Ethnische Religionen (auch traditionelle Religionen) werden alle mündlich oder durch Rituale überlieferten Glaubenssysteme genannt, die keine schriftlich fixierten Lehren kennen und deren Anhänger jeweils nur einer kleinen Zahl verbundener ethnischer Gruppen angehören.
Ursprünglich dienten solche Konzepte traditionellen Kulturen, das Umweltgeschehen gedanklich zu strukturieren, zu erklären bzw. für die Gesellschaft positiv zu beeinflussen, indem sie zugleich die Gemeinschaft, die natürliche Umwelt oder die vorgestellten transzendenten Wesen ansprachen. Im Gegensatz zu den Weltreligionen sind sie nach wie vor stärker auf die Gegenwart ausgerichtet. Sie fördern zumeist die emotionale und spirituelle Bindung an Ethnie und Natur, was sich auch in ihrer Ethik und reichen Mythologien ausdrückt. Das Konzept der individuellen Erlösung oder die Hoffnung auf eine jenseitige Existenz finden sich kaum; im Zentrum steht hingegen das Heil der Gemeinschaft.[1] Traditionelle Glaubenssysteme kennen keine Religionsstifter, keinen universellen Geltungsanspruch und keinen expliziten Moralkodex. Sie sind offen für fremde Einflüsse, so dass sich im Laufe der Jahrtausende eine große Vielfalt unterschiedlicher Vorstellungen und Ausprägungen entwickelt haben.
Es gibt weltweit tausende unterschiedlicher lokaler Glaubensvorstellungen. Seit den ersten Kontakten zu den Weltreligionen kam es weltweit zu erheblichen Missionsbestrebungen, um die „heidnischen“ Ideen auszulöschen. Ihre offizielle Anhängerschaft macht daher – soweit bekannt – nur noch vier Prozent der Weltbevölkerung aus. Die Tendenz ist stark abnehmend, da sich ihre Anhänger aus diversen pragmatischen Gründen immer häufiger zu einer Weltreligion bekennen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie die alten Traditionen völlig abgelegt haben und die neue Religion tatsächlich leben. Rein lokal entstandene, weitgehend unbeeinflusste religiöse Vorstellungen finden sich nur noch bei den wenigen isolierten Völkern der Tropen. Mehr oder weniger stark mit Elementen der Weltreligionen vermischt sind sie noch in entlegenen Wildnisregionen Nordkanadas, Sibiriens und Australiens, in großen Teilen Subsahara-Afrikas, Indiens sowie in den Bergländern Südostasiens und Indonesiens anzutreffen.
„Ethnische Religion“ wird heute in Ermangelung einer Theorie der Religion als Sammelbezeichnung ohne Bezug zu einem bestimmten wissenschaftlichen Konzept verstanden.[2] Lediglich das Fehlen textlicher Aufzeichnungen religiöser Inhalte, die Einheit einer Volksgruppe (Ethnie) mit deren Glaubensinhalten und -praktiken, sowie eine vorrangig naturbezogene Spiritualität (in diversen Ausprägungen) sind allgemein anerkannte Abgrenzungskriterien.
Die Bezeichnung ist heute vor allem in der deutschen Ethnologie, seltener in der Kulturanthropologie üblich. Dort wie in der Religionswissenschaft werden zudem Bezeichnungen wie schriftlose Religionen, Stammesreligionen oder indigene Religionen verwendet. Früher übliche Bezeichnungen wie primitive oder archaische Religionen werden wegen ihrer abwertenden Tendenz und der ungenauen beziehungsweise irreführenden Begrifflichkeit („Natur“ im Gegensatz zu „Kultur“) von den meisten Wissenschaftlern abgelehnt oder nur unter Vorbehalt gebraucht. Dies gilt auch für den Begriff der „Urreligion“; und für den nach wie vor populären Begriff Naturreligionen, der missverständlich ist, weil er sich keineswegs auf die ganze Natur als Gegenstand religiöser Verehrung beschränkt und weil er oft mit einem vermeintlichen „Naturzustand“ des Menschen assoziiert wird. Aktuell wird auch das Wort „Religion“ in Bezug auf ethnische Konzepte von einigen Wissenschaftlern kritisiert, da der Begriff zu stark auf das Christentum und europäische Kulturen fixiert sei.
Jede bislang verwendete Kurzbezeichnung für solche Glaubenssysteme suggeriert mehr oder weniger eine religionswissenschaftliche Einheit. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine enorme Vielfalt religiöser Vorstellungen und Praktiken mit den unterschiedlichsten Ausprägungen, die nur aufgrund ihrer Fremdartigkeit als vermeintliche Einheit wahrgenommen werden.[3] Daher vermeiden die meisten heutigen Fachleute eine verallgemeinernde Begriffsdefinition.[4] Als behelfsmäßige Clusterbezeichnung hat sich „Ethnische Religionen“ bei einer Vielzahl gegenwärtiger Fachleute durchgesetzt.[Anm. 1]
Die Bezeichnung „Ethnische Religion“ taucht bereits 1821 bei Goethe in dem Erziehungsroman Wilhelm Meisters Wanderjahre auf.[5] Schon zu Goethes Zeit bestand Uneinigkeit über den Begriff.[Anm. 2] Die Verwendung der Bezeichnung ethnische Religion in den modernen Wissenschaften – die heute als neutraler Ersatz für diverse andere irreführende oder abwertende Ausdrücke benutzt wird[6] – verwendet den von Wilhelm Emil Mühlmann eingeführten Fachbegriff ethnisch (altgriechisch éthnos ‚[fremdes] Volk‘), der in diversen Mehrwortbenennungen zu finden ist.[6]
Seit jeher steht die Ethnologie vor dem Problem, „fremde“ Vorstellungen in eigenen Begriffen zu beschreiben. Bei der Religionsethnologie beginnt die Problematik jedoch bereits in der eigenen Kultur mit dem Begriff der „Religion“:[7]
„Religion“ ist ein weltlicher Fachbegriff, der ursprünglich nur in europäischen Sprachen vorkam und in anderen Sprachen keine Entsprechung hat. Indigene Völker verbinden damit zumeist nur das Christentum und die Kirche. Ihre eigenen traditionellen Vorstellungen und Praktiken fassen sie hingegen als „etwas anderes“ auf, aber nicht als Religion. Die Menschen sehen häufig keinen Widerspruch darin, sich etwa zur katholischen Religion zu bekennen, obwohl fast alle Rituale und transzendenten Vorstellungen nach wie vor den Überlieferungen folgen. Es führt im Gegenteil eher zum Erstaunen, wenn auch der alte Glaube Religion genannt wird.
Die klare Trennung von Kirche und Staat und nicht zuletzt der Kontakt zu fremden Kulturen führte in den europäischen Wissenschaften zu einer deutlichen Schärfung des Begriffes „Religion“ und der damit verbundenen Merkmale. Diese Festlegung ist jedoch künstlich, denn sie vermittelt den Eindruck, religiöse Äußerungen seien etwas Eigenständiges, vom Alltag Abtrennbares. Vermutlich werden die meisten Gläubigen, gleich welcher Tradition, dieser Ansicht widersprechen. Der Religionsbegriff – als Integration von Anschauungssystem, Ethik und Ritual[8] – ist lediglich hilfreich, um einen Oberbegriff für Glaubensdinge zu haben und andere weltanschauliche Systeme davon abzugrenzen.
Bei der Übertragung auf fremde Kulturen wird dieser Oberbegriff jedoch ad absurdum geführt, da seine festliegenden Unterbegriffe (etwa Gott, unsterbliche Seele, Himmel und Hölle, Offenbarung u. v. a.) zwangsläufig mit transportiert werden. So entsteht ein begriffliches Dilemma:
Aus der Perspektive der Fremden müssten die sogenannten „ethnischen Religionen“ nach einem Vorschlag der Ethnologin und Religionswissenschaftlerin Bettina E. Schmidt eher „[…] Systeme von Glaubensvorstellungen und Praktiken, die eine Bedeutung für eine bestimmte Gruppe, in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext haben.“[9] genannt werden.
In der englischen Sprache wird der Begriff als Ersatz für den in den 1970er Jahren von Andrew Walls von der Universität Aberdeen geprägten Begriff der primal religion und für den von seinem Schüler James Cox verwendeten Begriff indigenous religion seit den 1990er Jahren gebraucht.[10]
Abweichend vom deutschen Sprachgebrauch wird er im angelsächsischen Sprachraum auch für die Anhänger von Schriftreligionen verwendet, die in einer Ethnie oder Nation fest verankert sind wie z. B. Hindus oder Parsen. Die hier beschriebenen ethnischen Religionen werden im Englischen eher mit Begriffen wie tribal religion oder primal religion angesprochen, die jedoch oft als abwertend empfunden werden.[11] Der ebenfalls benutzte Begriff folk religion bezieht sich hingegen vor allem auf das Fehlen von komplexen Institutionalisierungsformen, Klerus und schriftlichen Überlieferungen eines Systems religiöser und nicht-religiöser Alltagspraktiken wie z. B. des chinesischen Volksglaubens oder auch der Cargo-Kulte.
Im Französischen werden die Begriffe réligion tribale (Stammesreligion), réligion traditionelle (mit Zusatz, z. B. africaine) und réligion ethnique fast synonym verwendet.
Im Spanischen wird hingegen religión étnica als Bezeichnung sowohl für ethnische Religionen als auch für ethnisch-religiöse Gruppen benutzt und dem Begriff der réligion universal gegenübergestellt.
Ethnisch-religiöse Gruppen haben jedoch mit schriftlosen Religionen nichts zu tun; es handelt sich dabei um Ethnien (zumeist Minderheiten), die sich insbesondere über ihre traditionelle Religion von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen (Beispiele: Zoroastrier, Drusen, Hui-Chinesen).
Das Problem der begrifflichen Abgrenzung wird auch daran deutlich, dass sich im 1998 gegründeten European Congress of Ethnic Religions (ECER) u. a. Hindus, aber auch Anhänger neopaganer Bewegungen organisieren.
„Es gibt etwas, das unser spirituelles Verstehen öffnet – selbst wenn wir nicht Gott anbeten – das ist die Natur.“
Es führt zwangsläufig zu Missverständnissen, wenn wir versuchen, sehr Fremdes in den religiösen Begriffen der eigenen Kultur oder Religion zu beschreiben. So führen etwa die Begriffe Gott und Natur oder auch der abgeleitete Begriff Naturreligion zu Vorstellungen, die in anderen Kulturen vollkommen unterschiedliche Bedeutungen haben. Der beste Weg ist die Verwendung der fremden Begriffe und der Versuch, ihre Bedeutung zu erklären. Die moderne Religionsethnologie untersucht vor allem individuelle religiöse Erfahrungen in ihrem sozialen, kulturellen und/oder historischen Zusammenhang, ohne sie „trennscharf“ einer bestimmten Religion zuzuordnen. Insbesondere bei den wandelbaren mündlich überlieferten Traditionen weichen die Aussagen verschiedener Anhänger so weit voneinander ab, dass es schon schwierig ist, sie unter dem Begriff einer bestimmten „Religion“ widerspruchsfrei zusammenzufassen. Noch weitergehende Abstraktionen durch Wissenschaftler wie etwa die Konzepte des Schamanismus oder Animismus, die das Gedankengut vollkommen unterschiedlicher Ethnien vereinheitlichen sollen, sind daher heute zumeist obsolet. Das soll allerdings nicht heißen, dass es keine unscharfen Übereinstimmungen oder indigenen Konzepte gäbe. Sie gehen nur weit über das hinaus, was Menschen europäischer Kulturen mit dem Begriff „Religion“ verbinden.[13]
Folgende Übereinstimmungen und Konzepte werden häufig genannt:
Die ethnischen Religionen sind im Allgemeinen auf einen relativ kleinen Kreis von Anhängern beschränkt, die sich durch eine gemeinsame Abstammung und/oder Kultur (Sprache, Geschichte, Subsistenzweise, Bräuche … und eben Religion) selbst als abgrenzbare Gruppe identifizieren und die meistens in einem eng begrenzten Siedlungsgebiet leben.[14] Ausnahmen nach der Größe sind Voodoo mit rund 60 Mio. Anhängern und einer weltweiten Verbreitung in etlichen Lokalgruppen und der Shintoismus Japans mit mindestens vier Millionen Anhängern.
Der Terminus „ethnisch“ umfasst wohlgemerkt nicht nur homogene Minderheiten oder Abstammungsgruppen, sondern ebenso heterogene Gruppen, die sich dennoch aufgrund bestimmter kultureller Gemeinsamkeiten zusammengehörig fühlen. So gehen etwa einige afrikanische Religionen oder die bemerkenswert einheitliche polynesische Religion weit über einzelne „Stammesgrenzen“ hinaus. Durch die sich beschleunigenden Migrationsbewegungen vor allem in Afrika kommt es zudem zu einem verstärkten Synkretismus von Elementen ethnischer Religionen; doch werden diese damit auch zu einem wichtigen Faktor sozialer Inklusion bzw. Exklusion.[15]
Das Merkmal, mit dem die ethnischen Religionen „per Definition“ von den Buchreligionen abgrenzt werden, ist ihre Schriftlosigkeit.[16] Die religiösen Traditionen werden seit alters her (aus westlicher Sicht) nur mündlich und über tradierte Ritualpraktiken weitergegeben. Dies schließt allerdings nicht aus, dass es aus der Perspektive fremder Ethnien eine Bewahrung religiöser Inhalte über verschiedenste Arten von Zeichen und Symbolen oder das „Lesen“ von natürlichen Objekten oder Artefakten gibt. Die scharfe Trennung zwischen Realität und Aufzeichnung (welcher Art auch immer) ist eine westliche Vorstellung. Das Fehlen von heiligen Schriften macht diese Religionen je nach der kollektiven Geschichte sowie der individuellen Auffassung der Menschen sehr wandelbar. Im Gegensatz zu religiösen Büchern – die zumindest den Schriftkundigen offenstehen –, wird das Wissen von den religiösen Spezialisten ethnischer Religionen oftmals geheim gehalten.[17] Während die statischen Texte der auf heiligen Schriften basierenden Religionen im Zuge des kulturellen Wandels immer wieder neu gedeutet und ggf. in einer säkularisierten Sprache formuliert werden müssen, da die Gläubigen sie sonst nicht mehr verstehen,[Anm. 3] müssen sich mündliche Überlieferungen dem Verständniswandel zwangsläufig kontinuierlich anpassen.
Einen Grenzfall bildet die germanische Religion. Aus der langen Zeit des Übergangs von der schriftlosen zur Schriftkultur von ca. 600 bis 1200 sind eine Reihe von rituellen Texten und Formeln mit magischer Bedeutung als Runentexte überliefert, die wohl nur für eine kleine Elite verständlich waren, aber innerhalb dieser in rudimentär schriftlicher Form tradiert wurden. Hinzu kommt die schriftliche Fixierung von mündlichen Überlieferungen während oder unmittelbar nach der Christianisierung. Obwohl es sich bei den Liedern der Älteren Edda um Mythen und nicht um sakrale Texte handelte, werden in anderen Quellen, so vor allem in der recht neutral über die heidnischen Bräuche berichtenden Snorra-Edda auch religiöse Rituale beschrieben, die im Alltag der christlichen Zeit nachwirkten. Ihr Fortleben in den Darstellungen wurde von Snorri als für Christen nicht ungefährlich empfunden. Das gilt wohl auch für die Präsentation der altgermanischen Götterwelt in den Mythen und Liedern der Älteren Edda. Die Entstehung und Überlieferung einer komplexen Kosmologie mit einer Chronologie der Ereignisse, wie sie in der Völuspá und in Gylfaginning dargestellt ist, hätte jedoch die Existenz einer entwickelten Schriftkultur zur Voraussetzung; entweder handelt es sich dabei um nachträgliche Systematisierungen oder es existieren – wie Andreas Heusler vermutete – tatsächlich ältere schriftliche Vorlagen, die verschollen sind.[18]
Eine Besonderheit kennzeichnet auch den Shintoismus. Aus dem 8. Jahrhundert, also der Zeit der Verbreitung des Buddhismus in Japan und des Übergangs von der chinesischen Schrift zu einer phonetischen Schreibweise des Japanischen mit chinesischen Buchstaben, stammen mit den Schriften Kojiki und Nihonshoki Sammlungen von Mythen, die zwar keine sakrale Bedeutung besaßen, aber doch die Fortexistenz der shintoistischen Tradition unterstützten. Erst nach der Meiji-Restauration 1868 wurden sie im Rahmen des Staats-Shintō kanonisiert.
Als weiteres Merkmal führt Hans-Jürgen Greschat das Fehlen von Religionsstiftern an. Unabhängig davon, ob die jeweiligen Weltentstehungsmythen einen Schöpfer enthalten oder nicht, beginnt die Geschichte aller ethnischer Religionen mit der Urzeit, in der die kosmische Ordnung entstand. Stifterpersönlichkeiten wie Moses, Jesus, Mohammed oder Buddha kommen offenbar nur auf, wenn diese ursprüngliche Balance durch einen verstärkten Wandel in sich „aufheizenden Kulturen“ zu wanken beginnt.[17] Die Rituale der ethnischen Religionen orientieren sich dementsprechend nicht am Leben eines Stifters, sondern meist am natürlichen Jahreskreislauf und am Mondkalender.
Im Gegensatz zu den missionierenden Universalreligionen kennen weder die großen Volksreligionen (Hinduismus, Daoismus, Jüdische Religion) noch die kleinen „Stammesreligionen“ einen (göttlichen) Auftrag zur Bekehrung Andersgläubiger. Mit der Geburt wird man in die Religion „hineingeboren“ und die jeweiligen religiösen Vorstellungen werden fast überall nur auf das eigene Volk bzw. die Kulturgruppe bezogen und nicht auf andere übertragen.[14] Mission ist somit ein fremder Gedanke.
Diese Einstellung begünstigt allerdings häufig den Einfluss von Weltreligionen, da fremde Glaubenssätze in der Regel respektiert und nicht als „Irr“- oder „Aberglaube“ aufgefasst werden.[17]
Funktionalistisch argumentierende Ethnologen wie Clifford Geertz betonen, dass ethnische Religionen vielfältige Funktionen erfüllen können und dafür völlig unterschiedliche symbolische Formen und Rituale entwickeln. Die lokalen Kulte unterliegen (wie schon die Stammesreligion der alten Griechen auf dem Weg zum olympischen Götterhimmel) oft einer funktionalen Differenzierung durch Hervorbringung immer neuer immanenter und transzendenter Wesenheiten. Diese helfen die Vorstellungen des Menschen vom Dasein und der Welt zu ordnen; sie motivieren die Menschen und unterstützen sie beim Versuch der Bearbeitung der Natur; sie integrieren die Gesellschaft und grenzen sie nach außen ab; aber mit zunehmender sozialer Differenzierung der Gesellschaft (im Übergangsbereich zur verschriftlichten „Hochreligion“) können sie auch der Herrschaftslegitimation dienen.
Die folgenden Kennzeichen stehen in der Diskussion und werden nicht von allen Fachleuten als Abgrenzungsmerkmale anerkannt. Sie werden etwa als zu stark verallgemeinert aufgefasst, als übertrieben hervorgehobene Facetten kritisiert oder sind ungeeignet, weil sie auch in nicht-ethnischen Religionen vorkommen.
Die Glaubensinhalte der meisten ethnischen Religionen werden durch zahlreiche Aspekte der natürlichen Umwelt symbolisiert, da das „Ziel“ dieser sogenannten „Naturreligionen“ auch die unmittelbare, positive Beeinflussung der natürlichen Bedingungen ist.[19][14] Das schließt nicht aus, dass gleichzeitig im heutigen Sinne „rationale“ Formen der Naturbeeinflussung angewandt werden; beide Formen sind äquivalent und werden nicht unterschieden. Das religiöse Repertoire spiegelt daher den unmittelbaren Lebensraum des Menschen sowie die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse seiner Anhänger wider und ist in diesem Zusammenhang eine „optimale Religionsform“. Dieses Abgrenzungsmerkmal äußert etwa Josef Franz Thiel in der Theologischen Realenzyklopädie.[4] Jahrtausendelang war der Glaube ein wesentlicher Faktor für die gemeinsame kulturelle Identität eines jeden Volkes.[20]
Alle sogenannten schriftlosen Kulturen betrieben ursprünglich traditionelle Subsistenzformen – wie Jagen, Fischen, Sammeln, Garten- oder Feldbau –, die eine direkte Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt und eine energieeffiziente und nachhaltige Anpassung erfordern, um gut und dauerhaft davon leben zu können.[21][22] Daher spielte die Bewahrung der Balance zwischen Mensch und Natur eine existentielle Rolle.[23] Dies führte im Laufe der Geschichte zu einem detaillierten traditionellen Wissen über die natürliche Ordnung und die „Rhythmen“ ihrer wiederkehrenden Abläufe sowie zu einem ständigen Abgleich zwischen dem Handeln und seinen Folgen: Die Natur bestimmte den „Takt“ des Lebens und die Religion diente zur Bewahrung der Balance,[24] indem sie den Menschen
Dieser Handlungsrahmen bestand zum einen aus der Heiligung von Naturerscheinungen – wie z. B. heilige Berge, Felsen, Wasserfälle, Quellen, Haine; Regen, Wind, Sonne, Mond; bestimmte Tiere oder Pflanzen – die entweder besonders mächtig erschienen (Wal, Elefant, Bär, Bäume u. Ä.) oder die für das Überleben existentiell waren (Bison, Lachs, Yams, Mais u. Ä.), sowie besonderen Naturprinzipien (Sexualität, Jahreszeiten).[25] Solche Objekte der Anbetung wurden personifiziert oder beseelt, indem ihnen eine menschenähnliche Seele, ein innewohnender Geist, eine übernatürliche Lebenskraft u. Ä. zugeschrieben wurden. Da sich dieser sogenannte Animismus in unterschiedlich starker Ausprägung und auf jeweils andere Objekte gerichtet in allen ethnischen Religionen findet, wird der Begriff Animismus ebenfalls umgangssprachlich und in der Theologie als Synonym für ethnische Religionen verwendet.[26] Er hat jedoch einen pejorativen Anklang und kann wegen seines Bezugs zur überholten Animismustheorie als Relikt evolutionistischer Sichtweisen aufgefasst werden.[27][28]
Der zweite Aspekt des moralischen Handlungsrahmens bestand in diversen sakral begründeten Tabus und rituellen Vorschriften zum Umgang mit der Umwelt. Sie sollten in erster Linie der Erhaltung der überlebenswichtigen Ressourcen dienen. Die Einhaltung solcher Normen führt automatisch zu einem wirksamen Naturschutz, der jedoch nicht als „altruistischer Ökozentrismus“ missverstanden werden darf, denn häufig dienen religiöse Kulte wie Jagdzauber oder Fruchtbarkeitsriten durchaus auch dazu, Macht über die nichtmenschliche Welt zu gewinnen.[29] Entscheidend ist der Grad der Frömmigkeit der Beteiligten – sprich: ihre Motivation zur Einhaltung der Normen –, die allerdings bei intakten lokalen Gemeinschaften als sehr hoch eingestuft werden kann.[30]
Die ursprünglich animistische Vorstellung der Allbeseeltheit der Natur wurde zum Teil auch auf die Objektwelt insgesamt übertragen. Die auch vom Shintoismus aufgenommene Idee der Belebtheit der Objektwelt ist z. B. noch im japanischen Volksglauben zu finden, wonach Gebrauchs- und Alltagsgegenstände und vor allem weggeworfene Dinge zum Leben erwachen und dann als Tsukumogami mehr oder weniger harmlose Verwirrung anrichten können. Dieser Glauben hat in einer ressourcenarmen Ökonomie wie der Japans eine evidente ökologische Funktion; zugleich hat er japanische Techniker zu kulturspezifischen Entwicklungen animiert (Tamagotchi, Pflege- und Unterhaltungsroboter) und zu deren gesellschaftlicher Akzeptanz geführt.[31]
Animismus (Allbeseeltheit) und Polytheismus (Vielgötterei) galten lange Zeit als das Abgrenzungsmerkmal der als „primitiv“ bewerteten Glaubenssysteme. Heute wird jedoch nicht mehr ignoriert, dass auch in den Weltreligionen diverse animistische und polytheistische Elemente aufzufinden sind. Aufgrund der abwertenden Konnotation, die seither mit den beiden Begrifflichkeiten verbunden ist, werden sie nur noch selten als grundsätzliche Kennzeichen der schriftlosen Religionen genannt. Der Ethnologe Klaus E. Müller hingegen hält die speziellen Formen ethnischer Geister- und Götterwelten nach wie vor für eindeutige Abgrenzungsmerkmale.[23]
Alle ethnischen Religionen kennen ein mannigfaltiges „Jenseits im Diesseits“, in dem diverse Götter, Urahnen, Freiseelen, Tier- oder Pflanzengeister, numinöse Kräfte, Dämonen u. v. m. vorkommen, die in allen möglichen Naturerscheinungen wohnen und für alles bedeutsame Geschehen verantwortlich sind.[32] Ihre jeweilige Bedeutung lässt sich allerdings nicht klassifizieren. Dennoch können einige gemeinsame Kennzeichen formuliert werden:[33]
Die Trennung von Religiösem und Profanem, Heiligem und Alltäglichem ist bei nicht missionierten, traditionell subsistenzwirtschaftlich lebenden Ethnien wesentlich unschärfer als in anderen Zivilisationen. Selbst in den seltenen Fällen, in denen ethnische Religionen einen strengen Dualismus von Diesseits und Jenseits ähnlich wie im Christentum, durchdringen religiöse Assoziationen jegliches Handeln: „Das Leben ist Religion“ und wird nicht vom Jenseitsglauben dominiert.[38][4]
Diese unscharfe Trennung zwischen Sakral- und Alltagssphäre liegt unter anderem daran, dass es in den traditionellen Religionen nur sehr selten und in begrenztem Umfang religiöse Organisationen gibt. Demnach existiert auch kein geistlicher Berufsstand.[39] Beamtete Priester kommen erst in komplexeren vorstaatlichen Gesellschaften vor. Hier sind es häufig Clan-Älteste, die auch Priesterfunktionen ausüben. Regelrechte „ethnischen Kirchen“ sind unbekannt, und auch die Existenz von diversen Geheimbünden bei indigenen Völkern, z. B. bei einigen Bantu-Stämmen, die meist mit dem Ahnenkult zu tun haben, rechtfertigt nicht eine Ausgrenzung aus der Gruppe der ethnischen Religionen.
Während die Universalreligionen großen Wert auf die Unveränderlichkeit ihrer Lehren (→ Orthodoxie) legen, könnte man auch die Unkonventionalität und Wandlungsfähigkeit der mündlich überlieferten Weltanschauungen, die keine festen Dogmen kennen und veränderten Lebensumständen flexibel angepasst werden (etwa nach Ina Wunn)[40], als Unterscheidungskriterium betrachten. Dies wird beispielsweise bei der Entwicklung der Religion der Ainu sichtbar. Diese Tatsache wird besonders deutlich, wenn man die schnelle und vielfältige Bildung synkretistischer Mischformen mit den Glaubenssätzen dominanter Mehrheitsgesellschaften betrachtet: Nahezu überall auf der Welt integrierten traditionelle Gesellschaften passende Elemente aus den missionierenden Weltreligionen problemlos in ihren eigenen Glaubenssysteme, statt sich tatsächlich bekehren zu lassen, wie es sich die Missionare gewünscht hätten (Beispiele sind etwa afrobrasilianische Religionen oder die Native American Church).[41]
Der indianische Politikwissenschaftler Vine Deloria junior hält hingegen die weitgehende „Zeitlosigkeit“ der ethnischen Religionen für das entscheidende Trennungskriterium: So spielt Zeit vorwiegend im Sinne immer wiederkehrender Jahreszyklen eine Rolle, die „Urzeit“ ist zumeist vage und ohne Chronologie; Ahnen und Kulturheroen werden vergegenwärtigt; göttliche Bestrafungen erfolgen unmittelbar und nicht erst beim „jüngsten Gericht“ in einer unbestimmten Zukunft; und Orte sind aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit heilig und nicht durch einen Bezug zu bestimmten historischen Ereignissen.
Greschat formulierte für die Theologische Realenzyklopädie: „Diese Aufgabe [Heil für die Gemeinschaft zu erwirken] wird als Verantwortung für den Fortbestand der urzeitlich geordneten Welt akzeptiert und lenkt die religiöse Aufmerksamkeit notwendigerweise auf die Gegenwart.“ Auch er führte dieses Zeitverständnis als Abgrenzungskriterium auf.[17]
Der evangelische Theologe Theo Sundermeier[42] hält die ethnischen Religionen für einen grundlegend anderen Typus als die Weltreligionen. Nach seiner Auffassung liegt der wesentliche Unterschied in der Ausrichtung: Das höchste Ziel der großen Glaubenssysteme – nach Sundermeier der sogenannten „Erlösungsreligionen“ – sei die individuelle Erlösung vom Bösen oder vom Leid des Daseins in einer zukünftigen, unsterblich-transzendenten Realität. Die ethnischen „Versöhnungsreligionen“ würden hingegen an erster Stelle versuchen, Frieden, Harmonie und die gegenwärtige Einheit der Gemeinschaft und der Welt zu erhalten und zu erneuern; sprich: die soziale, ökonomische und ökologische Realität im Diesseits zu stabilisieren und vor Schäden zu bewahren. Das Wohl des Einzelnen sei auf Gedeih und Verderb mit dem Wohl des Nächsten und der Gemeinschaft verbunden. In diesem altruistischen Gemeinwohl selbst läge der tiefere Sinn des „naturvölkischen“ Lebens – und nicht in der Vergeltung guter Taten durch höhere Mächte in einem späteren Leben. Das Jenseits müsse dem Menschen zu Lebzeiten dienen, es verspräche weder Lebenssinn noch Erlösung oder Erleuchtung. Gedanken an die Zeit nach dem Tod seien dort nicht auf die eigene Weiterexistenz gerichtet, sondern auf die Lebenszeit der nachfolgenden Generationen. In ähnlicher Weise äußert sich der Theologe Dietrich Zilleßen.[43]
Sundermeier ordnet neben allen buchlosen lokalen Religionen auch die historischen Religionen der alten Ägypter, Griechen, Römer, Kelten und Germanen, die fernöstlichen Religionen des Daoismus, den chinesischen Volksglauben sowie einige der hinduistisch- oder buddhistisch-synkretistischen „Mischreligionen“ Indiens und Südostasiens sowie schließlich die Jüdische Religion den Versöhnungsreligionen zu. Das Christentum sieht er zweigeteilt: Je nach lokaler Konfession sei es mehr Versöhnungsreligion (etwa die südamerikanische Befreiungstheologie oder die afroamerikanischen Glaubensgemeinschaften Nordamerikas) als Erlösungsreligion.
Es gibt einige Religionen, deren Zuordnung zu den ethnischen Religionen problematisch ist:
„Wir [die Ureinwohner] bezeichnen uns selbst weniger als Naturschützer denn als Menschen, die mit den Werten der Selbsterhaltung geboren sind. Wir registrieren die Warnsignale, die die Natur aussendet, Zeichen wie Klimaveränderung, Geschmack des Wassers und die traurigen Lieder der Vögel.“
Neben den Abgrenzungsmerkmalen, die ausschließlich ethnische Religionen kennzeichnen, gibt es noch einige weitere Gemeinsamkeiten, die von verschiedenen Autoren formuliert wurden. Sie sind nicht nur auf ethnische Religionen beschränkt und dienen daher nicht als Abgrenzungsmerkmale. Zudem finden sich relativ viele Ausnahmen. Das Hauptproblem ist eine Folge der enormen Vielfalt solcher Phänomene, so dass jede modellhafte Reduzierung zwangsläufig leicht kritisiert werden kann.[47] In den Massenmedien wird nicht selten der Eindruck geweckt, die größte Gemeinsamkeit im Denken der Ethnien, die nur eng begrenzte Ökosysteme nutzen sei ein spirituell begründeter Naturschutz. Obgleich die Erhaltung der Lebensgrundlagen bei den Gemeinsamkeiten eine zentrale Rolle spielt, ist dies eine stereotype Vereinfachung, die der Realität nicht gerecht wird, wie auch das einleitende Zitat belegt.
Bei einer differenzierten Betrachtung werden fünf solcher Gemeinsamkeiten in der Literatur relativ häufig formuliert:
Diese Kennzeichen gelten zwar weitestgehend für alle lokalen Religionen, allerdings in sehr unterschiedlichen Ausprägungen.
„Der erste Friede, der wichtigste, ist jener, der in die Seelen der Menschen einzieht, wenn sie ihre Verwandtschaft, ihr Einssein mit dem Weltall und allen seinen Mächten gewahren und inne werden, daß im Mittelpunkt des Weltalls Wakan-Tanka wohnt und diese Mitte tatsächlich überall ist; sie ist in jedem von uns. […]“
Über die Verehrung bestimmter Naturobjekte oder -phänomene hinaus besteht bei praktisch allen (vormals) traditionellen Gesellschaften eine enge spirituelle und emotional-verwandtschaftliche Bindung an ihren Lebensraum – „ihr“ Land –,[49] die einen unmittelbaren Zugang zum Religiösen vermittelt, der den Menschen der Industrienationen häufig unverständlich ist.[47][Anm. 4]
Die älteste Form der politisch-sozialen Organisation ist die herrschaftsfreie Akephalie, eine egalitäre Konsensdemokratie, die wiederum aus den engen verwandtschaftlichen Beziehungen früher Wildbeuter-Gruppen entstanden ist. Daraus resultiert die große Wertschätzung, die Verwandtschaftsverpflichtungen (biologisch, ehelich oder mythisch) und ihrer Erfüllung entgegengebracht wird. Der animistische Glaube an die Beseeltheit der Naturerscheinungen, die Allgegenwart komplexer ökologischer Verflechtungen und totemistisch oder spirituell begründete Verwandtschaften zu anderen Lebewesen wie etwa die Vorstellung eines Alter Ego dehnen das „familiäre Denken“ auf große Bereiche der Umwelt aus. In sogenannten „Naturreligionen“ hält sich der Mensch nicht für die Krone der Schöpfung; dort versteht er sich eher als „Bruder unter Geschwistern“.[17] Aby Warburg spricht in diesem Sinne in seiner Studie über den Schlangenkult der Pueblo-Indianer vom Totemismus als einer „Form des Darwinismus durch mythische Wahlverwandtschaft“, die blutige Tieropfer unnötig macht und die Form einer Interaktion zwischen Mensch und Tier annimmt.[50] Es handelt sich um eine mythologisch-psychologische Verwandtschaftsbeziehung als Vorstufe zur rationalen Welterklärung.
„Wenn jemand von uns stirbt, teilt sich seine Seele. Ein Teil bleibt im Land und verwandelt sich in einen Baum, der andere geht eine Zeit lang zur Bralgu-Insel. Die Geister kommen gelegentlich zum Festland. […]“
Vorstellungen der Verwandlung wie aus diesem Aborigine-Zitat bilden häufig die Grundlage für die psychomentale Kommunikation mit den „transzendenten Verwandten“ – mit Geistern, Dämonen, Engeln, Göttern, Ahnen usw.: Bekannt sind hier vor allem die schamanische Reise, der Trancetanz und die Visionssuche.[52] Bei unbeeinflussten ethnischen Religionen weiß jeder Angehörige, welche Objekte und Vorgänge verwandt und damit heilig sind, welche Tabus zu beachten sind, welche Rituale zur Aufrechterhaltung der kosmischen Harmonie notwendig sind und welche Folgen Verstöße gegen diese Normen auslösen sollen. Die Folgen glaubt man in Unfällen und Krankheiten zu erkennen, die grundsätzlich als Reaktion auf das Fehlverhalten von Menschen (mangelnde Achtung vor den Geistern, Verstöße gegen Regeln und Traditionen) oder das Wirken von Schadenzauber durch übelwollende Hexen oder Hexer interpretiert werden.[23][53]
Viel stärker als bei den sogenannten „Hochreligionen“ ist der Alltag traditioneller Menschen durchdrungen vom Glauben an solche übernatürlicher Mächte und Zauberkräfte.[52] Da der Übergang von menschlichen zu nichtmenschlichen „Personen“ in einer allbeseelten Welt fließend ist, spielt das Wirken des Übernatürlichen bei sehr vielen Völkern in allen Bereichen des Lebens eine Rolle, so dass Religion kein separater Bereich des Lebens ist, sondern das Leben selbst.[54]
Die Vorstellungen vom Übernatürlichen sind je nach Ethnie sehr unterschiedlich: Sie können wohltätig, hilfreich und stärkend für die ganze Gruppe oder den Einzelnen sein; aber auch arglistig, gefährlich und schwächend. Demnach haben jegliche Handlungen des naturrerligiösen Menschen – selbst Spiel, Kunst, Tanz oder Musik dienen nicht (nur) der Unterhaltung – immer irgendeinen spirituellen Bezug.[55][24]
Die „Schnittstelle“ zur Geisterwelt ist nach Klaus E. Müller ein zumindest zweigliedriges Seelenkonzept, bei dem zwischen Vitalseele und Freiseele unterschieden wird. Die Vitalseele ist mit dem Körper verbunden und dient der Aufrechterhaltung der Körperfunktionen. Sie wird vor allem in warmen und harten Körperteilen lokalisiert und ist wie der Körper selbst vergänglich. Die Freiseele ist hingegen unvergänglich, vom Körper ablösbar und hat damit die Eigenschaften eines Geistes, der nach dem Tod in vielen Kulturen als Ahnenseele ins Jenseits geht. Sie ist ursächlich für das Leben sowie alle mentalen Funktionen und kann sich im Schlaf, in Trance oder Drogenrausch, durch Schreck, Affekt oder schwere Krankheiten vom Körper lösen.[23]
Das „mystische Erlebnis“ – der notwendige direkte und persönliche Kontakt zu den höheren Mächten und die Fähigkeit, sie zu beeinflussen – setzt bei allen Ethnien eine besondere Gabe „von oben“ voraus. Welche Personen diese Gabe besitzen ist allerdings von Volk zu Volk unterschiedlich.[17]
„In jedem lebendigen Wesen wohnt ein kleiner Gott. Und weil wir alles, was lebt, anbeten, können wir auch nicht rücksichtslos mit dem umgehen, was uns die Natur gegeben hat.“
Bei Völkern, die keine Trennung von Alltag und Glaubensdingen, keinen festliegenden Kanon und keine Form „kirchlicher Organisation“ kennen, ist die Ausübung der Religion weitestgehend dem Einzelnen überlassen: Er kann frei entscheiden, in welcher Situation er welches Ritual durchführt – etwa zur Besänftigung der Geister getöteter Tiere wie bei den meisten Jägervölkern. Niemand überwacht dies; es gibt keine Unterscheidung von „wahrem“ und „falschem“ Glauben und Sünden wie Gotteslästerung oder Ketzerei sind unbekannt.[17] Stattdessen vertraut jeder ganz selbstverständlich darauf, dass sich alle Gruppenmitglieder freiwillig der Tradition und den geltenden Tabus unterwerfen.
Der wichtigste Ausgangspunkt für die ethnische Religiosität ist die unmittelbare Erfahrung des Transzendenten. Dazu stehen den Menschen neben dem Gebet und diversen Opferritualen je nach Tradition verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Weit verbreitete Praktiken sind Fasten, Träumen, absichtliche Isolation oder die Einnahme halluzinogener Substanzen, um visionäre Eindrücke zu erzeugen, die als Kontakt mit den numinosen Mächten betrachtet werden. Zudem vermitteln in nahezu allen lokalen Religionen diverse Geisterbeschwörer, Heiler, Zauberer, Seher o. Ä. – allesamt als Teilzeitspezialisten – zwischen dem Menschen und dem Jenseits.[25] Das heilige Wissen wird von diesen Spezialisten und/oder von all jenen weitergegeben (und ggf. verändert), die von sich behaupten, visionäre Erlebnisse gehabt zu haben. So besteht keine eindeutige Trennung zwischen Laien und religiösen Experten. Die Existenz solcher religiöser Spezialisten scheint bereits für das jungsteinzeitliche Südafrika archäologisch belegt zu sein.[56]
Der Zugang zur Religion ist meist pragmatisch: Man verehrt nur solche Kräfte, die helfen können und helfen wollen. Die Verehrung göttlicher Mächte allein um ihrer Größe oder Heiligkeit willen ist praktisch unbekannt. Auch kollektive Rituale werden nur selten „von oben“ angewiesen. Trotz der fehlenden Trennung von Alltag und Religion, der großen individuellen Hingabe und der vermuteten Allgegenwart jenseitiger Mächte, ist in der Regel keine Abkehr von der Realität zu beobachten und es gibt durchaus auch Gruppen, bei denen die Bedeutung spiritueller Tätigkeiten gering ist.[57]
„Irgendwann trafen die übernatürlichen Wesen auch auf die Stellen, an denen die unfertigen Menschenkinder lagen. Bei ihrem Anblick wurden sie von Mitleid gerührt, und sie beschlossen, die Menschen zu erlösen. Sie trennten sie voneinander und öffneten ihre Sinnesorgane, so daß sie wahrnehmen und sich entwickeln konnten. Dann lehren sie sie, im Einklang mit den Ahnen auf der Erde zu leben und Zeremonien, Gesänge sowie Magie zu beherrschen.“
Die Kontinuität in der Biosphäre wird vor allem durch die permanente Wiederholung diverser Kreisläufe deutlich. Diese Tatsache findet sich in allen ethnischen Religionen in der ein oder anderen Form wieder. Sehr eindrücklich ist dies bei der Traumzeit der Aborigines, die mit Hilfe verschiedener Rituale den von ihnen empfundene gegenseitigen Austausch von Urzeit und Gegenwart aufrechterhalten. Vielfach geht diese Vorstellung bis hin zu einer angenommenen ewigen Wiederkehr der Welt, ähnlich der Samsara-Vorstellung in Hinduismus und Buddhismus: Ein endgültiges Weltende ist unbekannt, nach der Zerstörung entsteht automatisch wieder eine neue Welt. Wo eine lineare, auf ein endgültiges Weltende gerichteter Geschichtsablauf auftaucht, liegt stets ein Einfluss der christlichen[58] oder islamischen Mission vor.
Die religiösen Strategien zu den ewigen Kreisläufen resultieren aus dem bereits beschriebenen emotionalen Verwandtschaftsgefühl: Konkret basieren sie auf der Projektion der menschlichen Lebenszyklen – Geburt-Kindheit-Altern-Tod-(Wiedergeburt), Tag-Nacht-Rhythmus, Jahreszeiten usw. – auf die gesamte Welt, die dann in ebenso regelmäßig wiederkehrenden kollektiven Riten (vor allem Übergangsriten)[32] und individuellen Ritualen geheiligt werden. Die strikte Wiederholung soll die Menschen mit den natürlichen Zyklen in Gleichklang bringen und hat auf diese Weise Anteil an der ewigen, göttlichen Existenz des Kosmos.[59]
Veränderungen, die nicht den Kreisläufen entsprechen, wurden von traditionellen Menschen als Bedrohung des kosmischen Gleichgewichts aufgefasst, so dass viele „naturreligiöse“ Völker Strategien entwickelt haben, den Status quo des Lebens möglichst unverändert zu bewahren. Claude Lévi-Strauss prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „kalten Kulturen“. Ganz anders bei den „Völkern, die in der Geschichte leben“, bei denen Fortschritt und Veränderung mit unbekanntem Ziel oberste Priorität haben.[59][60]
„Alles war im Gleichgewicht: unsere Gebete, unsere Rituale, unsere Ahnen, die Natur. Wir wußten immer schon, daß sich alles ändern wird, wenn das Gleichgewicht zerbrechen würde. Deshalb war es notwendig, daß unsere Gebete und Rituale ungestört blieben. Dann kamen die christlichen Weißen vor 90 Jahren. Von da an begann sich alles zu verändern. […] Unsere Glaubensvorstellungen veränderten sich, unsere Bräuche wandelten sich, und seither ändert sich auch die Natur. […]“
Anstelle der in den Hochreligionen vorhandenen feststehenden Lehren sorgen die mündlich überlieferten Mythen und der damit verknüpfte Kult in den ethnischen Religionen für die Weitergabe und Erhaltung des Glaubens und der damit verbundenen Wertvorstellungen.[4] Sie sind weit mehr als Gleichnisse oder Märchen, sondern bilden das kollektive kulturelle Gedächtnis und das religiöse Symbolsystem[47] traditioneller Völker. Die Vorstellung einer engen Verknüpfung von Mensch und Kosmos, die nur durch die Einhaltung des Kultes aufrechterhalten werden konnte (wie sie im einleitenden Zitat von den Salomonen deutlich wird), fand sich früher praktisch bei allen naturnah lebenden Ethnien. Die starke Gebundenheit an die Mythen und die übermächtigen, teils menschlichen, teils animalischen Ahnengestalten, die darin vorkommen, sind demnach charakteristisch.[25][39] In der Regel sind es bildhafte Erzählungen aus einer (nicht historisch fassbaren) Urzeit, als die Kommunikation zwischen Menschen und anderen Wesen (Tiere, Geister, Gottheiten) normal war. Besonders deutlich wird dies bei der Traumzeit der australischen Aborigines. Auch wenn die Mythen inhaltlich oft unzusammenhängend, unklar und teilweise gar widersprüchlich erscheinen, stellen sie die damit aufgewachsenen Menschen, ihre Umwelt und die letztendlich unbegreifliche Realität in einen engmaschig verknüpften Sinnzusammenhang.[39] „Kennzeichnend für die Mythen der Naturreligionen ist, dass selbst geringste Details der Lebenswelt aufgegriffen und in Bezug auf die Handlungen der mythischen Ahnen gedeutet werden. Jeder Baum, jede Wasserstelle, jeder Clanname, selbst der Platz eines Hauses im Dorf hat seine religiöse Entsprechung im Mythos.“[62] Zusammen mit den daraus abgeleiteten Kulthandlungen entfalten die ethnischen Religionen ihre psychosoziale Wirkung (etwa als Welterklärung, Motivationsgrundlage oder zur Stärkung der Solidarität).
Diese Kulthandlungen sind überaus vielfältig; drehen sich jedoch bei allen Ethnien unter anderem
Kultische Handlungen bestehen nahezu überall aus individuellen und kollektiven Ritualen. Letztere finden ihren Ausdruck häufig in Musik (etwa im samischen Joik) und im Tanz. Überdies ist das Ritual des Opferns in irgendeiner Form bei sehr vielen Ethnien bekannt; wenn auch nicht bei allen.[4]
Bei den ethnischen Totenkulten lässt sich zudem feststellen, dass sie im äußeren Ablauf und hinsichtlich ihres Sinngehaltes überall auf der Welt in die drei Stadien: Separation (Loslösung vom Verstorbenen), liminale Phase (eigenschaftsloser Zwischenzustand) und Integration (Wiedergeburt, Aufnahme ins Totenreich, Geistwerdung u. ä.) gegliedert sind. Ziele sind immer das Ausleben der Trauer für den Einzelnen und der Schutz vor Instabilität der Gemeinschaft, die durch den Verlust von Menschen entstehen kann.[63]
„In der Kleingesellschaft ist das Religiöse in der Tat das ‚Unausweichliche‘. Die Religion stellt sich im Kultus dar, sie bestimmt die Ethik der Gruppe und des einzelnen und hat ihr Gegenüber im Heiligen, wie immer es auch benannt und verstanden wird.“
Es wurden bereits viele Versuche unternommen, eine klassifizierende Religionstypologie zu erstellen. Für die ethnischen Religionen – beziehungsweise für die Gesamtheit aller Religionen – ist das nach heutigen Maßstäben noch nicht überzeugend gelungen.[65]
Nach Ina Wunns Die Evolution der Religionen[66] sind heutige Modelle z. T. noch zu stark von den teleologischen, wertend-evolutionistischen Auffassungen des 19. Jahrhunderts (und seiner imperialistischen Ideologie) geprägt, die eine stufenweise, zielorientierte Höherentwicklung der Religionen von einer primitiven kulturellen „Urstufe“ bis zu einer hochentwickelten Stufe annahm.[67] Wunn setzt an die Stelle dieses Evolutionsmodells ein neues Stammbaum-Modell, analog zum Evolutionsmodell in der Biologie, aus dem heraus die Entwicklung der Religionen besser verstanden werden soll, führt dieses jedoch ausdrücklich selber nicht systematisch durch.[68]
Die enorme Vielfalt der ethnischen Religionen ist sehr schwer zu kategorisieren; nicht zuletzt wegen des unzureichenden ethnographischen Ausgangsmaterials.[69][70] Detaillierte Stammbäume mit einer daraus resultierenden Systematik, die nach modernen wissenschaftlichen Standards angefertigt wurden, gibt es bislang erst für sehr wenige traditionelle Religionen (etwa für die indischen).[65]
Hilfsweise wird heute meistens eine geographische Klassifikation (die Religionen Nordamerikas, Sibiriens, Polynesiens usw.) verwendet, die naturgemäß nur sehr bedingte Rückschlüsse auf die Verwandtschaftsbeziehungen zulässt.[71]
Zwei häufig zitierte Typologien, die ohne Abwertungen und überzogene Analogismen auskommen, sind die Einteilungen nach Kultpraxis und sozioökologischen Rahmenbedingungen, die im Folgenden erläutert werden und deren Ergebnisse sich überdies gut ergänzen.
(Die Beschreibung suggeriert klare Abgrenzungen zwischen den Typen. Bitte beachten Sie, dass es sich dabei tatsächlich um sehr stark idealisierende Modelle handelt: In der Realität gibt es mindestens ebenso viele Mischformen wie idealtypische Formen und die Grenzen zwischen den Kategorien sind extrem vereinfacht!)
Der kanadisch-amerikanische Anthropologe Anthony F. C. Wallace legte 1966 eine viergeteilte Typologie der Religionen nach der Kultpraxis vor (Kulte und Rituale zeichnen sich durch eine große Langlebigkeit und geringe Veränderlichkeit aus, so dass sie sich gut für kulturvergleichende Untersuchungen eignen).[72][73] Wallace sieht einen Zusammenhang zwischen der Organisationsform und Technologie einer Ethnie und der Art und Weise ihrer kultischen Handlungen („cult institutions“). Seine Ergebnisse wurden 2007 von Roberts und Sanderson (durch Abgleich mit einer Analyse von Murdock und White über 186 präindustrielle Gemeinschaften) grundsätzlich bestätigt und weiter verfeinert.[74][75][76]
Die im Folgenden dargestellten Typen bauen aufeinander auf: Das heißt, in Gesellschaften, die olympische Kulte praktizieren, kommen ebenso kommunale, schamanische und individuelle Kulte vor und so fort.
Schamanischer Religionstyp
Die einfachste Kultform sind individuelle Rituale, die von jeder Person jederzeit und überall vorgenommen werden können (beispielsweise Gebet, kleine Opfergaben oder Visionssuche). Wallace nennt keine Religion, in der nur solche Rituale durchgeführt werden. Die „nächsthöhere“ Kultform sind Riten, die von speziell ausgebildeten Geisterbeschwörern (von ihm verallgemeinernd Schamanen genannt) auf Wunsch einer Person, einer Familie oder einer Gemeinschaft mit einem konkreten Ziel (Krankheit heilen, Jagdtiere heranführen, Seelen Toter geleiten, Wetter beeinflussen, Unheil abwenden usw.) durchgeführt werden. Ethnische Religionen, in denen individuelle und schamanische Kulte vorhanden sind, fasst Wallace zum „schamanischen Religionstyp“ zusammen.[Anm. 5]
Anhänger des schamanischen Religionstyps sind stark naturgebunden und verehren Götter und Geister, die sich direkt (als jeweilige Ursache der Dinge) in den Naturerscheinungen offenbaren (Animismus). Er kommt in Gesellschaften vor, die zu 63 % vorrangig vom Jagen und Sammeln leben, zu 83 % als Stammesgesellschaften organisiert sind und zu 90 % keine eigene Schrift haben.
Sanderson sieht den Erfolg dieser Religionen in der Krankenheilung und vor allem in der Angstreduktion innerhalb der Gemeinschaft.
Kommunaler Religionstyp
Bei dieser Kultform handelt es sich um die Riten, die gemeinsam von den Mitgliedern einer Gruppe abgehalten werden (etwa Initiationsriten, religiös inspirierte Tanzzeremonien, Opferzeremonien usw.). Viele dieser Zeremonien orientieren sich an kalendarischen Zyklen. Ethnien, die neben den individuellen und schamanischen Kulten auch noch gemeinsame Riten kennen, bezeichnet Wallace als „kommunalen“ oder „kollektiven Religionstyp“.
Bei diesem Typ kommt zum animistischen Glauben vor allem der Ahnenkult hinzu. 52 % der Anhänger kommunaler Religionstypen leben vom Feldbau, sie sind zu 52 % in Stammesgesellschaften und zu 31 % in Häuptlingstümern organisiert und besitzen zu 81 % keine Schrift.
Sanderson sieht den wichtigsten Erfolgsgrund für diese traditionellen Religionen im Ahnenkult als wichtigem Sozialfaktor für den Zusammenhalt der komplexer strukturierten Gesellschaften.
Olympischer Religionstyp
Finden sich in einer Religion auch Kulte, die wohl organisiert und häufig standardisiert von einem Vollzeit-Spezialisten (Priester) vor und mit der Gemeinschaft vollzogen werden (in Ethnoreligionen hauptsächlich Opferungen), spricht Wallace vom „olympischen“ oder auch „ekklesiastischen Religionstyp“ (nach Roberts und Sanderson „polytheistischer Typ“).
Kennzeichnend für den olympischen Typ ist, dass eine große Zahl menschenähnlich gedachter (guter und böser, intelligenter und dummer) Götter in einem Pantheon wohnen, die jeweils spezielle Funktionen erfüllen und von denen einige durch bestimmte Heiligtümer (Tempel, Schreine, Idole usw.) repräsentiert werden. Olympische Religionen kommen in Gesellschaften vor, die zu 50 % von Landwechselwirtschaft oder traditionellem Ackerbau und zu 42 % von Gartenbau leben. Die Menschen leben zu 33 % in segmentären Gesellschaften, zu 25 % in Häuptlings- bzw. Fürstentümern und zu 42 % in eigenen Staaten. 66 % der olympischen Religionen sind schriftlos.
Nach Sanderson beschäftigen sich diese Systeme – die sowohl bei ethnischen als auch bei den großen östlichen Religionen vorkommen – auch mit Fragen nach dem Sinn des Lebens.
Monotheistischer Religionstyp
Mit dem monotheistischen Typ durchbricht Wallace das Prinzip der Kultpraxis, denn bis auf das größere Spektrum der Kulte entsprechen sie dem olympischen Typ (so dass sie streng genommen keine eigene Kategorie sind).
Überdies verwenden Wallace und auch Sanderson und Roberts[77] eine sehr weite Definition des Monotheismus, die neben den eigentlichen abrahamitischen „Ein-Gott-Religionen“ auch den Hinduismus (Vishnu und Shiva als Manifestation eines göttlichen Prinzips), Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus (Buddha, Laozi und Konfuzius als gottgleiche Persönlichkeiten) einbezieht.
Dieser Religionstyp (der alle Weltreligionen umfasst) kommt zu 78 % in Agrarkulturen und zu 19 % in viehhütenden Gesellschaften vor. Sie sind politisch zu 60 % in Staaten organisiert und haben zu 87 % eine Schrift. Ethnische Religionen gehören nicht in diese Kategorie.
Die zweite Typologie der Religionen, die mangels einer evolutionären Stammbaum-Klassifikation häufig herangezogen wird, ist eine Einteilung nach den prägenden Umweltfaktoren und den daraus hervorgegangenen Lebensweisen.[78] Sicher ist einerseits, dass Gesellschaft und (ethnische) Religion immer nur in engster Symbiose anzutreffen sind;[79] und das andererseits eine gleichartige „religiöse Umwelt“ – gemeint ist an erster Stelle die konkrete Nutzung der naturräumlichen Gegebenheiten, aber auch die soziale Organisation, Wirtschaftsfaktoren, Technologie und die politische Konstellation – häufig zu relativ ähnlichen Vorstellungen führt. Daraus folgt, dass sich Religionen rasch verändern, sobald sich die Umweltbedingungen ändern. Die Art des Wandels ist insofern gerichtet und reagiert direkt auf die durch die Umweltveränderung ausgelösten religiösen Bedürfnisse.[80] So verliert etwa ein Jagdgott seinen Sinn, wenn eine Gruppe – etwa durch den Einfluss der westlichen Zivilisation – zu sesshaftem Ackerbau übergeht.[4]
Dieser Zusammenhang erklärt, warum die Religion eskimoischer Meeresjäger, die Fischer- und Jägerreligion der nordamerikanischen Nordwestküste oder die Agrarreligion der Irokesen relativ ähnliche „Gegenstücke“ in anderen Erdteilen haben, obwohl keine gemeinsame Abstammung besteht.[81] Diese Art der Anschauung bildet zudem die Grundlage des Forschungsansatzes Religionsökologie.
Die Betonung des Adjektives relativ in Bezug auf die Ähnlichkeiten weist auf die Schwachstellen dieser Typologie hin:
Folgende Kategorien werden unterschieden:
Religionen der nomadischen oder halbnomadischen Jäger, Fischer und Sammler
Hier herrscht fast immer ein animistischer Geisterglaube vor:[83] Praktisch alle Naturerscheinungen gelten als beseelt bzw. von Geistern bewohnt. Häufig wird eine mythisch-verwandtschaftliche Verbindung zu Tieren, aber auch zu Pflanzen, Bergen, Quellen u. v. m. – den sogenannten Totems – hergestellt, denen als Symbole eine wichtige Bedeutung für die Identitätsfindung zukommt – entweder im Sinne eines profanen Gruppenabzeichens oder eines geheiligten Sinnbildes. Zentral ist möglicherweise die Vorstellung einer natürlichen Ordnung, die vor allem darin besteht, das bestimmte Lebewesen das „Eigentum“ bestimmter höherer Wesen sind, die als Herr oder Herrin der Tiere bezeichnet werden.[84] Aus der Verwandtschaft zu den anderen Wesen oder der Angst vor Racheakten der „Eigentümer“ werden oftmals Nahrungs- und Jagdtabus sowie Vergebungsrituale hergeleitet, die zum Teil eine wichtige Funktion für die Erhaltung der Ressourcen haben.[83] Kultische Handlungen bestehen zum Beispiel in Tierpantomimen, rituellen Verwandlungen in Tiere oder Beschwörungsriten vor Jagdzügen.[85] Die Geister sind – bis auf das höchste Wesen – gleichrangig und reflektieren damit die egalitäre Sozialstruktur der Jägervölker.
(Die Informationen zu den Wildbeutern sind in der Gegenwartsform geschrieben, obgleich es nahezu keine einzige Gruppe mehr gibt, deren Religion nicht bereits stark fragmentiert ist.)
Religionen der halbsesshaften oder temporär sesshaften Pflanzer, Jäger und Fischer
Bei den Garten- und Wanderfeldbauern – die Knollengewächse wie Maniok und Yams oder verschiedene Gemüsearten anbauen sowie zusätzlich jagen und fischen – gesellt sich zur animistischen Geisterwelt die Verehrung von umfassenden numinosen Mächten oder Gottheiten. Sie sind häufig nicht eindeutig menschengestaltig, sondern werden stattdessen eher als „vereinheitlichte Seelensumme“ verschiedener Naturphänomene aufgefasst – etwa als Weltseele oder Mutter Erde –, stehen aber grundsätzlich über den Geistern. Die Entstehung von Baum- und Knollenfrüchten wird auf Erdgottheiten zurückgeführt.[86] In einigen Pflanzerkulturen Amerikas und Südostasiens besteht der Glaube an Zusammenhänge ähnlich der Dema-Gottheiten Neuguineas, aus deren getöteten Körpern die neuen Feldfrüchte entstehen.[87] Der Wandel zur landwirtschaftlichen Produktionsweise spiegelt sich auch deutlich in den Urzeitmythen wider: Oftmals wird deren Ende und der Beginn des heutigen Daseins mit einem dramatischen Ereignis in Verbindung gebracht. Sexualität, Heirat und Tod haben in diesen Religionen eine vorrangige Bedeutung.[88] So spielt der Ahnenkult, der bei den Wildbeutern nur ansatzweise vorkommt, bei manchen einfachen Pflanzern eine wesentlich größere Rolle. Neben den individuellen und schamanischen Kulten gibt es auch religiöse Handlungen auf kollektiver Ebene[89] (etwa die Riten von religiösen Geheimbünden). Sie bekräftigen den Zusammenhalt der Gruppe, die stärker als bei Wildbeutern auf speziellen Kenntnissen und Fähigkeiten Einzelner beruht. Religiöse Tabus und totemistische „Verwandtschaftsstrukturen“ sind wie bei den Wildbeutern häufig.
Religionen der langjährig sesshaften Feld- und Ackerbauern
Diese Religionen sind fast immer polytheistisch und die Vielzahl der Gottheiten und Geistwesen wird – als Spiegelbild des größeren menschlichen Selbstverständnisses als schaffende „Kulturwesen“ und komplexer, hierarchischer Sozialstrukturen – oft menschenähnlich beschrieben. Fast immer existiert demnach ein Hauptgott, der den anderen überlegen ist.[89] Hingegen ist ein animistischer Allbeseeltheitsglaube meistens kaum vorhanden. Bei den Völkern, die die Erde als Quelle allen Lebens verehren, steht sie noch mehr als bei den Pflanzern im Mittelpunkt der Verehrung;[78] häufig in Gestalt einer anthropomorphen Erdgöttin,[87] die für die Fruchtbarkeit der Felder zuständig sind. Die Erkenntnis, dass ein erfolgreicher, langjährig flächentreuer Bodenbau von ausgeglichenen Wetterbedingungen abhängig ist, brachte den Glauben an Himmelsgötter hervor, die – je nach den lokalen Verhältnissen – als Sonnen- oder Wettergott verehrt werden. Wenngleich die Bedeutung der „Erdmutter“ zumeist größer ist, besteht nicht selten die Idee eines „Weltelternpaares“ aus Himmels- und Erdgottheit. Im Glauben zahlreicher Feldbauern spielt zudem das Feuer – häufig mit weiblichen Eigenschaften ausgestattet oder mit einer Göttin verbunden – eine besondere Rolle. Ebenfalls finden sich zahlreiche Gesellschaften, bei denen separate Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttinen eine dominierende Rolle spielen.[90] Totemgruppen finden sich auch noch bei Bodenbauern; Tabuvorschriften sind jedoch weniger bedeutungsvoll. Der Ahnenkult mit regelmäßiger und dauerhafter Totenverehrung – der im Hinblick auf die Sesshaftigkeit der statischen Bindung der Toten an den Boden entgegenkommt – ist weit verbreitet.[91] In diesen Gesellschaften treten auch hauptberufliche religiöse Funktionäre (Priester) auf, die die organisierten Kulthandlungen koordinieren.[89]
Religionen der nomadischen oder halbnomadischen Viehhirten
Bei den nomadischen oder halbnomadischen Hirtenvölkern, die in Gebieten leben, die für den Pflanzenanbau zu trocken sind, wohnt der höchste Gott – als Gebieter des lebensspendenden Regens – fast immer im Himmel.[87][92] Gottesnamen und -vorstellungen werden häufig mit dem Himmel oder der Sonne assoziiert.[78] Die meisten dieser Religionen sind polytheistisch, einige (insbesondere in Afrika[93] und auf der Arabischen Halbinsel) monotheistisch – allerdings immer neben animistischen Naturgeistern ähnlich der Wildbeuter. Durch die mobile Lebensweise ist der Ahnenkult meist wenig ausgeprägt und da nichts angebaut wird, haben auch Erdgottheiten nur geringe Bedeutung. Stattdessen haben die jeweiligen Nutztiere in den Hirtenreligionen (sowie bei den jägerischen Reiterkulturen) immer eine besonders wichtige religiöse Bedeutung.[76] Da die meisten Nomaden seit jeher zusätzlich Handel mit Bodenbauern treiben, um sich mit pflanzlicher Nahrung zu versorgen, kam es zu etlichen Kontakten mit deren Religionen. Dies hatte oftmals Einfluss auf die eigenen Glaubensvorstellungen und Kulte und erklärt etwa den starken Einfluss von Islam und Buddhismus auf die zentralasiatischen Schamanenreligionen.[94] Wie bei den einfachen Pflanzern werden hauptsächlich individuelle, schamanische und kollektive Kulte ausgeführt. Da diese Menschen in fragilen Ökosystemen leben, gibt es zahlreiche religiös belegte Tabus. Totemistische Gruppen kommen hingegen selten vor, weil keine Abhängigkeit von Wildtieren besteht – und damit keine gefühlte verwandtschaftliche Bindung zu ihnen notwendig ist. Nomadische Hirtenkulturen sind fast ausnahmslos patriarchalisch organisiert: Wie die Frau von jeher mit der Pflanze zu tun hatte, so der Mann mit dem Tier. In Hirtenkulturen sind Frauen oft von religiösen Funktionen ausgeschlossen oder dürfen manchmal nichts mit dem Vieh zu tun haben.
Religionen komplexer sesshafter Kulturen
Völker, die im Zuge der Entwicklung zu Stadtkulturen – fast immer verbunden mit einer expansiven Ausdehnung ihres Einflussbereiches – von verschiedenen Wirtschaftsweisen leben (Pflanzen- u./o. Tierproduktion sowie Handwerk, Gewerbe und Handel) und die in diesem Zusammenhang eine vielschichtige Sozialstruktur benötigen, haben entweder komplexe Götterwelten[87] oder einen eindeutigen Monotheismus. Die differenzierte Arbeitsteilung und die häufigere Auseinandersetzung mit kulturellen Dingen (im Vergleich zum unmittelbaren Umweltbezug der Jäger, Bauern und Hirten) lässt die Natur – und mit ihr die Geistervorstellungen sowie totemistische Gruppenbildung – in den Hintergrund treten. Stattdessen sind die Gottesideen viel abstrakter und „entrückter“. Hier lebt der Mensch nicht mehr „auf gleicher Ebene“ mit den ihn umgebenden Mächten. Die unerreichbaren Götter und die Religion sind etwas vom Alltag Getrenntes; spirituelle Bedürfnisse können nur mit Hilfe spezialisierter Vermittler nach fest vorgeschriebenen Ritualen befriedigt werden. Gleichsam ist häufig eine Säkularisierung („Verweltlichung“) zu beobachten;[89] der Einzelne wird zum Gläubigen; der kollektive „Zwang“ zur „angeborenen“ ethnischen Religion ist kaum noch ausgeprägt. Die Entstehung der sozialen Ordnung wird überirdischen Mächten zugeschrieben; die Abstammung der Clangruppen häufig auf mythische Ahnen zurückgeführt.[95] Nahezu überall verbreitet war in historisch-ethnischen Religionen dieses Typs eine zentrale Sonnengottheit, die die Leben spendende und alles erhaltende Kraft der Sonne repräsentierte. Mond-, Meer- und Wettergottheiten kamen ebenfalls häufig vor. Statt einfacher Tabuvorschriften gibt es zumeist komplizierte Gebote. Die religiösen Spezialisten sind hauptberuflich tätig und in der Regel gehören die Priester zur Staatsbürokratie; es gibt daher keine Trennung zwischen Kirche und Staat (→ Theokratie).[89]
Zu diesen Religionen zählen vor allem die Buchreligionen, die jedoch nicht zu den ethnischen Religionen gehören; zudem die nicht-schriftlichen komplexen Religionen der historischen Reiche in Amerika (Maya, Azteken u. a. in Mittelamerika → Chronologie des präkolumbischen Mesoamerika; Sicán, Inka u. a. in Südamerika → Liste historischer Staaten in Amerika)[96] und Subsahara-Afrika (Antike/Frühmittelalter: Reiche von Ghana, Kanem, Hausastaaten; Neuzeit: Kongo, Lunda, Luba u. a.), deren komplexe Strukturen in der Kolonialzeit zerstört wurden.
Irgendwann in der Urgeschichte entstand die Religiosität des Menschen (universale Ehrfurcht vor der transzendenten Ganzheit der Welt). Ob es sich dabei um eine genetisch fixierte Veranlagung handelt, die evolutionäre Vorteile bietet, ist umstritten (→ „Gottesgen“). Sicher ist jedoch, dass es keine rezente Menschengruppe ohne eine Religion gab.[4]
Die unmittelbare religiöse Naturverehrung und wahrscheinlich auch animistische Vorstellungen sind die ältesten religiösen Äußerungen der Menschheit. Bereits Funde von den Jägerkulturen der jüngeren Altsteinzeit (etwa Venusstatuetten, Opferplätze und Höhlenmalereien) weisen vermutlich religiöse Symbole auf; die Rekonstruktion „paläolitischer Religionen“ ist allerdings höchst spekulativ.[97] Dies offenbart sich bereits an der Tatsache, dass die biologischen und kulturellen Nachfahren der Schöpfer prähistorischer Kunstwerke (etwa die Aborigines Australiens oder die San Südafrikas) nicht in der Lage sind, die dargestellten Symbole eindeutig zu deuten.[95]
Für das beginnende Neolithikum hingegen kann man bereits mit Sicherheit von bestimmten ethnischen Religionen sprechen. Zugleich wurde der Naturzyklus zunehmend personifiziert. Dies gilt besonders für die sogenannte Muttergöttin oder Magna Mater.[98] Auch Tierdarstellungen spielen eine wichtige Rolle, wobei die Abbildung von als Fleischlieferanten weniger bedeutenden Tieren darauf hinweist, dass ihre Darstellung mit abstrakteren, von ihrer Nahrungsfunktion oder vom Jagdzauber losgelösten Sinninhalten besetzt ist. So findet sich die Frau-Stier-Symbolik in verschiedenen Varianten in Südosteuropa und Anatolien. Dabei handelt es sich jedoch um keinen raumübergreifenden Kult.[99]
Verhaltenwissenschaftlich orientierte Forscher gehen davon aus, dass die Bereitschaft zu Kooperation, Vertrauen und Fairness gegenüber Anhängern der eigenen religiösen Gruppe (nicht aber anderen Gruppen gegenüber) größer ist, wenn die Angehörigen dieser Gruppe eine gemeinsame kognitive Repräsentation eines all- oder vielwissenden, strafenden oder belohnenden übernatürlichen Wesens besitzen. Für Religionen aller Art – für schriftlose wie für Schriftreligionen – gilt dabei, dass sich Strafvorstellungen als weitaus verhaltenswirksamer erweisen als Belohnungserwartungen.[100]
Einschneidende Veränderungen erfolgen in der Bronzezeit: Mit zunehmender sozialer Differenzierung und wirtschaftlicher Konsolidierung bildet sich eine Priesterkaste heraus; analog zur Stärkung der Rolle der Familie innerhalb des Sippenverbandes entwickelt sich der olympische Religionstyp mit seinen komplizierten Verwandtschafts- und Rivalitätsbeziehungen zwischen personifizierten Gottheiten. Auch der Jenseitskult wird aufwändiger, die Grabbeigaben werden zahlreicher, und Menschenopfer sind nicht selten.
Seither haben sich die Religionen in vielfältiger Weise entwickelt: Neue Lebensbedingungen, konkrete spirituelle Erlebnisse Einzelner, einschneidende historische Ereignisse, Erfahrungen mit Drogen (die religiös gedeutet wurden), Kontakte zu andersgläubigen Völkern, zum Teil auch Manipulationen im Interesse von Machterhaltung oder -gewinnung, aber vor allem der Prozess der mündlichen Weitergabe über viele Generationen haben die historisch-ethnischen Religionen unweigerlich verändert. Es wird daher kaum möglich sein, auch nur Teile dieser komplexen Prozesse genau zu rekonstruieren. Sicher ist lediglich, dass die sogenannten schriftlosen Religionen prinzipiell einen starken Gegenwartsbezug haben und keine „konservierten“ Urreligionen sind.[32]
Die abwertend als „heidnisch“ bezeichneten ethnischen Religionen Europas und des Nahen Ostens sind schon vom Altertum (Beispiel: Religion der Beduinen durch die Verbreitung des Judentums) bis ins späte Frühmittelalter (Beispiele: Zwangstaufe der Sachsen durch Karl den Großen, Christianisierung Skandinaviens, Islamisierung Zentralasiens) dem „göttlichen Bekehrungsauftrag“ der Universalreligionen zum Opfer gefallen. Wo Christentum oder Islam von der davon profitierenden herrschenden Klasse mit Gewalt durchgesetzt wurde, dauerte es noch Jahrhunderte, bis die heidnischen Elemente soweit aus der Volksfrömmigkeit getilgt waren (weiterhin auch mit Gewalt: siehe etwa Hexenverfolgung oder Zwangsislamisierung im Osmanischen Reich), dass sie von den Kirchen und islamischen Institutionen nicht mehr als Gefahr für den „reinen Glauben“ gesehen wurden.
Die verbliebenen Spuren heidnischer Ideen im christlichen Europa erkennt man vor allem in abergläubischen Vorstellungen und regionalen Bräuchen (wie etwa der alemannischen Fastnacht, dem schwedischen Luciafest oder den Mutter-Erde-Ritualen im christlich-orthodoxen Volksglauben der Slawen). Je später die Christianisierung stattfand, desto mehr ethnisch-religiöse Spuren sind zu finden – beispielsweise die Konsultation des „Táltos“ (eine Art Schamane) in Ungarn[101] oder der Glaube an die „Babas“ (Heilerinnen und Seherinnen) aus Bulgarien.[102]
Weitaus friedlicher verlief die Verbreitung des Buddhismus in Zentral- und Südostasien – vor allem, da er (von wenigen Ausnahmen abgesehen)[103] mit keiner politischen Expansion verknüpft war.[104] Hier entstanden vielerorts Mischsysteme: Die lokalen Religionen erkannten die buddhistische Philosophie als „Dach“ an und der buddhistische Klerus integrierte seinerseits die ethnischen Götterwelten und Zeremonien geschickt als „Basement“ in sein Denkgebäude (besonders gut zu erkennen ist dies etwa in der tibetischen Bön-Religion).
Der Hinduismus wird bisweilen als die größte ethnische Religion der Welt bezeichnet, da er aus einer langsamen Verschmelzung, Verschriftlichung und Systematisierung der vielfältigen Lokalreligionen des Subkontinentes – ohne Zäsur durch eine Stifterperson – entstanden ist und ausschließlich Inder betrifft[105] (Ausnahme Hinduismus auf Bali, wurde eingeführt durch Siedler aus Südindien). Einige Religionen der Adivasi (traditionelle, eigenständige Ethnien Indiens) können jedoch trotz der deutlich hinduistischen Einwirkung auch heute noch als lokale Religionen bezeichnet werden.[106]
Im Einflussbereich Chinas kam es bei der Ausbreitung der beiden Stifterreligionen Daoismus und Konfuzianismus sowie des aus Indien importierten Buddhismus – die zusammen als die „Drei Lehren“ bezeichnet werden – von Anfang an zu einer friedlichen Koexistenz der alten und neuen Religionen, die auf diese Weise den enormen religiösen Pluralismus der chinesischen Volksreligiosität begründeten.[107]
Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in Japan bei der Ankunft des Buddhismus, der bis heute – ohne nennenswerte gegenseitige Beeinflussung – neben der alten ethnischen Shinto-Religion existiert.[108]
Über die Religionsentwicklung in den anderen Teilen der Erde während dieser Zeit lässt sich mangels fehlender Aufzeichnungen nur sehr wenig sagen.
Die Zeit der Entdeckung der Welt durch die Europäer läutete den Beginn des Kolonialismus ein, in dessen Verlauf die traditionellen Weltanschauungen in mannigfaltiger Weise massiv beeinflusst wurden. In Lateinamerika erschienen zuerst die spanischen und portugiesischen Eroberer, die ihre gewalttätige Herrschaftsübernahme offiziell als „göttlichen Auftrag“ legitimierten. Ihnen folgten in ganz Amerika im 16. und 17. Jahrhundert katholische Missionare. In Afrika und Ozeanien gerieten die lokalen Religionen besonders ab dem 18. Jahrhundert unter Druck; zuletzt die australischen Aborigines ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei ergänzten sich die Kolonialherren – durch Besiedlungspläne und militärische Aktionen – sowie die Missionare verschiedener christlicher Konfessionen gegenseitig. Später zerrütteten die westliche Technologie und wissenschaftliche Erkenntnisse die traditionellen Weltbilder. Trotz alledem konnten sich viele lokale Religionen bis heute behaupten – dank ihrer enormen Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit oftmals in einem neuen „Gewand“.[32]
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Kritik an der Ausbreitung der modernen Kultur und des abendländischen Christentums sowie am allgemeinen Materialismus deutlich zu. Die Missachtung der natürlichen Kreisläufe, der elementaren menschlichen Bedürfnisse und des Immateriellen hat heute die ganze Welt in Gefahr gebracht. Eine Rückkehr zu traditionellen Werten, ein wachsendes Selbstbewusstsein, zunehmende Unabhängigkeit und ein Wechsel in der Politik der Regierungen führten in manchen indigenen Gruppen zum Aufleben alter Kulte. Stammesvölker sammeln sich wieder um ihre Kulte, rufen verdrängte Lehren in Erinnerung, erneuern alte Formen und hoffen auf einen Neuanfang.[109]
Erste Berichte über die Glaubenspraxis fremder Völker erreichten das christliche Abendland im Zeitalter der Entdeckungen. Trotz der rasanten europäischen Expansion wurden in den ersten Jahrhunderten nur Bruchstücke der fremden Religionen bekannt, da das Interesse der Invasoren in dieser Hinsicht gering war. Zudem verfälschten die Berichterstatter oftmals die realen Verhältnisse, indem sie ihre subjektiven Eindrücke im Vergleich mit der christlich-europäischen Tradition bewerteten – die sie für die einzig zivilisierte Sichtweise hielten. Häufig wurden daher besonders fremdartige Phänomene (ritueller Kannibalismus, Menschenopfer, bildhafte Götterdarstellungen usw.) über alle Maßen hervorgehoben. Gottesfürchtige Missionare bemitleideten die fremde Frömmigkeit als „Geisterfurcht“. Ihr spirituelles Handeln nannte man „Magie“, „Animismus“ oder „Fetischismus“ – und nicht Religion. Als der religiöse Charakter nach den ersten Forschungsergebnissen nicht mehr zu leugnen war, entstand der Begriff „Naturreligion“, der die ethnischen Religionen den anderen – sogenannten – „Kulturreligionen“ gegenüberstellte.[17]
Bis dahin kamen jedoch noch tausenden von Forschungsreisenden, Abenteurern, Kaufleuten und Missionaren in die Kolonien. Sie hatten noch keinerlei Vorstellung von modernem wissenschaftlichen Arbeiten und verbreiteten daher weiterhin verzerrte ethnographischen Aufzeichnungen.[20][110] Entweder waren die Glaubenssätze bereits durch Kontakte mit dem Christentum verfälscht, ohne dass der Ethnograph dies bemerkte; oder die indigenen Begriffe und Vorstellungen wurden vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens falsch aufgefasst und übersetzt.[111] Zum Teil führten auch bestimmte Erwartungen dazu: Etwa der Gedanke, die verlorenen Stämme Israels gefunden zu haben[112] oder angebliche Bestätigungen der Schöpfungsgeschichte und ähnliches.[113]
Bedingt durch die im 19. Jahrhundert evolutionistisch geprägten Modelle der Menschheitsentwicklung und die Vorbehalte gegen die sogenannten heidnischen Religionen, wurden sie als primitive Weltanschauungen auf die unterste Stufe der Entwicklungsleiter gestellt.[4] Diese vorurteilsbehaftete Sichtweise entstand – wie bereits beschrieben – vor allem durch falsche Interpretationen. So wurden etwa visionäre Erfahrungen, Träume oder Trance-Zustände bei den nordamerikanischen Ureinwohnern von den Kommentatoren aufgrund ihrer Exotik viel zu stark hervorgehoben. Tatsächlich waren „normale Wacherfahrungen“ in den nordamerikanischen Religionen fast überall genauso wichtig.[54] Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts hat die Religionswissenschaft und Ethnologie das negative und wertende Bild der ethnischen Religionen endgültig abgelegt.
Die verfälschten Aufzeichnungen ergaben vor dem evolutionistischen Hintergrund weitreichend verallgemeinerte Schlussfolgerungen, die nach heutigem Kenntnisstand jedoch in dieser chronologischen Abfolge überholt sind: Man ging davon aus, der „primitive“ Mensch habe zuerst an eine Beseeltheit aller Naturerscheinungen geglaubt (Animismus), um sich das Weltgeschehen zu erklären. Später sei daraus die Anbetung verschiedener Götter (Polytheismus) entstanden, bis schließlich der Glaube an einen einzigen Gott (Monotheismus) bei den „Kulturvölkern“ daraus hervorgegangen sein soll.[114]
Verschiedene religiös verhaftete Phänomene wie „Animismus“ oder „Totemismus“ wurden damals zu universellen, homolog aus einer Urreligion entstandenen Weltanschauungen erklärt. In diesem Zusammenhang stehen auch einige religiös-spirituelle Schamanismus-Konzepte: Aus den vielfältigen Formen von Geisterbeschwörern in den unterschiedlichsten Kulturen wurde aufgrund einiger ähnlicher Praktiken auf ein weltweit verbreitetes, einheitliches spirituelles Phänomen geschlossen – obwohl es sich tatsächlich um unabhängige, analoge Entwicklungen mit jeweils eigenem Sinnzusammenhang handelt.[115] Während Ethnologie und Religionswissenschaft seit den 1990er Jahren von solch universellen Modellen abgerückt sind,[116] hatte die Idee eines globalen „ethnischen Schamanismus“ nachhaltigen Einfluss auf die esoterische Szene und führte zur Entstehung des Neoschamanismus, dessen verzerrte Grundannahmen sich in populären Schriften hartnäckig halten und vervielfältigen.[117]
Tatsächlich sind lokale Religionen nicht mehr und nicht weniger schlüssig, plausibel und komplex wie die Buchreligionen. Sie bedingen lediglich andere Vorannahmen für ihre Schlussfolgerungen, wie etwa die Allbeseeltheit der Natur. Ganz im Gegensatz zu den genannten Vorurteilen muss davon ausgegangen werden, dass Menschen, die sich tagtäglich mit einfachster Technologie in einer „unbarmherzigen Umwelt“ bewähren müssen, vernünftiges Denken und Handeln eine überlebenswichtige Rolle spielt.[54] Es gibt auch keine „primitivere Mentalität“ oder „magisch-vorreligiöse Ahnungen“, sondern nur andersartige Wahrnehmungen der Wirklichkeit.[118][119] Hinzu kommt, dass auch diese Kulturen auf eine lange Geschichte zurückblicken und sich nach wie vor weiterentwickeln, so dass es angesichts der nur mündlichen Überlieferung höchst spekulativ ist, daraus die Anfänge der Religion rekonstruieren zu wollen, wie es schon häufig versucht wurde.[120] Ethnische Religionen sind keine „geistesgeschichtlichen Überbleibsel aus der Frühzeit der menschlichen Entwicklung.“[95], sondern sie haben sich ganz im Gegenteil besonders erfolgreich gegen ihre „Mitbewerber“ durchsetzen können.[121]
Selbst wenn alle vorgenannten „Irrwege“ bei der Interpretation einer ethnischen Religion vermieden werden, ist aufgrund der enormen kulturellen Unterschiede zur westlichen Welt nicht sicher, „daß sie auch wirklich […] verstanden wird“, wie der Ethnologe Christian Feest in seinem Buch „Beseelte Welten“ am Beispiel der ausführlich beschriebenen Weltbilder der Pueblovölker und Navajos schreibt.[54]
Schlussendlich führen auch romantisierende Vorstellungen vom „edlen Wilden“ zu verzerrten Vorstellungen. Die Historikerin Christine Lockwood sagte etwa zur Religion der australischen Aborigines des 19. Jahrhunderts:
„Den Aborigines ihren Glauben zu lassen, bedeutet zum Beispiel zu akzeptieren, Geister für Krankheit und Tod verantwortlich zu machen. Wenn jemand stirbt, ist das die Folge von Zauberei. Und sofort wird – mit Hilfe von Ritualen – ein Schuldiger ausgemacht. Wohnt der vermeintliche Täter im Nachbardorf, ziehen die Männer los und töten ihn. Klar, dass dieser Mord wiederum Vergeltungsmaßnahmen des Nachbarstammes provoziert. […]. Die Aborigines lebten in permanentem Schrecken vor der Welt der Geister. Das Christentum nimmt die Angst und befreit vom Aberglauben. Wir tendieren heute dazu, die Religion der Ureinwohner zu romantisieren – und übersehen dabei die Furcht und Gewalt, die damit einhergingen.“[122]
Trotz der offensichtlich bestehenden Problematik zeichnet Lockwoods hier wiederum eine einseitige christliche Perspektive, die ebenfalls von verschiedener Seite anders aufgefasst wird. So schreibt etwa der Religionswissenschaftler Thomas Schweer im Gegenteil: „Trotz ihrer Wirkungsmacht erwecken die Geister nicht das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, die Dämonenfurcht ist kein Charakteristikum der Naturreligionen. Es existieren vielfältige Mittel und Methoden, um böse Geister abzuwehren.“[123]
Die große Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der ethnischen Religionen hat dazu geführt, dass sich ihre heutigen Formen deutlich von prähistorischen Formen unterscheiden. Daher werden sie von den Wissenschaften „jünger“ eingestuft als die Buchreligionen. Abgesehen von den wenigen isolierten Völkern in den unzugänglichen Regenwäldern Südamerikas, Südostasiens und Neuguineas und einer Handvoll Ethnien, die ihre Kultur trotz der Kontakte mit der modernen Welt strikt bewahren wollen, sind alle sogenannten schriftlosen Religionen heute einem beschleunigten Wandel unterworfen. Mit mehr oder weniger Elementen der Weltreligionen vermischt sind sie noch in entlegenen Gebieten Nordkanadas, Sibiriens und Australiens, in großen Teilen Schwarzafrikas, Indiens sowie in den Bergländern Südostasiens und Indonesiens anzutreffen.
Während früher alle Menschen einer Ethnie einen gemeinsamen Glauben teilten, herrscht gegenwärtig häufig ein religiöser Pluralismus: Einige Menschen sind gänzlich zu einer neuen Religion konvertiert, andere sprechen synkretistischen Formen zu; andere bleiben dem traditionellen Glauben treu.[54] Insgesamt existieren noch tausende ethnischer Religionen[3] in 141 Staaten der Erde. Damit sind sie die am weitesten verbreiteten Glaubenssysteme. Ihre offizielle Anhängerschaft macht jedoch weltweit nur noch rund vier Prozent der Weltbevölkerung aus. Inoffiziell werden es weitaus mehr sein, denn es ist eine große Dunkelziffer anzunehmen: Aufgrund der jahrhundertealten Erfahrungen mit Unterdrückung und Zwangsmissionierung, weil in vielen Staaten nur sogenannte „Hochreligionen“ anerkannt werden und Andersdenkende auch heute noch vielerorts Repressalien befürchten müssen, bekennen sich viele Menschen äußerlich zu einer anderen Religion und üben ihren wahren Glauben im Geheimen aus.[39] Nach den laufenden Erhebungen des evangelikal-fundamentalistisch ausgerichteten Bekehrungsnetzwerkes Joshua Project bekannten sich 2016 offiziell noch 3,75 Prozent der Menschheit zu lokalen, ethnischen Religionen. Werden alle Ethnien, bei denen keine solchen Religionen mehr existieren, herausgerechnet, liegt die Quote bei 16,1 Prozent (bezogen auf gut 1,5 Mrd. Menschen).[124]
Die sogenannten „Stammesreligionen“ werden in vielen Staaten der dritten Welt immer noch als „primitiv und unterentwickelt“ stigmatisiert, zumal die herrschende Klasse dieser Länder in der Regel nach christlichen, islamischen oder kommunistischen Vorlagen ausgebildet wurde. In den Schwellenländern ist die Situation noch ungünstiger, da traditionell lebende Gruppen hier meist als entwicklungshemmend gelten: Entweder werden sie offensiv unterdrückt oder die Errichtung moderner technischer und sozialer Infrastruktur zerstört automatisch das alte Weltbild – und mit ihm die Religion.
Eine ambivalente und nicht unerhebliche Rolle spielt heute auch der Tourismus: Während die Vermarktung interner Rituale als Showattraktion dazu führen kann, dass ihre tiefere Bedeutung verloren geht und sie zur bloßen Folklore verkommen, macht das Interesse der Weltöffentlichkeit die ethnischen Religionen sowohl zu einem Wirtschaftsfaktor als auch zu einem schützenswerten Kulturgut.
Während die meisten traditionellen Ethnien weltweit ihrer alten Vorstellungen mit Glaubenssätzen und Kulten der dominanten Weltreligion vermischen (Synkretismus) oder mit einem vielfältigen religiösen Nebeneinander (Pluralismus) auf den „Druck der Neuzeit“ reagieren, gibt es einige Bewegungen, die man vorsichtig als → „Neo-ethnische Religionen“ bezeichnen kann.
Nach wie vor sind fundamentalistische Organisationen im Namen Gottes oder Allahs bestrebt, auch noch die letzten „Heiden“ oder „Kāfir“ zu bekehren – selbst wenn es (wie etwa in Brasilien) verboten ist. So hat beispielsweise das evangelikale Joshua Project ein internetgestütztes Netzwerk aufgebaut, um u. a. mit Hilfe eines Jesus-Films in allen möglichen Sprachen zu missionieren. Die „Erfolge“ tausender Unterstützer weltweit werden in einer Datenbank veröffentlicht und mit einer visuellen „Bekehrungsampel“ bewertet, um zu weiteren Anstrengungen zu motivieren.[125] Die Annahme einer fremden Religion trennt die Menschen gedanklich von ihrer gewohnten Lebensweise und untergräbt damit die traditionellen Wertvorstellungen und Normen. Die vormalige Funktion der Religion als „identitätsstiftendes Bindeglied“ zwischen dem Menschen, seiner spezifischen Wirtschaftsweise und der natürlichen Umwelt, geht verloren.
Staatliche Entwicklungspolitik und Maßnahmen privater Organisationen berücksichtigen oft nicht die religiösen Bedürfnisse und Werte der Betroffenen (beispielsweise durch die Hinzuziehung von Religionsethnologen), sondern orientieren sich ausschließlich an (durchaus gut gemeinten) wirtschaftlichen und sozialen Überlegungen. Dabei wird – zumeist aus Unkenntnis – übersehen, welche negativen sozialen Auswirkungen zum Beispiel der Verstoß gegen uralte Tabus oder die Missachtung heiliger Stätten haben kann.[126] Menschen, in deren Weltbild materielle Dinge, kausale Zusammenhänge oder streng rationale Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle spielen, beurteilen vieles vollkommen anders als Angehörige der „Globalkultur“: So führen beispielsweise Entschädigungszahlungen für die Zerstörung heiliger Stätten oder die Umsiedlung in eine fruchtbarere Gegend, nicht automatisch zu einer nachträglichen Akzeptanz des Frevels – und es führt auch nicht unbedingt zu besseren Lebensbedingungen, wenn etwa im ursprünglichen, kargen Wohngebiet die Ahnen wohnen und nur dort mit ihnen kommuniziert werden kann.
Zahlreiche Stimmen gegenwärtiger Ureinwohner aller Kontinente berichten nicht nur über negative materielle Entwicklungen wie Zunahme der Armut oder Zerstörung der Umwelt, sondern fast überall wird auch Bezug genommen auf eine fortschreitende religiöse Entwurzelung, die nicht minder schwer wiegt.[127][128][129]
Auch die große Anpassungsfähigkeit der ethnischen Religionen wird ihren rapiden Verfall und den Wandel vieler zu „fragmentarischen Folklorereligionen ohne komplexe Vernetzung mit der Lebenswirklichkeit“ durch die zunehmende Assimilation an die Lebensweise des modernen „Biosphären-Menschen“ wohl kaum verhindern.[126]
Einige neue religiöse Bewegungen und Revitalisierungsbestrebungen erfüllen aufgrund verschiedener Kennzeichen (zum Teil Bezug zu mehreren Ethnien, teilweise Verschriftlichung, unterbrochene Entwicklung u. a.) nicht die enge Definition einer ethnischen Religion, obwohl viele andere Merkmale (→ Abschnitt: „Weitere mögliche Merkmale zur Abgrenzung“ und Kapitel: „Weitgehende Gemeinsamkeiten“) – trotz fremder Einflüsse – eindeutig zutreffen und die Angehörigen sich ausdrücklich auf überlieferte Traditionen beziehen. Vor allem jedoch stehen sie in engem Zusammenhang mit der Bildung und Festigung neuer ethnischer Identitäten, die unter anderem durch gemeinsame religiöse Vorstellungen neu begründet werden. Sie werden von einigen Autoren als „Neo-ethnische Religionen“ (oder ähnlich) bezeichnet.[130][131]
Der junge Begriff Neo-Ethnizität geht über den Bezug zu sogenannten „Naturreligionen“ hinaus und wird vor allem im Zusammenhang mit der Konstituierung neuer ethnisch-religiöser Gruppen verwendet: So benutzt etwa der Politikwissenschaftler Olivier Roy diesen Begriff in Zusammenhang mit dem Streben junger Moslems (oder auch der Mormonen) nach einer „erneuerten, gemeinsamen Grundlage“, indem sie ihre Religion in einer eigenen, auf ihren Vorstellungen beruhenden Art und Weise neu auslegen.[132]
In Nord- und Südamerika ist seit dem 19. Jahrhundert eine panindianische Entwicklung im Gang: Traditionalisten verschiedener Stämme formieren eine zweite ethnische Identität als „Indianer“.[133] Auf diese Weise wandelt sich der ehemals fremde Sammelbegriff zur Eigenbezeichnung einer „neuen“ Kultur. Vor allem die Native American Church und die „Mother-Earth-Philosophie“ kennzeichnen ihren religiösen Zusammenhalt. (Hier zeigt sich wieder die Offenheit der ethnischen Religionen für die Integration neuer Gedanken).[134]
Religiöse Erneuerungsbewegungen innerhalb traditioneller Ethnien finden sich vor allem in Russland und Australien, seit die Repressalien gegen die indigenen Völker eingestellt wurden. Dabei werden in Sibirien im Rahmen einer prinzipiellen Erneuerung traditioneller Vorstellungen und aufgrund verlorengegangenen Wissens häufig Rituale verschiedener Völker vermischt. Diese Entwicklung wird von einigen Fachleuten kritisch gesehen, denn nicht selten mischen sich Einflüsse der esoterischen Szene mit ein, die durch Kontakte mit westlichen neureligiösen Gruppen Eingang in die Glaubenssysteme finden und diese erheblich verfälschen würden.[135]
Eine besonders stark religiös motivierte Entwicklung besteht unter den Nachkommen der schwarzafrikanischen Sklaven in Mittel- und Südamerika, die aufgrund ihrer Vorgeschichte seit vielen Generationen keine eigene „Stammeszugehörigkeit“ mehr haben. Vor allem mit den afroamerikanischen Religionen können sie ihre neue, eigenständige Identität ausdrücken und sich von der Kultur der „Weißen“ abgrenzen.[132] Dass Herkunft und Hautfarbe bei der Bildung solch „neuer Ethnien“ keine Rolle spielen muss, belegt die Tatsache, dass etwa die Umbanda-Religion auch viele weiße Anhänger hat.
Auch die neuheidnischen Bewegungen Europas, die versuchen, sich eng an die (zumeist wenigen, fragmentarischen) Aufzeichnungen und volksreligiösen Überlieferungen aus den verschiedenen vorchristlichen Religionen zu halten und die keine fremden Einflüsse (etwa sibirischer oder indianischer Praktiken) zulassen, können in die Kategorie der neo-ethnischen Religionen einsortiert werden.
In Europa gibt es außer dem „klassischen Schamanismus“ der Nenzen Nordwestrusslands – der noch in synkretistischer Form erhalten ist[136] – sowie der Überreste der Mari-Religion in Westrussland keine ethnische Religion mehr, die eine ununterbrochene Tradition vorweisen kann. Alle Religionen, die sich auf heidnische Wurzeln berufen, werden prinzipiell dem Neuheidentum zugerechnet, da sie auf (zumeist unsicheren) Rekonstruktionen beruhen und vielfach Elemente von fremden Religionen synkretistisch integriert haben. Überdies sind sie zumeist nicht an eine Ethnie gebunden und die Motivation ihrer Anhänger wird häufig eher mit alternativen Lebensstilen und Zivilisationskritik in Verbindung gebracht, als mit gelebter Religion.[137] In einigen Fällen sind sie mit politisch-nationalen Ideologien assoziiert (wie etwa in der Ukraine „Die Gemeinde der ukrainischen Heiligen“, „Die Versammlung der Gläubigen der Volksreligion der Ukraine“ oder auch die „Rodove Vognysche Ridnoyi Prvoslavnoyi Viry“), die gegenüber den religiösen Inhalten überwiegen.[138]
Dennoch lassen sich bei einer differenzierteren Betrachtung einige wenige Bewegungen an der Peripherie des Kontinents finden, die zumindest auf eine ungebrochene folkloristische Traditionen und/oder schriftliche Überlieferungen zurückgreifen können, die sich vor allem an die tatsächlichen Nachkommen ihrer ethnischen Geschichte wenden und die bemüht sind, die Religion möglichst authentisch wiederzubeleben. Auch diese Glaubensrichtungen werden bisweilen als neo-ethnische Religionen bezeichnet:[139]
Jede Wissenschaft ist zum einen auf korrekte Ausgangsdaten und zum anderen auf unvoreingenommene Forscher angewiesen. Die westliche Religionsethnologie leidet zum Teil bis heute unter verfälschten Daten, die von christlich geprägten Forschern (häufig Missionaren) aufgezeichnet und zum Teil bereits durch irreführende Übersetzungen und Ähnliches entsprechend interpretiert wurden. Überdies ist die Vergleichbarkeit der Daten durch die uneinheitlichen Vorgehensweisen der frühen Forscher eingeschränkt.[111]
Die meisten „Sackgassen“ beruhen jedoch vielmehr auf eurozentrischen Versuchen der Vereinheitlichung, bei denen analoge Entwicklungen (Ähnlichkeiten aufgrund gleichartiger Bedingungen) mit homologen (Ähnlichkeiten aufgrund gemeinsamer Abstammung) gleichgesetzt wurden.[119]
Folgende Theorien wurden in diesem Kontext mittlerweile wieder verworfen: