Erich Loest wurde als Sohn von Alfred Loest (1897–1980) und Klara, geb. Reichenbach (1899–1946) in Mittweida geboren. Die Eltern besaßen eine Eisenwarenhandlung in der Weberstraße 44 und kauften 1933 das Haus Pfarrberg 12. Er besuchte ab 1932 in Mittweida die Volksschule und ab 1936 die Oberschule. 1936 trat er in die Hitlerjugend (HJ) ein und wurde im Jahr 1942 Fähnleinführer.[1] Diese persönlichen Erfahrungen thematisierte Loest 1981 in seinem autobiographischen Text Durch die Erde ein Riss – Ein Lebenslauf.[2][3] Loest beantragte am 10. Februar 1944 die Aufnahme in die NSDAP und wurde zum 20. April desselben Jahres aufgenommen (Mitgliedsnummer 9.986.544).[4][5] Er wollte zur Waffen-SS, was aber an der fehlenden Genehmigung seines Schuldirektors scheiterte.[6]
Loest wurde 1944 zur Wehrmacht eingezogen.[7] Laut eigener Aussage war er gegen Kriegsende mit dem Werwolf hinter den amerikanischen Linien eingesetzt. Er kam dazu persönlich zu Wort in der ZDF-Serie „ZDF-History“ in der Folge „Organisation ‚Werwolf‘ − Hitlers letztes Aufgebot“.
Er geriet am 6. Mai 1945 in der böhmischen Stadt Bischofteinitz in US-Kriegsgefangenschaft.[8]
Nach kurzer Gefangenschaft arbeitete Loest 1945 in der Landwirtschaft und als Hilfsarbeiter in den Leunawerken. Er holte sein Abitur nach und wurde 1947 Mitglied der SED. Von 1948 bis 1950 war er als Journalist bei der Leipziger Volkszeitung tätig. 1949 heiratete er seine nachmalige Ehefrau Annelies, mit der er zwei Söhne und eine Tochter hatte.[9]
Ab dem Erscheinen seines ersten Buches Jungen, die übrig blieben im Jahr 1950 war er freiberuflicher Schriftsteller. Mitte der 1950er Jahre studierte er am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig.
Ein prägendes Ereignis für Loest war der Aufstand vom 17. Juni 1953. Am 14. November 1957[10] wurde Loest wegen angeblicher „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ im Zusammenhang mit Diskussionen über die Entstalinisierung verhaftet und am 22. Dezember 1958 zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.[11] Er saß im Gefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in Halle und in der Sonderhaftanstalt („Zuchthaus“) Bautzen II ein. Während dieser Zeit hatte er keinen Zugang zu Papier und Stiften, was einem Schreibverbot gleichkam.[12] Durch die Haft erlitt er eine Magenerkrankung.[13]
Nach seiner Haftentlassung im September 1964[10] – inzwischen (August 1961) war die Mauer gebaut worden – arbeitete Loest wieder als Schriftsteller. Er veröffentlichte in der DDR eine Reihe von Romanen (darunter sehr populäre Kriminalromane unter dem Pseudonym Hans Walldorf) und Erzählungen. Besondere Beachtung fanden der biografische Roman Swallow, mein wackerer Mustang über den von der DDR-Führung damals geschmähten sächsischen Schriftsteller Karl May und die ungewöhnliche Nazi-Satire Ich war Dr. Ley, geschrieben als Memoiren seines fiktiven Doppelgängers.
Aus Protest gegen die Zensur seines Romans Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene, der im April 1978 im Mitteldeutschen Verlag Halle und in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart erschien, trat der Autor im Herbst 1979 aus dem Schriftstellerverband der DDR aus. Protagonist des Romans, der 1974/75 spielt, ist der Ingenieur Wolfgang Wülff, der mit Frau und Tochter im Leipziger Oktoberviertel lebt.
Weil Loest wegen seiner oppositionellen Haltung großen Repressalien ausgesetzt war, siedelte er im März 1981 in die Bundesrepublik über.[14] Er ließ sich zunächst in Osnabrück nieder und wohnte ab 1987 in Bonn-Bad Godesberg.
Im November 1988 war er erstmals wieder zu Besuch in der DDR (Leipzig). Seine Bücher veröffentlichte er, abgesehen von Swallow und den Nachauflagen, nur noch in westdeutschen Verlagen. In den 1980er Jahren engagierte er sich im westdeutschen Verband deutscher Schriftsteller (VS), dessen nachgiebige Haltung gegenüber den DDR-Machthabern er jedoch missbilligte. Am 15. Dezember 1989 las Loest erstmals wieder in Leipzig, im Gohliser Schlösschen.
1987 gründete er mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter den Linden-Verlag in Künzelsau. Er publiziert vorwiegend Loests eigene Werke und hat seit 1989 seinen Sitz in Leipzig. Gegen seinen Sohn prozessierte Loest um Buchrechte, verlor jedoch vor Gericht.[15]
Erich Loest war ein bedeutender Vertreter der realistischen deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In seinen Romanen und Erzählungen beschäftigte er sich auch mit historischen und legendären Gestalten seiner sächsischen Heimat, etwa mit dem Volkshelden Karl Stülpner. Ab Ende der 1980er Jahre waren Loests vorrangige Themen die Teilung Deutschlands und Wiedervereinigung sowie die Geschichte der Stadt Leipzig. Sein Drehbuch „Nikolaikirche“ (später auch als Roman verlegt) wurde als erfolgreicher Fernsehmehrteiler verfilmt. Neben seinen politischen Romanen verfasste Loest auch zahlreiche Kriminalromane und Reisefeuilletons.
Loest erhob seine Stimme bei politischen Fragen, die den Umgang mit dem kulturellen Erbe der DDR behandeln. Er setzte sich für die Neuerrichtung der Leipziger Paulinerkirche ein (diese war am 30. Mai 1968 gesprengt worden). Er sprach sich dafür aus, Kunstwerke der Zeit der DDR aus der Öffentlichkeit zu verbannen. So wandte er sich in offenen Briefen an Medien und Politiker gegen die Wiederaufstellung des Bronze-Reliefs Aufbruch an der Universität Leipzig und gegen das Gemälde Arbeiterklasse und Intelligenz von Werner Tübke; beide zählen zur Sammlung der Universitätskustodie. Für seine Verdienste um die Aufarbeitung der SED-Diktatur erhielt er 2012 den Hohenschönhausen-Preis des Fördervereins Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.[17]
Am 29. September 2010 gab Loest anlässlich der Preisverleihung des Kulturgroschens in Berlin für sein „herausragendes künstlerisches wie politisches Engagement“ bekannt: „Der heutige Tag bildet den festlichen Abschluss meines künstlerischen und politischen Treibens.“ Von ihm seien nun keine Romane oder längeren Erzählungen mehr zu erwarten.[18] Sein 2011 erschienenes Buch Man ist ja keine Achtzig mehr enthielt Tagebucheinträge von August 2008 bis September 2010.[19]
In seinen letzten Lebensjahren war Loest schwer krank.[20] Am 12. September 2013 starb Erich Loest, der bis zuletzt als so genannter „ostdeutscher“ Schriftsteller bezeichnet wurde, im Alter von 87 Jahren in der Universitätsklinik Leipzig nach einem Sturz aus dem Fenster; laut den polizeilichen Ermittlungen handelte es sich um einen Suizid.[21] Er hinterließ seine Lebensgefährtin Linde Rotta.[22] Loest wurde in seinem Geburtsort Mittweida auf dem neuen Friedhof an der Seite seiner Frau Annelies (1930–1997) beigesetzt.[23] Die Trauerrede hielt der Bürgerrechtler Werner Schulz in der Leipziger Nikolaikirche.[24]
Erich Loest veröffentlichte zahlreiche Bücher unter den Pseudonymen Hans Walldorf und Waldemar Naß. Widersprüchlich ist die Zuschreibung von Bernd Diksen. In der Überblicksdarstellung Die Kriminalgeschichte der DDR gilt die Autorschaft Loests als „hartnäckige, frei erfundene Legende“.[27] Nachschlagewerke und Fachveröffentlichungen sprechen sich entweder für Loest[28] oder für Werner Dembski[29] aus.
[zus. mit Heinz Klunker:] Harte Gangart. Aufstieg und Fall des Romanes „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ – ein Stück DDR-Literaturpolitik. Köln 1983.
Völkerschlachtdenkmal. Hamburg 1984.
Der vierte Zensor. Köln 1984.
Geordnete Rückzüge. Hannover 1984.
Herzschlag. Niddatal 1984.
Die Mäuse des Dr. Ley. Olten 1984.
Zwiebelmuster. Hamburg 1985.
Leipzig ist unerschöpflich. Paderborn 1985.
Saison in Key West. München u. a. 1986.
Bruder Franz. Paderborn u. a. 1986.
Ein Sachse in Osnabrück. Freiburg i. Br. 1986.
Froschkonzert. München u. a. 1987 (verfilmt als Die Frosch-Intrige, ZDF 1990)
Die Brücke über den Lipper Ley. (Hörspiel, Hessischer Rundfunk) 1987.
Eine romantische Reise um die Welt. Künzelsau 1988.
Der Mörder saß im Wembley-Stadion. Göttingen 2006, ISBN 3-86521-250-6 (Neuüberarbeitung der Ausgabe vom Mitteldeutschen Verlag Halle von 1967 aufgrund einer Überprüfung des Autors der Lokalitäten in London und der 2006 in Deutschland stattfindenden Fußballweltmeisterschaft).
1974: Briefwechsel mit einem Kollegen; zusammen mit Gerhard Zwerenz (Hessischer Rundfunk)
1975: Dienstfahrt eines Lektors (Rundfunk der DDR) Regie: Horst Liepach
1976: Ein Herr aus Berlin (Hessischer Rundfunk) Regie: Mathias Neumann
1979: Eine ganz alte Geschichte (Hessischer Rundfunk / Radio Bremen) Regie: Hans Drawe
1979: Fünfunddreißig Spiegeleier oder Ein ganz braves Mädchen (Manuskript vom Rundfunk der DDR am 10. Oktober 1979 mit einem Abstandshonorar verworfen)
1980: Messerstecher (Westdeutscher Rundfunk) Regie: Heinz Wilhelm Schwarz
2002: Erich Loest liest aus seinen Büchern: „Es geht seinen Gang“, „Völkerschlachtdenkmal“, „Nikolaikirche“, „Reichsgericht“. CD, 65 min., MCS Sachsen Dresden.
2020: Durch die Erde ein Riss – Ein Lebenslauf, ungekürzte Lesung mit Kurt Böwe, Regie: Matthias Thalheim, 2 mp3-CDs, 18 h 49 Min., SachsenRadio 1990 / Der Audio Verlag 2020, ISBN 978-3-7424-1455-7.
Erich Loest: Gelindes Grausen. Tagebuch 2011–2013. Mit einem Nachtrag von Linde Rotta. Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2014, ISBN 978-3-95462-196-5.
Erich Loest: Der elfte Mann. Roman. Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2018, ISBN 978-3-96311-041-2.
Jürgen Verdofsky: Durch das Leben ein Riss. In: Frankfurter Rundschau, Artikel zum Tod von Erich Loest (vom 13. September 2013; 2019 aktualisiert). 16. Februar 2019; abgerufen am 24. Juni 2023.
↑Erich Loest: Pistole mit sechzehn. In: Pistole mit sechzehn. Erzählungen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-596-25061-7, S. 60.
↑Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Die Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. München/Zürich 1971, Ss. 349, 579. – Killy Literaturlexikon, Band 7, 2. Auflage 2010, S. 485, Digitalisat. – Walter Schmitz, Jörg Bernig (Herausgeber): Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik. Dresden 2009, Ss. 588, 750. – Gerhard Schilling: Ostdeutsche Kriminalliteratur nach der Wende. Eine thematische und gattungsgeschichtliche Untersuchung. Dissertation, Marburg 2013, S. 218, Digitalisat
↑Kürschners deutscher Literatur-Kalender, 1984, Berlin/New York 1984, S. 207. – Wilhelm Kosch, Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Band 6. Zürich/München 2004, Spp. 57, 259 f. – Jörg Weigand: Pseudonyme. Ein Lexikon. Decknamen der Autoren deutschsprachiger erzählender Literatur. Baden-Baden, S. 53. – Achim Saupe: Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman. Dissertation. Berlin 2007, S. 347, Digitalisat