Der Text vermittele den Eindruck leidenschaftlicher Ergriffenheit und könne – als Resultat eines Einbruches des Unbewussten verfasst, psychologischer Erfahrung nach – eine sonst sehr intellektuelle und von Logik dominierte Bewusstseinshaltung kompensiert haben.[6] Thomas von Aquins Biographie passt auf dieses Muster: sie lasse auf eine spannungsreiche, sehr introvertierte Persönlichkeit mit tiefen inneren Erlebnissen schließen, mit hochdifferenzierten Denken bei Verdrängung des natürlichen Gefühlsanspruches (diese Einschätzung basiert auf der psychologischen Typenlehre C.G. Jungs).[7] Vor seinem Tod hatte Thomas von Aquin eine ihn verstörende große Vision, deren Inhalt nicht beglaubigt sei, doch soll er auf seinem Sterbebett das Hohelied interpretiert haben. Möglicherweise sei der Traktat also eine (von anderen eventuell weiter ausgearbeitete) Wiedergabe seines letzten Seminars oder seiner letzten Worte.[8]
Bekannt ist der Traktat vor allem für seine 38 Wasserfarbenbilder.
Das hier dargestellte Bild mit den Vögeln auf der Kirche zeigt nach Abt enge Verwandtschaft zu einer älteren Abbildung des arabischen alchemistischen Buches über das Silberwasser und die Sternenerde von Ibn Umail. Diese Darstellung aus der Aurora Consurgens könne als die älteste europäische und an den christlichen Kontext assimilierte Darstellung einer bedeutenden Vision Ibn Umail’s betrachtet werden. Später wurde das Motiv des Weisen, der mit einer Tafel oder einem Buch in den Händen in einer Kirche mit Vögeln sitzt, auch im Theatrum Chemicum (Strassburg 1660) und J. J. Mangetus’ Bibliotheca Chemica (Genf 1702) rezipiert und wiederum verändert dargestellt.[9]
Marie-Louise von Franz: Aurora consurgens. Ein dem Thomas von Aquin zugeschriebenes Dokument der alchemistischen Gegensatzproblematik. In: Carl G. Jung: Mysterium coniunctionis. Untersuchung über die Trennung und Zusammensetzung der seelischen Gegensätze in der Alchemie. Band 3 (Ergänzungsband) (Psychologische Abhandlungen 12, ZDB-ID 504202-1), Rascher, Zürich u. a. 1957. Herausgegeben als Band 14/3 von Jungs Gesammelten Werken- (Übersetzung, historischer und psychologischer Kommentar der Aurora consurgens)[11]
G. Meyrink: Thomas von Aquino Abhandlung über den Stein der Weisen. München/Wien 1925.
Leiden, Universitätsbibliothek, Ms. Vossianus Chemicus F. 29 auf digital sources (kein direkter Link zum Ms. bei "simple search" "aurora consurgens" eingeben)
↑Im Manuskript Silberwasser und Sternenerde; Abbildung ist dargestellt und kommentiert in: Theodor Abt: Book of the Explanation of the Symbols. Kitāb Ḥall ar-Rumūz. Psychological Commentary by Theodor Abt. Corpus Alchemicum Arabicum (CALA) 1B, Living Human Heritage Publications, Zürich 2009. S. 15–18, 59–64.
↑E. v. Lippmann, Geschichte der Alchemie Band II. Springer, Berlin 1931, S. 28. Zitiert bei Marie-Louise von Franz: Aurora Consurgens. Ein dem Thomas von Aquin zugeschriebenes Dokument der alchemistischen Gegensatzproblematik (1957). In: C.G. Jung: Gesammelte Werke 14.3, Walter, Düsseldorf 1995, ISBN 3-530-40091-2, S. 209, Fußnote 3 (Kapitel: Ist Thomas von Aquin der Verfasser?).
↑Zitiert bei Marie-Louise von Franz: Aurora Consurgens. Ein dem Thomas von Aquin zugeschriebenes Dokument der alchemistischen Gegensatzproblematik (1957). In: C.G. Jung: Gesammelte Werke 14.3. Walter, Düsseldorf 1995, ISBN 3-530-40091-2, S. 433 mit Fußnote 133 zur Echtheit der Schrift. (Kapitel: Ist Thomas von Aquin der Verfasser?).
↑Marie-Louise von Franz: Aurora Consurgens. Ein dem Thomas von Aquin zugeschriebenes Dokument der alchemistischen Gegensatzproblematik (1957). In: C. G. Jung: Gesammelte Werke 14.3. Walter, Düsseldorf 1995, ISBN 3-530-40091-2, S. 407–408.
↑Marie-Louise von Franz: Aurora Consurgens. Ein dem Thomas von Aquin zugeschriebenes Dokument der alchemistischen Gegensatzproblematik (1957). Walter, Düsseldorf 1995, S. 409.
↑Marie-Louise von Franz: Aurora Consurgens. Ein dem Thomas von Aquin zugeschriebenes Dokument der alchemistischen Gegensatzproblematik (1957). Walter, Düsseldorf 1995, S. 424f.
↑Marie-Louise von Franz: Aurora Consurgens. Ein dem Thomas von Aquin zugeschriebenes Dokument der alchemistischen Gegensatzproblematik (1957). Walter, Düsseldorf 1995, S. 432–434.
↑Theodor Abt: Book of The Explanation of the Symbols. Kitab Hall ar-Rumuz by Muhammad ibn Umail. Psychological Commentary by Theodor Abt. Corpus Alchemicum Arabicum Band IB. Living Human Heritage, Zurich 2009, ISBN 978-3-9522608-8-3, S. 59–64.
↑Peter Gabriel Ltd.: So - Released 19th May, 1986. PeterGabriel.com, 2024, abgerufen am 11. Juli 2024 (britisches Englisch).
↑Erschien als Band III von Jungs "Mysterium Coninuctionis" als Illustration des dortigen Darstellung der alchemistischen Gegensatzproblematik; Gemeinsame Herausgabe in einem Werk, da "beide Autoren auch an der Arbeit des anderen beteiligt waren", wie Jung im Vorwort zu Band Mysterium coniunctionis Band I schreibt (S. 14 der "Gesammelten Werke Band 14/1" Walter, Düsseldorf 1995, ISBN 3-530-40090-4).