Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem wissenschaftlichen Fach Designgeschichte. Zur chronologischen Entwicklung von Design siehe den Artikel Geschichte des Designs.
Designgeschichte (auch Designgeschichtsforschung, Design Studies) ist eine wissenschaftliche Disziplin, welche die Entwicklung von Design empirisch und theoretisch erforscht, kritisch darstellt und vermittelt.
Schwerpunkte des Faches sind Produkte, Systeme, Praktiken, Institutionen und Prozesse des Design sowie Designer, Designausbildung und Designtheorie. Diese Themen werden nicht isoliert behandelt, sondern jeweils im Kontext soziologischer, wirtschaftlicher, ökologischer, technologischer, psychologischer und kultureller Veränderungen interdisziplinär untersucht. Die Rekonstruktion designgeschichtlicher Fakten, Verknüpfungen und Hintergründe bedarf der theoretischen Fundierung und einer differenzierten methodischen Grundlage.[1]
Im Unterschied zur Kunst- und Architekturgeschichte ist Designgeschichte eine vergleichsweise junge Disziplin. Als Vorläufer wird vor allem das Buch Wegbereiter moderner Formgebung. Von Morris bis Gropius (Pioneers of Modernism 1936, dt.1957) des Kunsthistorikers Nikolaus Pevsner angesehen, das auf die Wurzeln des Faches in der deutschen Kunst- und Architekturgeschichte verweist.[2] Auch die Werke des Schweizer ArchitekturhistorikersSigfried Giedion gelten als Vorläufer der Designgeschichte.[3]
Die Industrialisierung, also die Umstellung von handwerklicher auf die arbeitsteilige maschinelle Produktion in Fabriken im 19. Jahrhundert, die eine Trennung von Entwurf und Ausführung beinhaltet, wird meist als Beginn für eine Geschichte des Designs angesehen. Die ältere Disziplin Angewandte Kunst ist demgegenüber primär auf individuell handwerklich hergestellte Gebrauchsgegenstände des Alltags mit ästhetischem Anspruch ausgerichtet.[4]
Am weitesten fortgeschritten ist Designgeschichte als wissenschaftliche Disziplin in Großbritannien, wo es seit den 1970er Jahren eine Design History Society, Lehrstühle für Designgeschichte und eine Vielzahl an Publikationen von Designhistorikern gibt.[5][6][7][8]
In den USA bietet seit 1984 das von The MIT Press gegründete Fachjournal Design Issues neben Beiträgen zur Theorie und Kritik des Design ein Forum für designhistorische Beiträge und Untersuchungen.[9][10][11]
Im Februar 2008 wurde die Gesellschaft für Designgeschichte (GfDg) in Weimar gegründet.[12] Sie versteht sich als offenes Forum und verfolgt das Ziel, die öffentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Designs zu intensivieren. Darüber hinaus will die GfDg ein eigenständiges wissenschaftliches Profil für die Designgeschichte mit entwickeln und zur akademischen Etablierung des Faches beitragen. 2018 wurde eine Schriftenreihe begründet, in der jährlich die auf den Jahrestagungen vorgestellten Forschungsergebnisse veröffentlicht werden.[13]
Im Frühjahr 2008 wurde das Institute for Design Research Vienna (IDRV) unter anderem mit dem Ziel gegründet zur designgeschichtlichen Forschung beizutragen.[14]
Im September 2019 wurde in Zürich das Netzwerk Designgeschichte Schweiz (NDG) gegründet.[16] Ziel des Vereins ist es, die Wahrnehmung, Erforschung und Vermittlung der Designgeschichte in der Schweiz zu fördern.
Die Wurzeln der Designgeschichte in der Kunst- und Architekturgeschichte hatten zunächst nahegelegt, dass einzelne Designer und deren Designobjekte in den Mittelpunkt von Designgeschichte gestellt und als maßgeblich für die Gestaltung in der Moderne präsentiert wurden. Der durch Institutionalisierung und Professionalisierung der Designpraxis zunehmend breitere wirtschaftliche, technologische und kulturelle Einfluss von Design in industriellen und postindustriellen kapitalistischen Gesellschaften hat zu einem kulturwissenschaftlich erweiterten Designbegriff[17] und in Folge zu einem erweiterten und differenzierteren Verständnis von Design und Designgeschichte geführt.[18][19]
Vier breite Untersuchungsfelder stehen im Zentrum von Design und Designgeschichte:[20]
Gegenstand von Designgeschichte sind damit sämtliche vom Menschen geplanten und geschaffenen „Künstlichen Welten“ im Sinne von Herbert A. Simon[22][23] sowie die Auseinandersetzung mit den damit verbundenen „wicked problems“ im Sinne von Horst W.J.Rittel und Melvin M. Webber.[24] Neben funktionalen und ästhetischen Aspekten untersucht die Designgeschichte dabei nicht zuletzt auch ethische und politische Fragen im Kontext von Designprozessen.
In einem engen Zusammenhang mit Designgeschichte steht die Designkritik als kritische Auseinandersetzung mit Design (siehe auch Architekturkritik).
Die komplexen interdisziplinären Zusammenhänge in die Design und gesellschaftliche Gestaltungsprozesse eingebettet sind, haben zur Folge, dass Designgeschichte als Kulturgeschichte vielfältige Berührungspunkte mit anderen Disziplinen, insbesondere Unternehmensgeschichte, Alltagsgeschichte, Zeitgeschichte und Technikgeschichte[25] aufweist. Darüber hinaus gewinnen in einem globalen Kontext zunehmend auch juristische Fragen an Gewicht.[26] Designgeschichte hat sich von einem relativ marginalen Fach im Rahmen der Designausbildung zu einer eigenständigen Disziplin entwickelt, die in der Lage ist, anspruchsvolle Darstellungen und Analysen des Zusammenspiels sozialer, kultureller, politischer und wirtschaftlicher Kräfte im Kontext von Design hervorzubringen.[27][28]
In designgeschichtlichen Texten und Untersuchungen kommen vielfältige Ansätze und Methoden zur Anwendung.[29] Der englische Designhistoriker John A. Walker nennt 1989 folgende Aspekte:
die thematische Fokussierung auf bestimmte Objektkategorien (z. B. Möbel, Kleidung, Waffensysteme), Materialien und Techniken
die Unterscheidung zwischen detaillierten wissenschaftlichen Untersuchungen und populären Darstellungen
Um die Zusammenhänge der Vielzahl von Einzelstudien im Bereich Design besser erfassen und systematischer darstellen zu können, schlägt Walker ein allgemeines Modell der Produktion, Distribution und Konsumtion von Design vor, welches später von Grace Lees-Maffei zu einem neuen Paradigma für die Designgeschichte erweitert wurde.[30]
2010 postulierte der norwegische Designhistoriker Kjetil Fallan, dass Designgeschichte nicht mehr in erster Linie eine Geschichte von Objekten und ihrer Gestalter ist, sondern sich immer mehr zu einer Geschichte der Übersetzungen, Transkriptionen, Transaktionen, Transpositionen und Transformationen entwickelt, welche die Beziehungen zwischen Dingen, Menschen und Ideen ausmachen. Fallan sieht in Technikgeschichte, Techniksoziologie sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie und der Skriptanalyse ein hilfreiches methodisches Repertoire und einen geeigneten Rahmen zur Weiterentwicklung von Designgeschichte.[31]
Fundamental für die designhistorische Forschung sind dabei Quellenbestände aus öffentlichen und privaten Archiven (z. B. Museen, Hochschul-, Wirtschafts-, Unternehmens- und Patentarchive), die die Entstehungsgeschichte und den Kontext der gestalteten Artefakte (z. B. Objekte oder Grafiken) rekonstruieren lassen. Die Erschließung derartiger Quellenbestände steckt aber zumindest im DACH-Raum noch in den Kinderschuhen, was ihre Auffindbarkeit erschwert. Nationale Designarchive, wie die University of Brighton Design Archives in Großbritannien, gibt es hier nicht.[32]
Claude Lichtenstein: Die Schwerkraft von Ideen. Eine Designgeschichte, 2 Bände, Bauwelt Fundamente, Birkhäuser 2021.
Kjetil Fallan: The Object of Design History: Lessons for the Environment, in: Anne Massey (Hrsg.): A Companion to Contemporary Design since 1945, Wiley-Blackwell 2019.
Alexandra Midal: Design by Accident. For a New History of Design, Sternberg Press 2019. ISBN 978-3-95679-143-7.
Peter Bühler, Patrick Schlaich, Dominik Sinner, Andrea Stauss, Thomas Stauss: Designgeschichte. Epochen – Stile – Tendenzen. Springer Vieweg 2019.
Kjetil Fallan, Grace Lees-Maffei: Reale imaginierte Gemeinschaften. Nationale Narrative und die Globalisierung der Designgeschichte, in: Eva Knopf, Sophie Lembcke, Mara Recklies (Hrsg.): Archive dekolonialisieren, transcript Verlag 2018.
Melanie Kurz: Designstreit. Exemplarische Kontroversen über Gestaltung, Wilhelm Fink 2018.
Siegfried Gronert, Thilo Schwer (Hrsg.): Designkritik. Theorie, Geschichte, Lehre – Tagungsband der Jahrestagung der Gesellschaft für Designgeschichte in Kooperation mit der Hochschule für Gestaltung Offenbach, Verlag av edition 2017.
Alice Twemlow: Sifting the Trash. A History of Design Criticism, The MIT Press 2017.
Tony Fry, Clive Dilnot, Susan C. Stewart: Design and the Question of History, Bloomsbury Academic 2015.
Kjetil Fallan: Design History. Understanding Theory and Method, Berg Publishers 2010.
Ben Highmore: The Design Culture Reader, Routledge 2009.
Richard J. Boland, Fred Collopy: Managing as Designing, Stanford University Press 2004.
Victor Margolin: The Politics of the Artificial. Essays on Design and Design Studies, The University of Chicago Press 2002.
Nigel Whiteley: Expendable Icons and softer Hardware. Banham's Design Criticism, in: Nigel Whiteley: Reyner Banham. Historian of the Immediate Future, The MIT Press 2002.
Dennis P. Doordan (ed.): Design History. An Anthology, The MIT Press 1995.
John A. Walker: Designgeschichte. Perspektiven einer wissenschaftlichen Disziplin, scaneg Verlag 1992 (englische Erstausgabe: Design history and the history of design, Pluto Press 1989).
Hazel Conway: Design history – a student’s handbook, Routledge 1987.
↑Gert Selle: Vortrag zur Gründungsveranstaltung der Gesellschaft für Designgeschichte: Design – Randphänomen oder Zentralmassiv der Industriekultur? Hrsg.: Gesellschaft für Designgeschichte. Weimar 3. Februar 2008.
↑Nikolaus Pevsner: Pioneers of Modern Design. From William Morris to Walter Gropius. Museum of Modern Art New York, New York 1949.
↑Horst W.J. Rittel & Melvin M. Webber: Dilemmas in a General Theory of Planning. In: Policy Sciences. Band4. Elsevier, 1973, S.155 - 169.
↑Martina Hessler: Die Verbindung der "alien universes". Annäherungen von Technik- und Designgeschichte. In: Technikgeschichte. Band76, 2009.
↑Tukasa Aso, Christoph Rademacher, Jonathan Robinson (Hrsg.): History of Design and Design Law. An International and Interdisciplinary Perspective. Springer, 2022, ISBN 978-981-16-8781-5.
↑Grace Lees-Maffei, D.J. Huppatz: Design History. From Service Subject to Discrete Discipline, ICDHS 2012 – Design Frontiers: territories, concepts, technologies. 8th conference of the International Committee for Design History and Design Studies, 2012.
↑Jonathan M. Woodham: Resisting Colonization. Design History has its own Identity. In: Design Issues. 1995.
↑Wayne A. Williams, Janice Rieger: A Design History of Design: Complexity, Criticality and Cultural Competence. In: Canadian Art Review. Vol. 40, No. 2, 2015.
↑Grace Lees-Maffei: The Production-Consumption-Mediation Paradigm. In: Journal of Design History. 2009.
↑Kjetil Fallan: Design History. Understanding Theory and Method. Berg Publishers, 2010.
↑Kilian Steiner, Stefanie Then: Designarchive im deutschsprachigen Raum. Ein erster Überblick. In: Kathrin Mayer, Manfred Rothenberger, Anne Thurmann-Jajes (Hrsg.): Wissensspeicher der Kultur. Geschichte, Funktion und Auftrag der Kulturarchive im deutschsprachigen Raum. starfruit publications, Fürth 2024, ISBN 978-3-922895-62-6, S.124–137.