Hervé Le Tellier ist ursprünglich studierter Mathematiker. Er hat seit Beginn der 1990er-Jahre circa 30 Bücher veröffentlicht, darunter Gedichtbände, erotische Geschichten und Romane.[1] Auch arbeitete er für das Theater, die Oper oder den Film. Der in Paris lebende Le Tellier ist Präsident der Gruppe Oulipo, einem Kreis von Autoren, die ihre Werke formalen Zwängen unterwerfen. Er ist auch Sprachwissenschaftler und arbeitet als Kolumnist für die Internet-Ausgabe der französischen Tageszeitung Le Monde. 2013 gewann er den Grand Prix de l’humour noir Xavier-Forneret für den angeblich aus dem Portugiesischen übersetzten Gedichtband Contes liquides. Der Ursprungsautor Jaime Montestrela ist aber eine Erfindung von Le Tellier.
Le Tellier gilt als ein „multipler“ Autor zumeist „kleiner“ Formen (Novelle, Fabel), mit denen er teils experimentiert, die er aber zum großen Teil selbst entwickelt oder weiterentwickelt, wie etwa in seinen Tausend Antworten auf die Frage: Woran denkst Du? (Les amnésiques n'ont rien vécu d'inoubliable, 1997) oder seinen hundert Variationen nach der Mona Lisa (Joconde jusqu'à cent, 1998). Als Freund von Jean-Bernard Pouy hat er einen Kriminalroman der Reihe Pulp geschrieben.
Ein großer Erfolg war Le Tellier 2020 mit der Veröffentlichung seines in der nahen Zukunft spielenden Romans L’anomalie beim Verlag Gallimard beschieden. Das Werk stellt eine Versuchsanordnung dar, in der ein in Paris gestartetes Flugzeug im Sommer 2021 im Abstand von drei Monaten zwei Mal mit denselben Insassen in New York landet. Dadurch kommt es zu Doppelgängern und es entwickelt sich eine Fülle an unterhaltsamen, individuellen Geschichten um Fragen nach beispielsweise Überwachung, Simulation oder Realität.[2] Zu den Figuren zählen ein Familienvater und Auftragsmörder, ein nigerianischer Popstar, eine über ihre Fehler nachdenkende Anwältin sowie ein öffentlichkeitsscheuer Schriftsteller, der mit dem titelgebenden L’anomalie einen Überraschungserfolg erzielte und das zum Kultbuch avanciert. Der Roman gewann im Jahr seiner Veröffentlichung den Prix Goncourt,[3] gelangte auf die Shortlist des Prix Décembre und war auch ein großer finanzieller Erfolg. Das Buch verkaufte sich bis Ende November 2020 über 25.000 Mal und platzierte sich mehrere Wochen unter die Top 10 der Bestsellerliste im Bereich Belletristik. L’anomalie wurde bislang in sechs Sprachen übersetzt und soll auch als Fernsehserie verfilmt werden.[1]
Kein Wort mehr über Liebe. Übersetzung von Jürgen und Romy Ritte. dtv, München 2011
Eléctrico W. Ed. Jean-Claude Lattès, 2011
Neun Tage in Lissabon. Übersetzung von Jürgen und Romy Ritte. dtv, München 2013
Contes liquides de Jaime Montestrela, Éditions de l'Attente, 2013, Grand Prix de l'Humour Noir.
Demande au muet, Editions Nous, 2014.
Moi et François Mitterrand, 2016, Editions Jean-Claude Lattes
Ich und der Präsident. Ein Briefroman. Übersetzung von Jürgen und Romy Ritte. dtv, München 2017 [Gegenüber der französischen Originalausgabe hat der Autor den Text um Briefe an Mitterrands Nachfolger Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron fortgeführt.]
Toutes les familles heureuses, récit, 2017, Éditions Jean-Claude Lattès
All die glücklichen Familien, [autobiografischer] Roman. Übersetzung von Jürgen und Romy Ritte. dtv, München 2018
Norbert Berger: Hervé Le Telliers Bestseller ‚L’anomalie‘ und das Motiv des Doppelgängers in aktuellen Romanen der französischen, portugiesischen und deutschen Literatur. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 72 (2022), S. 201–223.