Anschaulich lässt sich die Evolvente als Fadenlinie darstellen: Ein flacher Körper, dessen eine Seitenfläche die Form der Ausgangskurve hat, wird auf ein Blatt Papier gelegt. Über die Ausgangskurve ist ein dünner Faden gewickelt und straff gespannt. Am äußeren Ende des Fadens wird ein Stift befestigt, dessen Spitze auf dem Papier aufliegt. Dann wird der Faden langsam von der Kurve abgewickelt, wobei er stets straff gehalten wird. Die Kurve, die auf dem Papier entsteht, ist eine Evolvente.
Da der Faden anfangs eine beliebige Länge haben kann, gibt es zu jeder Kurve unendlich viele Evolventen, die alle parallel zueinander verlaufen, das heißt: Sind zwei Evolventen gegeben, so ist jede Normale der einen auch Normale der anderen, und alle diese Normalen sind zwischen den beiden Evolventen gleich lang. Jede Normale einer Evolvente ist also Normale aller Evolventen.
Die Normalen der Evolventen sind einfach die Tangenten der gegebenen Kurve. Diese ist Hüllkurve (Enveloppe) der Evolventennormalen.
Meist ist mit Evolvente die Kreisevolvente gemeint; dies ist jedoch nur ein Spezialfall der allgemeinen Evolvente.
Beschreibt eine reguläre Kurve in der euklidischen Ebene, deren Krümmung nirgends 0 ist, und ist , so ist die zugehörige Kurve mit der Parameterdarstellung
eine Evolvente der gegebenen Kurve.
Das Integral beschreibt die akute Länge des abgewickelten Fadens der Kurve in dem Intervall und der Vektor davor ist der Tangenteneinheitsvektor. Addiert man zu dem Integral eine beliebige, aber feste Zahl , so erhält man eine Evolvente mit einem um längeren Faden. Also: Nicht nur mit dem Parameter kann man die Fadenlänge und damit die Evolventen variieren, sondern auch durch Addition einer Zahl zu dem Integral (s. Beispiel Neilsche Parabel).
Um Eigenschaften einer regulären Kurve herzuleiten, ist es vorteilhaft, die Bogenlänge der gegebenen Kurve als Parameter zu verwenden. Denn dann gilt und , wobei die Krümmung und die Einheitsnormale ist. Für die Evolvente ergibt sich:
und
Hieraus folgt:
Die Evolvente ist im Punkt nicht regulär (es ist ),
und aus folgt:
Die Normale der Evolvente im Punkt ist Tangente der gegebenen Kurve im Punkt und
die Evolventen sind parallele Kurven, da und die Einheitsnormale in ist.
Die letzte Eigenschaft legt die folgende Strategie zur Bestimmung der Evolventen einer Kurve nahe:
Verwende eine Parameterdarstellung der gegebenen Kurve, die eine möglichst einfache Stammfunktion des zu lösenden Integrals zulässt.
Überlege, für welchen Anfangsparameter und/oder welche Fadenverlängerung das Integral einfach wird.
Findet man auf diese Weise eine einfach zu beschreibende Evolvente, so ergeben sich alle Evolventen als Parallelkurven davon.
Für den Kreis mit der Parameterdarstellung ist
und damit . Das Integral hat den Wert . Also sind die Gleichungen der Evolvente:
In der Zeichnung sind die Evolventen für (grün), (rot), (magenta) und (cyan) gezeichnet. Die Evolventen sind ähnlich einer archimedischen Spirale, sie sind aber keine.
Die Evolute einer gegebenen Kurve besteht aus den Krümmungsmittelpunkten von . Die Verbindung zwischen Evolute und Evolvente besteht in folgendem Zusammenhang:[1][2]
Jede Kurve ist die Evolute jeder ihrer Evolventen.
Wegen dieser Wechselbeziehung wird die Evolvente zuweilen auch Involute genannt.
In der Technik hat die Evolvente besonders bei der Konstruktion von Zahnrädern und Zahnstangen eine große Bedeutung. Bei der häufig angewandten Evolventenverzahnung ist der Querschnitt einer Zahnflanke Teil einer Kreisevolvente. Dadurch wird gewährleistet, dass sich im Eingriff stehende Zähne entlang einer geraden Eingriffslinie (der Tangente an die Grundkreise) berühren. Die Evolventenform ist dabei einfacher zu fertigen als die ebenfalls verwendete Zykloidenform der Zahnflanke.
Auch im Bereich der Medizin findet sich der Begriff wieder. So haben die Evolvente der spiralig gekrümmten Femurcondylen im Kniegelenk und deren daher auf der resultierenden Evolute zu findende Schnittpunkte der transversalen Bewegungsachsen ihre Bedeutung im Verständnis der Biomechanik des Knies und kniespezifischer Gelenkseigenschaften.
In der Leichtathletik werden die Startlinien auf einer 400-Meter-Bahn mit Hilfe der Evolvente berechnet, damit Läufer auf den Außenbahnen dieselbe Strecke zurücklegen wie Läufer auf den weiter innen liegenden Bahnen. Dies gilt insbesondere für den 200- und 400-Meter-Lauf, die Sprintstaffeln sowie die Langstreckenwettbewerbe.
K. Burg, H. Haf, F. Wille, A. Meister: Vektoranalysis: Höhere Mathematik für Ingenieure, Naturwissenschaftler und … Springer-Verlag, 2012, ISBN 3834883468.
Kleine Enzyklopädie Mathematik. Harry Deutsch Verlag, 1977, ISBN 3 87144 323 9, S. 475.
A. Ostrowski: Evolute, Evolvente und Parallelkurven. Springer, Basel 1972, ISBN 978-3-0348-5528-0.
↑Klemens Burg, Herbert Haf, Friedrich Wille, Andreas Meister: Vektoranalysis: Höhere Mathematik für Ingenieure, Naturwissenschaftler und … Springer-Verlag, 2012, ISBN 3834883468, S. 30.
↑Richard Courant: Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung, 1. Band. Springer-Verlag, 1955, S. 267.