Das Innere Kind ist das Modell für eine Betrachtungsweise innerer Erlebniswelten in der Psychotherapie. Es wurde durch Bücher von John Bradshaw sowie Erika Chopich und Margaret Paul bekannt.[1] Es bezeichnet und symbolisiert die im Gehirn gespeicherten Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen aus der eigenen Kindheit. Hierzu gehört das ganze Spektrum intensiver Gefühle wie unbändige Freude, abgrundtiefer Schmerz, Glück und Traurigkeit, Intuition und Neugierde, Gefühle von Verlassenheit, Angst oder Wut. Das Innere Kind umfasst alles innerhalb des Bereiches von Sein, Fühlen und Erleben, welches speziellen Gehirnarealen zugeordnet wird.[1] Die Arbeit mit dem Inneren Kind funktioniert nach dem Prinzip der beabsichtigten, bewussten, therapeutischen Ich-Spaltung zwischen dem beobachtenden, reflektierenden Erwachsenen-Ich und dem erlebenden Inneren Kind.[2]
Dabei „übersetzen“ die genannten Autoren tiefenpsychologische und psychoanalytische theoretische Annahmen in eine für den interessierten Laien verständliche Sprache. Solche vereinfachte, zum Teil populärwissenschaftliche Darstellung beabsichtigt nicht, die komplexe und konfliktorientierte Differenziertheit psychodynamischer Theorien darzustellen.
Unabhängig voneinander und aufeinander aufbauend haben sich seit den 1990er Jahren verschiedene Ansätze der „Inneren-Kind-Arbeit“ entwickelt. Die Vorstellung des „Inneren Kindes“ wird je nach Therapieform mit unterschiedlichen anderen inneren Elementen verbunden wie beispielsweise: „Innerer Erwachsener“, „Innerer Regisseur“, „Hilfreiche Wesen“, „guter, sicherer Ort“. Gemeinsames Ziel dieser Ansätze ist es, seelische Wunden aus der Vergangenheit und Gegenwart zu heilen, falsche oder dysfunktionale Glaubens- und Lebensmuster zu erkennen, Probleme selbstverantwortlich und selbstkompetent zu lösen sowie liebevollen Umgang mit sich selbst (Selbstliebe) und anderen zu bewirken.[3]
Die Grundannahme in der Arbeit mit dem Inneren Kind spiegelt sich in einem in diesem Zusammenhang häufig zitierten Satz: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“, der sowohl Erich Kästner als auch Milton Erickson zugesprochen wird. Es wird angestrebt, auf der einen Seite positives Erleben aus der Kindheit ins Bewusstsein zu heben und damit als Ressource nutzbar zu machen und auf der anderen Seite im „Hier und Jetzt“ die emotionale Zuwendung, die in der Kindheit gefehlt hatte, sich selbst eigenständig zu geben und psychische Verletzungen aus der Kindheit zu heilen.
Es wird angenommen, dass sowohl positive als auch negative frühkindliche Erfahrungen im Gehirn gespeichert sind und unter bestimmten Bedingungen dem Bewusstsein zugänglich und damit wieder erlebbar werden. Danach können positive Erfahrungen, wie kindliche Neugier, Begeisterungsfähigkeit, Staunen, Lebendigkeit, Spontaneität oder die Fähigkeit, ganz in der Gegenwart zu sein oder auch negative Erfahrungen, wie die kindliche Verwundbarkeit und kindliche Ängste vor Verletzungen und Zurückweisung, erlebbar werden. Es wird angenommen, dass die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung und danach, bedingungslos angenommen zu werden, Ausdruck frühkindlicher Grundbedürfnisse ist.[3] S. 20–25
In der Arbeit mit dem Inneren Kind wird davon ausgegangen, dass ein Mensch, der als Kind wenig Liebe und Anerkennung erfahren hat und häufig durch Missachtung, Liebesentzug, Verlassenwerden oder Entwertung verletzt wurde, in seinem Selbstwertgefühl beschädigt wurde und dann als Erwachsener zum Beispiel ein unangemessen großes Verlangen nach Zuwendung durch andere Menschen entwickelt, wobei der jeweilige Anlass dazu als Narzisstische Kränkung bezeichnet wird.[2]
Hat das Kind in der Vergangenheit viel Schmerz oder Traumatisierungen erlebt, will der Erwachsene sich später davor schützen, den Schmerz des Kindes zu fühlen. Er möchte die damalige Hilflosigkeit und „Ausgeliefertheit“ nicht spüren oder fühlt sich überfordert. So haben viele Menschen beim Heranwachsen gelernt, den Zugang zu ihrem Inneren Kind zu drosseln oder abzuschneiden, um bestimmte Gefühle zu verdrängen.
Das Innere Kind – so die Modellvorstellung – empfindet sich als unzulänglich, schlecht, nicht liebenswert und entwickelt intensive Gefühle von Schuld und Scham. Hinzu kommt die Furcht, von anderen Menschen verlassen und zurückgewiesen oder aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden. Das „ungeliebte Kind“ projiziert diese Erwartung auf andere Menschen und unterstellt ihnen zum Beispiel, es permanent abzulehnen. So kann beispielsweise geringfügige Kritik durch den Partner panische Angst auslösen, weil das innere Kind diese Kritik mit altbekannten Gefühlen von Angst vor Strafe und Zurückweisung verbindet.
Der Erwachsene, der dieses Verhaltensmuster nicht versteht, verhält sich so, wie seine Eltern oder andere Bezugspersonen ihn geprägt haben. Er handelt nach falschen Glaubensmustern/Widerstandsmustern zum inneren Kind. Die entsprechenden Glaubenssätze können beispielsweise heißen:
Chopich und Paul betrachten eine ablehnende Haltung gegenüber dem inneren Kind als Widerstand in einem ähnlichen Sinne wie die klassische Psychoanalyse Widerstände versteht. Sie glauben, dass sich in der Ablehnung der Arbeit mit dem inneren Kind eine frühere real erfahrene Ablehnung des Kindes spiegelt und dass sich das in Aussagen wie diesen ausdrückt:
Das Ziel einer Therapie ist, eine liebevolle innere Verbindung zwischen dem Inneren Kind und dem Erwachsenen herzustellen, um (wieder) Zugang zu den tiefen Quellen der Freude, Wahrnehmung und Intuition zu erlangen.
Es ist nötig, dass der Erwachsene sich dafür entscheidet, das innere Kind anzunehmen, um die falschen Glaubensmuster zu beseitigen. Wenn das Innere Kind angenommen wird, können solche Glaubenssätze heißen:
Mit der Übernahme der Selbstverantwortung wird der Mensch mehr und mehr unabhängig von der Meinung und dem Wohlwollen anderer, indem er für sein Wohlergehen selbst sorgt.[3] S. 62–68
Steht der Mensch mit seinem Inneren Kind in einer liebevollen Verbindung, so fühlt er sich auch liebevoll mit den Menschen und mit der gesamten Natur verbunden.
Die konzeptionelle Vorstellung eines inneren Kindes als Anteil der Persönlichkeit wird in vielen Psychotherapierichtungen genutzt und war nach Ansicht einiger Autoren schon in Freuds psychoanalytischen Theorien implizit angelegt. Das Modell vom Inneren Kind findet unter anderem in folgenden therapeutischen Richtungen Anwendung:
Die Arbeit mit dem Inneren Kind ist eine Form der aufdeckenden Psychotherapie. Sie setzt eine gewisse Stabilität des Patienten zur Bearbeitung voraus und sollte nur durch einen ausgebildeten Psychotherapeuten durchgeführt werden.
Bei Patienten mit der Tendenz zu Fragmentierung ist fraglich, ob durch die Arbeit mit inneren Anteilen mehr Ganzheitlichkeit erreicht werden kann. Es besteht vielmehr ein Risiko, die Fragmentierung noch weiter zu verstärken.[6] S. 121
Um mit dem Inneren-Kind-Ansatz im Rahmen einer Ego-State-Therapie arbeiten zu können, ist ein hinreichend stabiles Ich nötig: Der Mensch muss im Alltag einigermaßen kompetent als Erwachsener agieren können. Jedoch könnte eine Bearbeitung von Kindheitsproblemen ohne vorherige Bewältigung aktueller Probleme, beispielsweise mit sozialpsychiatrischen Hilfen im Alltagsbereich, eine zu große Belastung darstellen, und die Aufmerksamkeit bliebe durch die Aktualkonflikte gebunden.[6] S. 123 Ebenso ist es nötig, zunächst an den Alltagssituationen zu arbeiten und Ressourcen zu aktivieren, wenn die Arbeit mit dem inneren Kind so viel traumatisches Material aktivieren könnte, dass es den Menschen arbeitsunfähig machen würde.[6] S. 118
Die therapeutische Arbeit mit dem Inneren-Kind-Ansatz hat sich in Einzelfällen als sehr effektiv erwiesen. Wenn sich Patienten mit dieser Arbeit vertraut machen können, führt dies zu einem erheblichen Zuwachs an Selbstberuhigungskompetenz.[6] S. 127
Es fällt auf, wie schnell sich Menschen verändern, wenn sie mit dem inneren Kind arbeiten. Diese Veränderung ist sehr tiefgreifend und setzt ein hohes Maß an Kraft und Kreativität frei, wenn die Wunden der Vergangenheit geheilt sind.[11] S. 11
Anhand des Modells vom Inneren Kind können auch andere Verhaltensweisen von Menschen beschrieben werden. Hierzu werden verschiedene Beispiele angeführt.[12]
Zumindest vom Zuschauen kennt man, dass sich frisch Verliebte unterhalten wie kleine, glückliche Kinder, die die Welt ringsum vergessen haben, durchaus auch als Erwachsene oder sogar Senioren. Und dabei scheren sie sich auch nicht um Leute, die schmunzelnd oder kopfschüttelnd daneben stehen. Oder eine anfangs so große Liebe schlägt urplötzlich in Kampf oder gar Hass um. Dann können auch erwachsene Menschen sich derart streiten, dass ein Außenstehender meinen würde: „Das ist ja wie im Kindergarten, gleich schmeißen die mit Sand!“
Neugier, unbefangene Nacktheit, Doktorspiele beispielsweise gehören sowohl zu realen Kindern wie auch zu Inneren Kindern bei Erwachsenen; Beispiele wären neugieriges Erkunden des Anderen oder Rollenspiele.[13]
Zudem suchen manche Menschen noch eine Bestätigung als „Mann“ bzw. als „Frau“, weil sie eine solche Anerkennung im Teenageralter von ihren Eltern damals nicht bekommen hatten. Und so suchen sie nachträglich Anerkennung bei anderen z. B. als „heißer Feger“, dem es um vielen und um häufigen Sex geht, zu Dritt oder zu Viert, oder gar noch extremere Beispiele. Dies alles kann als unterbewusste Suche des Inneren Teenagers verstanden werden. Jedoch weil an der falschen Stelle gesucht wird, nämlich bei anderen und nicht in sich selber – die Teenagerzeit ist ja längst vorbei – würde diese Sehnsucht bleiben.[14]