Der Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus umfasst 14 erfundene, pseudepigraphische Briefe des römischen Philosophen und Dichters Seneca und des Apostels Paulus. Die acht Schreiben unter Senecas Namen und sechs unter dem Namen des Apostels sollen die Freundschaft zwischen den beiden Autoren belegen. Der Briefwechsel stammt aus dem 4. Jahrhundert, wurde aber jahrhundertelang als echt angesehen, bis zu Beginn des 15. Jahrhunderts von humanistischen Philologen Zweifel geäußert wurden (Lorenzo Valla, Celio Secondo Curione, Justus Lipsius). Erasmus von Rotterdam versetzte der Fiktion mit seiner Kritik und dank seiner Autorität den Todesstoß. Die Korrespondenz ist in stilistisch bescheidenem, nachklassischem Latein verfasst und inhaltlich als dürftig zu bezeichnen.
Der Briefwechsel wurde von einem unbekannten Autor im 4. Jahrhundert, vor 392/93, also vor seiner Erwähnung bei Hieronymus, angefertigt.[1] Wahrscheinlich wurde er nach 325 geschrieben, was man aus dem Schweigen des Kirchenvaters und Seneca-Liebhabers Lactantius zu diesem Briefwechsel schließen kann.[2]
Erasmus urteilte nach Anführung einiger Gründe über diese schlecht gemachte „Fälschung“: „Schamlose Narretei ist es, Seneca so reden zu lassen, Gotteslästerung ist es, Paulus so reden zu lassen.“[3] Der Philologe und Theologe Alfons Fürst kommt 2006 zu einem vergleichbaren Schluss: „Sprache und Stil sämtlicher Briefe bewegen sich auf einem erbärmlichen Niveau.“ Die Unbeholfenheit des Verfassers zeige sich in fehlerhaften Bezügen und inhaltlichen Unstimmigkeiten.[4]
Der Briefwechsel enthält nur Spuren senecanischer Philosophie und paulinischer Theologie. Alfons Fürst bezeichnet den Briefwechsel als „ausgesprochen nichtssagenden Text“.[5] Schon Erasmus beklagte sich über „die Dürre und Albernheit der Gedanken.“[6]
Die Abfolge der letzten vier Briefe ist unsicher. Folgt man ihrer eigenen Datierung, wird die inhaltliche Logik (Äußerung und Antwort) gestört.[7]
Zwei Thesen wurden und werden vertreten:
Nach Erasmus wollte der unbekannte Verfasser Seneca als Christ hinstellen (Brief 2092; 1515). Diese These tauchte schon im 14. Jahrhundert mehrfach auf; sie lässt sich aber durch die Texte nicht stützen. Vielmehr unterscheidet der Autor zwischen „deiner Lebensform“ (Brief I) und „meiner Religion“ (Brief X); er lässt Seneca von den Christen reden, ohne sich einzuschließen, indem er von „eurer Unschuld“, „euch“ und „ihr“ spricht (Brief XI).
In den Briefen reden sich die beiden des Öftern mit „liebster Seneca“ bzw. „liebster Paulus“ an (Ave, mi Paule carissime, Brief XII) oder auch mit dem freundschaftlichen „Bruder“. Die Briefpartner machen sich gegenseitig höflich Komplimente, drücken ihre Wertschätzung aus, entschuldigen sich für verzögertes Beantworten von Briefen, zum Teil mit Hinweis auf das Fehlen eines geeigneten Briefboten (Briefe II, VI), und sie drücken ihre Sehnsucht aus, beisammen sein zu können (Briefe I, III, IV, V). Damit folgen sie den Spielregeln solcher spätantiker Korrespondenzen.
Zur Diskussion stehen drei Absichten für die Anfertigung der fiktiven Freundschafts-Korrespondenz:[8]
1. Weit verbreitet ist die auf Theodor Zahn und Adolf von Harnack zurückgehende These, Paulus und seine Schriften bzw. die Bibel allgemein sollten gebildeten Neubekehrten zur Lektüre empfohlen werden. – Dagegen spricht aber, dass Senecas Ansehen im 4. Jahrhundert auf einen Tiefpunkt gesunken war und seine Philosophie keine Rolle mehr spielte.[9]
2. Die Gegenthese lautet: Paulus sollte diskreditiert werden, indem man ihn mit Seneca sowie dem Christenverfolger Nero und dessen berüchtigten Frau Poppaea Sabina in Verbindung brachte (E. Westerburg, 1881). – Dagegen spricht, dass der Briefwechsel dazu in zwei Gruppen aufgeteilt werden muss.[10] Diese These fand keine Nachfolger.
3. Die Werke Senecas sollten christlichen Lesern empfohlen werden.[11] Diese Annahme berücksichtigt den ganzen Briefwechsel. Dazu passt auch die Aussage im letzten Brief (XIV), wo Seneca bezeugt wird, ihm seien von Gott seltene Offenbarungen zuteilgeworden und er sei „schon fast“ (propemodum) zur göttlichen Weisheit gelangt. Der Briefwechsel wurde vielen Seneca-Ausgaben des Mittelalters vorangestellt, wonach er also zumindest in späterer Zeit eine Leseempfehlung darstellte. Lediglich die schlechte Qualität des Briefwechsels wirft die Frage auf, ob er das nach Absicht des Autors leisten sollte.
Die Kirchenväter Tertullian, Laktanz und Hieronymus brachten Seneca große Wertschätzung entgegen. Da Hieronymus den Briefwechsel kannte und anscheinend von der Freundschaft mit Paulus beeindruckt war, nahm er den heidnischen Philosophen sogar in sein Verzeichnis der Heiligen auf (De viris illustribus 12). Augustinus kannte die Briefe ebenfalls und konnte Seneca zustimmend zitieren mit Verweis auf ebendiesen Kontakt mit dem Apostel (Epistula 153,14; 413/14 n. Chr.).[12] Damit war für die nachfolgenden Jahrhunderte die enge Beziehung Senecas zu Paulus und seine Nähe zum Christentum erwiesen.
Der Briefwechsel war fester Bestandteil in der Überlieferung der Werke Senecas ab dem 9. Jahrhundert. Er wurde aber auch gesondert oder mit anderen Schriften zusammen herausgegeben, zum Beispiel um 795 von Alkuin, dem Berater Karls des Großen. Senecas Philosophie wurde in die Nähe des Christentums gerückt (Ergebung in den göttlichen Willen, Gewissenserforschung und Mitmenschlichkeit). Auch den Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin galt Seneca noch als Autorität.
In jüngerer Zeit ging der exzentrische[13] Tübinger Althistoriker und Theologe[14] Helmut Waldmann (* 1935) von der Echtheit des Briefwechsels aus und nutzte ihn als Stütze für seine These einer jüdischen Herkunft der Kaiserin Poppaea Sabina, die er für ein früh zum Christentum konvertiertes Mitglied der Königsdynastie Davids hält.[15]