Die Dame von Auxerre, auch Kore von Auxerre, ist eine Statuette der griechischen Kunstarchaischer Zeit aus Kalkstein. Die etwa im 3. Viertel des 7. Jahrhunderts v. Chr. gefertigte Skulptur befindet sich seit 1909 unter der Inventarnummer Ma 3098 im Pariser Louvre.
Die Statuette wurde 1907 im Depot des örtlichen Musée Saint-Germain von Auxerre entdeckt, ihre Bedeutung schnell erkannt.[1] Im Jahr 1909 wurde die Dame von Auxerre im Tausch gegen ein Gemälde des Landschaftsmalers Henri-Joseph Harpignies durch den Louvre erworben. Dort zählt sie seither zu den bedeutendsten Exponaten antiker Kunst. Wie sie in das Museum von Auxerre gelangte, ist weitgehend ungeklärt. Die Recherchen von Claude Rolley ergaben,[2] dass sie vermutlich aus der Sammlung eines Kunstliebhabers namens Edouard Bourgoin stammte. Ein Jahr nach dessen Tod kam sie 1895 in den Besitz eines Louis David, der sie als Theaterrequisite benutzte. Aus seinem Besitz muss sie unter ungeklärten Umständen in die Bestände des Museums überführt worden sein, wo sie ohne Inventarisierung gelagert wurde. Dort entdeckte der französische Archäologe Maxime Collignon im Jahr 1907 die Figur, die er im Jahr darauf vorläufig publizierte.[3]
Die Statuette ist inklusive Plinthe 75 Zentimeter, ohne Plinthe 65 Zentimeter hoch. Die Grundfläche der quadratischen, nicht ganz würfelförmigen Plinthe beträgt 16,5 × 16,5 Zentimeter. Im Gegensatz zur geglätteten Oberfläche der Skulptur sind an der Plinthe die Reste einer groben Pickung erhalten. Die Statuette ist aus feinkristallinem Kalkstein gefertigt und war in drei Teile zerbrochen:
Unterkörper bis zum unteren Rand des Gürtels,
Oberkörper samt linken Oberarm und rechter Hand,
rechter Arm.
Die Fragmente wurden im Louvre wieder zusammengesetzt. Die linke Gesichtshälfte der Statuette, die darüber hinaus nur oberflächliche Bestoßungen aufweist, ist abgeschlagen. Rote Farbreste der einstigen Bemalung sind erhalten.
Dargestellt ist eine ruhig aufrechtstehende, weibliche Gestalt. Sie steht mit geschlossenen Beinen, die nebeneinander gestellten Füße ruhen auf der vermutlich ursprünglich in eine Basis eingelassenen Plinthe. Ihr linker Arm hängt gerade herab, die Linke liegt mit gestreckten Fingern flach am Oberschenkel auf. Die Finger der rechten Hand sind mittig vor die Brust geführt, der rechte Arm ist angewinkelt. Das U-förmige Gesicht mit seinen nach vorn blickenden Augen ist gerahmt von breit angelegten Perlsträhnen. Die Haare verteilen sich auf dem höchsten Punkt der Kalotte radial, fallen zu je vier Strähnen über die Schultern weit auf die Brust und bedecken auch den oberen Teil des Rückens. Kleine Buckellocken begrenzen die flache Stirn, die Ohren sind von den seitlich nach vorn geführten Strähnen bedeckt. Das markante Kinn ist durch eine zurückschwingende Vertiefung vom breiten Mund getrennt. Die Mundwinkel der scharf gezeichneten Lippen sind zaghaft nach oben gezogen, ein archaisches Lächeln bestenfalls angedeutet. Die runden Augäpfel treten hervor und werden von mandelförmig ausgeführten Lidern gerahmt.
Gekleidet[4] ist die Dargestellte in einen langen Chiton, der bis zur Plinthe fällt, dort leicht ausgestellt aufliegt und nur ihre Fußspitzen unbedeckt lässt. Der Chiton schmiegt sich der Körperform an, die sich darunter als leichte Wölbung abzeichnet. Der Chiton ist in der Taille bis zum Brustkorbansatz breit gegürtet. Die Schultern bedeckt ein Epiblema genanntes, nur umgeworfenes Obergewand. Es ist vor der Brust angeheftet und bedeckt auch die Außenseite der Arme: links bis zu den Handgelenken, rechts bis zum Ellbogen. Am Rücken, den eine Vertiefung im Bereich der Wirbelsäule strukturiert, ist es unter den Gürtel geführt.
Einst farbig ausgemalte Ritzmuster bereichern die Darstellung der Gewänder. Ineinander geschachtelte Quadrate zieren den Chiton im Bereich des Unterkörpers als herabfallende Mittelborte, aber auch umlaufend am unteren Stoffende. Das Oberteil ist mit einem Schuppenmuster versehen. Die Ränder des Epiblema und der obere Saum des Chiton unterhalb des Halses zeigen Mäanderornamente. Eingeritzte Armreife umspielen beide Unterarme oberhalb der Handgelenke.[5]
In knapper, scharfer Rundung wird der gestreckte, säulenförmige Unterkörper zur stark eingezogenen Taille vermittelt. In der Profilansicht tritt das Gesäß raumgreifend hervor. Dreiecksförmig wächst der kurze, breitschultige Oberkörper mit seinen kleinen, festen Brüsten aus der Taille. Die ausladende Horizontale der Schultern wird durch die horizontalen Einschnürungen der Perlsträhnen und die streng waagrechte Anordnung der Stirnlocken noch betont.
Von der ehemaligen Farbgebung der Skulptur zeugen Reste roter Bemalung in den einst geschützteren Bereichen zwischen den frei gearbeiteten Armen und dem Oberkörper. Die an einem Gipsabguss an der Universität Cambridge umgesetzte Rekonstruktion zur Farbigkeit kann sich hingegen nicht auf weitere Befunde an der Dame von Auxerre selbst stützen, sondern wurde in Analogie zu besser erhaltenen Beispielen antiker Polychromie entwickelt.
Die Statuette selbst weist keinerlei Attribute auf, die ihre Deutung nahelegen. Verpflichtet ist sie einem Statuentypus, der in der Klassischen Archäologie als Kore (altgriechischκόρηkórē, deutsch ‚Mädchen‘) angesprochen wird. Die Frage, ob es sich bei der Dargestellten um eine Göttin oder um eine Sterbliche, mithin eine Adorantin handelt, ist damit aber nicht beantwortet: Koren konnten je nach Aufstellungszusammenhang als Göttinnen, Votivgaben oder Grabstatuen aufgefasst werden. Ohne Hinweise auf einen ursprünglichen Aufstellungsort zu haben, sprach sie Maxime Collignon wegen der fehlenden Attribute als Adorantin an,[6] während sie für Josef Floren eindeutig die Darstellung einer Göttin ist.[7]
Verbunden mit der Frage der Aufstellung sind die Fragen nach ihrer Datierung und Herkunft. Früh bereits wurde aufgrund stilistischer Untersuchungen ihre zeitliche Abhängigkeit von der um 660 v. Chr. geschaffenen Statue der Nikandre erkannt. Diese und weitere Statuen vertreten eine als „dädalisch“ angesprochene Stilphase innerhalb der frühen archaischen Kunst, die allgemeiner auch als orientalisierende Periode bezeichnet wird. Besonders verbreitet war die „dädalische“ Plastik auf Kreta, vertreten etwa durch die „Göttin von Prinias“ oder die „Göttin von Astritsi“.[8] All dies führte zu einer allgemein akzeptierten Datierung der Statuette in die Jahre 650–625 v. Chr.[9] Entsprechend wird die Dame von Auxerre meist in einen kretischen Kontext gestellt,[10] gleichwohl vielfach abweichende Meinungen vertreten wurden.[11]
Zu den Zeugnissen, die früh schon als Vergleich herangezogen wurden, zählte der Oberkörper einer Kore, die in Eleutherna gefunden worden war. Der Neufund einer ebenfalls vergleichbaren Kore aus Eleutherna in den 1990er-Jahren[12] leitete eine Neubewertung der Dame von Auxerre ein, deren Herkunft aus Eleutherna nun auf breite Akzeptanz trifft.[13] Der sepulkrale Fundzusammenhang der neuerlich gefundenen Kore in Eleutherna führt zur Interpretation der Dame von Auxerre als Grabstatue, die zum Gedenken an eine Angehörige der lokalen Oberschicht in Eleutherna errichtet wurde.[14]
Lauren Adams Gilmour: Orientalizing Sculpture in Soft Limestone from Crete and Mainland Greece (= British Archaeological Reports. Supplementum 42). BAR, Oxford 1978, S. 32–34.
Peter Blome: Die figürliche Bildwelt Kretas in der geometrischen und früharchaischen Periode. Philipp von Zabern, Mainz 1982, bes. S. 44–45.
Maxime Collignon: La statuette d’Auxerre (Musée du Louvre). In: Monuments et mémoires de la Fondation Eugène Piot. Band 20, 1913, S. 5–38, Taf. 1–2 (Digitalisat).
Matteo D’Acunto: La fonction de la plus ancienne sculpture naxienne à Délos et la comparaison avec les productions crétoises dédaliques: sur les débuts de la sculpture monumentale en Grèce. In: Yannos Kourayos, Francis Prost (Hrsg.): La sculpture des Cyclades à l’époque archaïque. Histoire des ateliers, rayonnement des styles. Actes du colloque international organisé par l’Éphorie des Antiquités préhistoriques et classiques des Cyclades et l’École française d'Athènes (7–9 septembre 1998) (= Bulletin de correspondance hellénique. Supplément 48). Ecole Française d’Athènes / De Boccard, Athen/Paris 2008, S. 133–182, hier S. 164–66 (online).
Marianne Hamiaux: Musée du Louvre. Les sculptures grecques. Band 1: Des origins à la fin du IVe siècle avant J.-C. Zweite Auflage. Réunion des Musées Nationaux, Paris 2001, S. 43–45 Nr. 38.
Gabriele Kaminski: Dädalische Plastik. In: Peter Cornelis Bol (Hrsg.): Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst. Band 1: Frühgriechische Plastik. Philipp von Zabern, Mainz 2002, S. 71–95, hier S. 71. 73. 84–86 Abb. 160 a–c.
Jean-Luc Martinez: La Dame d’Auxerre. Service culturel du musée du Louvre, Paris 2000.
Wolfram Martini: Die archaische Plastik der Griechen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, ISBN 3-534-03175-X, S. 133–135.
Gisela M. A. Richter: Korai. Archaic Greek Maidens. A study of the Development of the Kore Type in Greek Sculpture. Phaidon Press, London 1968, S. 32 Nr. 18, Abb. 76–79.
Claude Rolley: La Sculpture grecque. Band 1: Des origines au milieu du Ve siècle (= Les manuels d’art et d’archéologie antiques). Picard, Paris 1994, S. 128–132, 137–138, Abb. 116–117.
↑Maxime Collignon: Statuette féminine de style grec archaïque (Musée d’Auxerre). In: Revue archéologique. 1908, S. 153–170.
↑Zur Kleidung siehe Georgia Kokkorou-Alevras: The Painted Decoration on the Garment of the Nikandre Statue. In: Philippe Jockey (Hrsg.): Les arts de la couleur en Grèce ancienne... et ailleurs. Approches interdisciplinaires (= Bulletin de correspondance hellénique. Supplément 56). Ecole Française d’Athènes, Athen 2018, S. 115–130.
↑Gegen eine Deutung als Armreife und für eine Deutung als Ärmelsäume tritt ein Georgia Kokkorou-Alevras: The Painted Decoration on the Garment of the Nikandre Statue. In: Philippe Jockey (Hrsg.): Les arts de la couleur en Grèce ancienne... et ailleurs. Approches interdisciplinaires (= Bulletin de correspondance hellénique. Supplément 56). Ecole Française d’Athènes, Athen 2018, S. 115–130, hier S. 120 Anm. 11.
↑Maxime Collignon: La statuette d’Auxerre (Musée du Louvre). In: Monuments et mémoires de la Fondation Eugène Piot. Band 20, 1913, S. 5–38, hier S. 7 f.
↑Josef Floren: Die griechische Plastik. Band 1: Die geometrische und archaische Plastik. C. H. Beck, München 1987, S. 127.
↑Zu diesem Statuenkomplex siehe etwa Costis Davaras: Die Statue aus Astritsi. Ein Beitrag zur dädalischen Kunst auf Kreat und zu den Anfängen der griechischen Plastik (= Antike Kunst. Beiheft 8). Francke, Bern 1972 (online); Gabriele Kaminski: Dädalische Plastik. In: Peter Cornelis Bol (Hrsg.): Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst. Band 1: Frühgriechische Plastik. Philipp von Zabern, Mainz 2002, S. 71–95, hier S. 84–86, 89–90, 92–93; Marion Meyer, Nora Brüggemann: Kore und Kouros: Weihegaben für die Götter (= Wiener Forschungen zur Archäologie. Band 10). Phoibos, Wien 2007, S. 74, Nr. 141.
↑Siehe etwa Gisela M. A. Richter: Korai. Archaic Greek Maidens. A study of the Development of the Kore Type in Greek Sculpture. Phaidon Press, London 1968, S. 32 Nr. 18; Josef Floren: Die griechische Plastik. Band 1: Die geometrische und archaische Plastik. C. H. Beck, München 1987, S. 126; Wolfram Martini: Die archaische Plastik der Griechen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, S. 135; Gabriele Kaminski: Dädalische Plastik. In: Peter Cornelis Bol (Hrsg.): Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst. Band 1: Frühgriechische Plastik. Philipp von Zabern, Mainz 2002, S. 71–95, hier S. 84–86.
↑Zu weiteren Beispielen aus Gortyn siehe zuletzt Antonis Kotsonas: Three Early, Limestone Sculptures from Gortyn and Their Mediterranean Profile. In: Nikolaos Chr. Stampolidis, Athanasia Kanta, Angeliki Giannikouri (Hrsg.): Athanasia. The Earthly, the Celestial and the Underworld in the Mediterranean from the Late Bronze and the Early Iron Age. International Archaeological Conference, Rhodes 2009. Panepistemio Kretes, Eidikos Logariasmos, Heraklion 2012, S. 179–190 (online).
↑Zusammenstellung abweichender Meinungen („lakonisch“, „ionisch“, „argivisch (?)“, „korinthisch“) bei Costis Davaras: Die Statue aus Astritsi. Ein Beitrag zur dädalischen Kunst auf Kreat und zu den Anfängen der griechischen Plastik (= Antike Kunst. Beiheft 8). Francke, Bern 1972, S. 55; zudem „samisch“ von Alan Cunningham Brookes: The Chronology and Development of Daedalic Sculpture. Dissertation University of Pennsylvania 1978; University Microfilms International, Ann Arbor [Mich.] 1982, S. 109 f.
↑Zur Kore aus Eleutherna siehe Nikolaos Christos Stampolidis: Eleutherna on Crete. An interim Report on the Geometric-Archaic Cemetery. In: The Annual of the British School at Athens. Band 85, 1990, S. 375–403, hier S. 400; Nikolaos Chr. Stampolidis (Hrsg.): Ελεύθερνα: Πόλη – Ακρόπολη – Νεκρόπολη. Museum of Cycladic Art, Athen 2004, S. 235–236 Nr. 252.
↑Etwa Jean-Luc Martinez: La Dame d’Auxerre. Service culturel du musée du Louvre, Paris 2000; Didier Viviers: Rezension zu Jean-Luc Martinez: La Dame d’Auxerre. In: Revue belge de Philologie et d’Histoire. Band 79, 2001, S. 326–327; Matteo D’Acunto: La fonction de la plus ancienne sculpture naxienne à Délos et la comparaison avec les productions crétoises dédaliques: sur les débuts de la sculpture monumentale en Grèce. In: Yannos Kourayos, Francis Prost (Hrsg.): La sculpture des Cyclades à l’époque archaïque. Histoire des ateliers, rayonnement des styles. Actes du colloque international organisé par l’Éphorie des Antiquités préhistoriques et classiques des Cyclades et l’École française d'Athènes (7–9 septembre 1998) (= Bulletin de correspondance hellénique. Supplément 48). Ecole Française d’Athènes / De Boccard, Athen/Paris 2008, S. 133–182, hier S. 164.
↑Jean-Luc Martinez: La Dame d’Auxerre. Service culturel du musée du Louvre, Paris 2000; Didier Viviers: Rezension zu Jean-Luc Martinez: La Dame d’Auxerre. In: Revue belge de Philologie et d’Histoire. Band 79, 2001, S. 326–327.