Hanns-Josef Ortheil ist fünfter Sohn der Bibliothekarin Maria Katharina Ortheil (1913–1996) und des Geodäten und späteren Bundesbahndirektors Josef Ortheil (1907–1988). Die Eltern hatten während des Zweiten Weltkriegs zwei Söhne und in den ersten Nachkriegsjahren wiederum zwei Söhne verloren. Angesichts dieser Todesfälle war Ortheils Mutter mit der Zeit immer schweigsamer und schließlich stumm geworden. So wuchs Ortheil in seinen ersten Kinderjahren mit einer sprachlosen Mutter auf und hörte im Alter von etwa drei Jahren für einige Zeit selbst zu sprechen auf. Er lernte deswegen erst mit sieben Jahren sprechen. In einem Fernsehstudio-Gespräch in der WDR-Sendung Planet Wissen erzählte Ortheil im Oktober 2013, sein erster Satz sei gewesen: „Gib mal her!“, als er beim Fußballspiel zweier Jungen den Ball haben wollte.[1]
Eine Erlösung von dem stark introvertierten und mutistischen Kinderleben brachte dem Vierjährigen der Beginn des Klavierunterrichts, den er zunächst von seiner Mutter erhielt. Von 1956 an wurde Ortheil von Pianisten und Musikpädagogen unterrichtet, so etwa von dem Pianisten und Musiktheoretiker Erich Forneberg und später von der Pianistin und Arrau-Schülerin Daniela Ballek. Als Pianist machte Ortheil rasch Fortschritte und wollte diese Laufbahn beruflich einschlagen. Massive, immer wiederkehrende Sehnenscheidenentzündungen zwangen ihn jedoch während zweier Rom-Aufenthalte in den frühen siebziger Jahren, in denen er am römischen Konservatorium studierte und als Organist an der Kirche Santa Maria dell’Anima seinen Lebensunterhalt verdiente, zur Aufgabe dieses Berufswunsches.
Von 1976 bis 1982 war er dort wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie von 1982 bis 1988 Hochschulassistent. 1979 debütierte er als Schriftsteller mit dem Roman Fermer. Für diesen erhielt er den ersten „Aspekte“-Literaturpreis des ZDF für „das beste Debüt“ der Saison. 1983 heiratete er die Verlegerin Imma Klemm. Sie ist die Enkelin des expressionistischen Lyrikers Wilhelm Klemm, dem er eine Monografie widmete. Von 1988 bis 1990 war er freier Schriftsteller. 1991 erhielt er das Stipendium der Deutschen Akademie Villa Massimo Rom und lebte von dieser Zeit an wieder häufiger in Rom. Dort nahm Ortheil während eines zweiten Villa-Massimo-Aufenthaltes im Jahr 1993 auch seine frühere Konzerttätigkeit wieder auf und spielte in privatem, aber auch in öffentlichem Rahmen.
2008 wurde Ortheil erster Direktor des neu gegründeten „Instituts für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft“ der Universität Hildesheim, das sich der Förderung junger Autoren in Theorie und Praxis widmet und in der Forschung alle Aspekte von Schrift und Schreiben untersucht. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität Hildesheim war Ortheil Poetik-Dozent an der Washington University in St. Louis/USA sowie an den Universitäten von Paderborn, Bielefeld, Heidelberg, Zürich und Bamberg. Ortheil ist Honorarprofessor der Universität Heidelberg sowie Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München. Seit 2012 ist er Kurator des Gargonza Arts Award. Seit Oktober 2016 betreibt er einen Blog,[2] über die Folgen dieses „Schreibexperiments“ berichtete er im Juni 2020.[3]
In dem Buch Ombra – Roman einer Wiedergeburt, das im Oktober 2021 erschien, verarbeitet Ortheil die Eindrücke und Erfahrungen einer schweren Herzinsuffizienz, die im Sommer 2019 bei ihm diagnostiziert wurde und die eine Herz-OP mit Komplikationen und anschließendem Aufenthalt in einer Reha-Klinik nach sich zog.[4]
Seit früher Kindheit schreibt er täglich auf, was ihn beschäftigt. Inzwischen haben sich tausende von schwarzen Kladden angesammelt, und er schreibt dazu: „Das große, unveröffentlichte Schreibprojekt der täglichen Aufzeichnungen erscheint mir inzwischen sogar als mein eigentliches Schreibprojekt oder ‚Hauptwerk‘, aus dem immer wieder Teilprojekte in Form von Romanen, Erzählungen, Essays, Reportagen oder Artikeln hervorgehen.“
Zu Die Berlinreise (2014): „Für alle, die etwas mit Berlin zu tun haben, ist das Buch eine erfreuliche Erinnerung, wobei die Sicht aus der Perspektive des Kindes durchaus ein Kick ist, der den Text interessant macht. Auch der Blickwinkel des Kindes bietet eine große Anzahl von Reizen und Anregungen – in manch einer Familie könnte das Buch ein Familienlesebuch werden.“ (Norbert Kühne, Medienhaus Bauer/Marler Zeitung und 5 weitere Ausgaben, Marl, 13. August 2014).
Der poetische Widerstand im Roman. Geschichte und Auslegung des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. Dissertation. Athenäum, Königstein/Taunus 1980, ISBN 3-7610-8073-5.
Mozart im Innern seiner Sprachen (= Collection S. Fischer. Bd. 28). S. Fischer, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-596-22328-8.
Das Glück der Musik – Vom Vergnügen, Mozart zu hören (= Sammlung Luchterhand). Luchterhand, München 2006, ISBN 3-630-62082-5.
Lesehunger. Ein Bücher-Menu in 12 Gängen (= Ästhetik des Schreibens. Bd. 3). Luchterhand, München 2009, ISBN 978-3-630-62153-1.
Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren (= Kreatives Schreiben). Duden, Mannheim/Zürich 2012, ISBN 978-3-411-74911-9.
Schreiben auf Reisen (= Kreatives Schreiben.) Duden, Mannheim/Zürich 2012, ISBN 978-3-411-75371-0.
Die Gegenwärtigkeit des Glaubens. Reflexion zum Text der Kantate BWV 151 „Süßer Trost, mein Jesus kömmt“. Anlässlich der Aufführung durch die J. S. Bach-Stiftung am 13. Dezember 2013 in der Kirche Trogen AR.[5]
Schreiben über mich selbst. Spielformen des autobiografischen Schreibens (= Kreatives Schreiben). Duden, Berlin / Mannheim / Zürich 2014, ISBN 978-3-411-75437-3.
Die Pariser Abende des Roland Barthes. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2015.
Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren. Insel, Berlin 2024, ISBN 978-3-458-64422-4.
Stephan Porombka: Schreiben unter Strom. Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co. (= Kreatives Schreiben). Duden, Mannheim/Zürich 2012, ISBN 978-3-411-74921-8.
Christian Schärf: Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch. (= Kreatives Schreiben). Duden, Mannheim/Zürich 2012, ISBN 978-3-411-74901-0.
Christian Schärf: Spannend schreiben. Krimi, Mord- und Schauergeschichten. (= Kreatives Schreiben). Duden, Mannheim/Zürich 2013, ISBN 978-3-411-75436-6.
Volker Wehdeking: Hanns-Josef Ortheils „Abschied von den Kriegsteilnehmern“. Die Ablösung von deutscher Nachkriegsgeschichte aus der Perspektive eines neuen Aufbruchs. In: Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln 1995, ISBN 3-17-012723-3, S. 64–75.
Helmut Schmitz: Der Landvermesser auf der Suche nach der poetischen Heimat. Heinz, Stuttgart 1997, ISBN 3-88099-348-3.
Stephanie Catani u. a. (Hrsg.): Kunst der Erinnerung, Poetik der Liebe. Das erzählerische Werk Hanns-Josef Ortheils (= Poiesis. Bd. 3). Wallstein, Göttingen 2009, ISBN 978-3-8353-0466-6.
Caroline Kartenbeck: Erfindungen des Lebens. Autofiktionales Erzählen bei Hanns-Josef Ortheil (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte [Folge 3]. Bd. 308). Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2012, ISBN 978-3-8253-6118-1.
Martin Doerry: Hanns-Josef Ortheil übers Klavierlernen – „Die Schüler ersticken in einem Wust von 1000 Ideen“. In: Der Spiegel. Nr.30, 2019 (online).