Inoviridae, informell auch genannt Filamentöse Bakteriophagen (englischFilamentous bacteriophage, Singular oder Plural)[Anmerkung 1] sind eine Familie von Viren, die Bakterien infizieren (Bakteriophagen).
Die Phagen sind nach ihrer meist filamentösen Form benannt, ihre Virionen (Virusteilchen) sind meist lang, dünn und biegsam und sehen aus wie eine wurmartige Kette (was an ein Stück gekochter Spaghetti erinnert). Sie haben einen Durchmesser von ca. 6 nm bei einer Länge von bis zu ca. 1000–2000 nm.[3][4][5][6][7]
Die Inoviridae gehören zu den einfachsten Viren, die bekannt sind. Sie haben weit weniger Gene als die klassischen Bakteriophagen der Ordnung Caudovirales (mit Kopf-Schwanz-Struktur, sog. Schwanzbakteriophagen), wie sie von der American Phage Group um Max Delbrück untersucht wurden. Die Einfachheit dieser Familie macht sie zu einem attraktiven Modellsystem, um grundlegende Aspekte der Molekularbiologie zu untersuchen und zu einem bewährten Werkzeug in der Immunologie und Nanotechnologie.
Filamentöse Phagen werden im Gegensatz zu den meisten anderen Phagen kontinuierlich durch die Bakterienmembran extrudiert (ausgeschieden), ohne den bakteriellen Wirt zu töten.[9]
Die Hülle eines Virions besteht aus fünf Arten viraler Proteine, die sich während des Zusammenbaus (Assemblierung) der Phagen-Virionen in der inneren Membran des Wirtsbakteriums befinden und dem heranwachsenden Virion hinzugefügt werden, während es durch die Membran extrudiert wird.
Die von der Gruppe um David Pratt eingeführte einfache Nummerierung der Gene mit den arabischen Ziffern 1,2,3,4, … wird manchmal durch die Praxis der Verwendung der römischen Ziffern I, II, III, IV, … verdrängt, aber die von den beiden Systemen definierten Gennummern sind die gleichen.
Für die Akronyme der kodiertenProteine existieren also zwei einander äquivalente Bezeichnungsweisen mit den gleichen Nummern in römischen bzw. in arabischen Ziffern:
Protein 1 (pI = g1p), …, Protein 8 (pVIII = g8p), …;
die Bezeichnungen der entsprechenden Gene sind analog, jedoch kursiv gesetzt.
Drei filamentöse Bakteriophagen, fd, f1 und M13, wurden in den frühen 1960er Jahren von drei verschiedenen Forschergruppen isoliert und charakterisiert. Sie sind jedoch so ähnlich, dass sie zu einer Gruppe mit dem Namen „Ff-Phagen“ zusammengefasst werden, die vom ICTV zunächst als Gattung Inovirus, und inzwischen (2024) als Spezies Inovirus M13 offiziell bestätigt wurde.[10][11][12][13]
Die molekulare Struktur der filamentösen Ff-Phagen wurde mit einer Reihe von physikalischen Techniken, insbesondere der Röntgenfaserbeugung,[4][14]
bestimmt und mit Festkörper-NMR und Kryo-Elektronenmikroskopie weiter verfeinert.[4][2]
Die einzelsträngige Ff-Phagen-DNA verläuft entlang des zentralen Kerns (englischcor) des Phagen und wird durch eine zylindrischeProteinhülle geschützt und verdichtet, die aus Tausenden von identischen α-helikalen Untereinheiten des Haupt-Hüllproteins (en. major coat protein) aufgebaut ist, und die vom Phagen-Gen pVIIIkodiert werden.
Das pVIII-Protein wird in die Plasmamembran als ein früher Schritt der Phagen-Assemblierung eingefügt.[4]
Einige Phagenstämme haben eine Leader-Sequenz auf dem pVIII-Protein, um die Einfügung in die Membran zu fördern, aber andere scheinen die Leader-Sequenz nicht zu benötigen.
An den beiden Enden des Phagen befinden sich einige Kopien von Proteinen, die für die Infektion des Wirtsbakteriums und auch für den Zusammenbau der wachsenden Phagenpartikel wichtig sind.
Diese Proteine sind die Produkte der Phagengene 3 und 6 (pIII und pVI) an einem Ende des Phagen, und der Phagengene 7 und 9 (pVII und pIX) am anderen Ende.
Die Faserbeugungsstudien identifizierten zwei strukturelle Klassen von Phagen, die sich in den Details der Anordnung des Gen-8-Proteins (pVIII) unterscheiden.
Klasse I, zu der die Stämme
fd, f1, M13 der Gattung Inovirus sowie
If1 (Spezies Escherichia-Virus If1, Gattung Infulavirus)[15] und
IKe (Spezies Salmonella-Virus IKe, Gattung Lineavirus) gehören,[16]
hat eine Rotationsachse, die die Gen-8-Hüllproteine (pVIII) miteinander verbindet,
während bei Klasse II, einschließlich der Stämme
Pf1 (Spezies Pseudomonas-Virus Pf1, Gattung Primolicivirus),[17]
Pf3 (Spezies Pseudomonas-Virus Pf3, Gattung Tertilicivirus),[18]
Pf4 (ohne zugewiesene Spezies oder Gattung)[19][20][2] und
PH75 (vorgeschlagene Spezies „Thermus-Phage PH75“, incertae sedis innerhalb der Inoviridae),[21] diese Rotationsachse durch eine Helixachse ersetzt ist.
Dieser technische Unterschied hat kaum merkliche Auswirkungen auf die Gesamtstruktur des Phagen, aber der Umfang der unabhängigen Beugungsdaten ist für die Symmetrieklasse II größer als für die Klasse I.
Dies half bei der Bestimmung der Struktur des Klasse-II-Phagen Pf1,[22] und damit auch der Klasse-I-Struktur.[14]
Die aus den fd-Phagen der Gattung Inovirus isolierte DNA ist einzelsträngig und topologisch ein Kreis (zirkulär).
Das heißt, der DNA-Einzelstrang erstreckt sich von einem Ende des Phagenpartikels (Virions) zum anderen und dann wieder zurück, um den Kreis zu schließen, obwohl die beiden Stränge nicht basengepaart sind.
Es wurde angenommen, dass sich diese Topologie auf alle anderen filamentösen Phagen erstreckt, aber dies ist nicht der Fall für den Phagen Pf4,[19][20][2] bei dem die DNA im Phagen zwar einzelsträngig, aber topologisch linear und nicht kreisförmig ist.[2]
Während des Zusammenbaus (Assemblierung) von fd-Phagen wird ihre DNA zunächst in einen linearen intrazellulären Nukleoprotein-Komplex mit vielen Kopien des Phagen-Gens 5 (pV, das Replikations-/Assemblierungsprotein) verpackt.
Das Gen 5-Protein (pV) wird dann durch das Gen 8-Hüllprotein (pVIII) verdrängt, wenn der heranwachsende Phage durch die bakterielle Plasmamembran extrudiert wird, ohne dabei den bakteriellen Wirt abzutöten.[23][24][4][9]
Dieses Protein bindet auch mit hoher Affinität an G-Quadruplex-Strukturen (G4-DNA, „Vier-Strang-DNA“), obwohl diese in der Phagen-DNA nicht vorhanden sind, sowie an ähnliche Haarnadelstrukturen (englischhairpins) in der Phagen-DNA.[25]
Gen 1 (pI) kodiert für eine ATPase.[26]
Das Protein 1 (pI) der Ff-Phagen (d. h. in der Gattung Inovirus) ist für die Phagen-Assemblierung an der Membran erforderlich.
Gen 1 (pI) ist daher ein konserviertesMarkergen, das (zusammen mit drei weiteren genetischen Merkmalen) zur automatischen Erkennung von Inovirus-Sequenzen verwendet wird.[7]
Protein 1 (pI) hat eine membranüberspannende hydrophobe Domäne am N-terminalen Teil im Zytoplasma und dem C-terminalen Teil im Periplasma (vgl. ATP-Synthase). Die Monomere bleiben dank der hydrophoben Wechselwirkungen zusammen.
Der Assemblierungsmechanismus macht diese Phagen zu einem wertvollen System, um Transmembranproteine zu untersuchen.[4][27][6]
Der Replikationszyklus besteht im Detail aus folgenden Schritten (siehe Schemazeichnung):[28]
Das virale g3p-Protein (alias pIII, minor coat protein, mCP) vermittelt Anheftung (Adsorption) des Virions an einen Pilus der Wirtszelle. Die Pilus-Retraktion zieht das Virion an die innere Membran des Wirts.
Die Proteine des Virus-Kapsids vermitteln die Injektion der Virus-DNA durch die bakteriellen Membranen hindurch in das Zellzytoplasma.
Die Polymerase des Wirtsbakteriums wandelt das (+)ssDNA-Virusgenom (Einzelstrang) in eine kovalent zyklisch geschlossene dsDNA (Doppelstrang) um, die als replikative Form (RF) der DNA (replicative form DNA) bezeichnet wird.
Das virale g2p-Protein (alias pII) kappt den RF-DNA-Strang am Replikationsursprung.
Die Replikation des (+)-Strangs erfolgt nach dem Rolling-Circle-Verfahren.
Auch neue genomische (+)ssDNA wird in weitere RF-dsDNA umgewandelt, an der ebenfalls Transkription stattfindet.
Wenn genügend g5p-Protein (alias pIV) synthetisiert wurde, wird die Umwandlung in RF-dsDNA gehemmt, da das neusynthetisierte genomische ssDNA mit g5p bedeckt wird.
Das g5p wird durch Protein g8p (alias pVIII) ersetzt, um die Assemblierung des viralen Kapsids zu starten.
Neue Virionen werden aus der Wirtszelle ausgeschieden.
(nicht dargestellt) Die infizierten Zellen teilen sich weiter und produzieren unbegrenzt viele Virionen.
Die virale Assemblierung erfolgt an der inneren Membran (bei Gram-negativen Bakterien), vermittelt durch einen in die Membran eingebetteten Motorproteinkomplex.[29]
Dieser multimere Assemblierungskomplex wird von Gen 1 (pI) kodiert und oft als ZOT (Zonula Occludens Toxin) bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine ATPase, die funktionelle und essentielle Walker A- und Walker B-Motife enthält,[26]
von denen man annimmt, dass sie die Hydrolyse von ATP (Adenosintriphosphat) vermitteln, wodurch die Energie für die Assemblierung des Phagenfilaments geliefert wird.
Die Virionen verlassen die Wirtszelle durch virale Extrusion, ohne diese abzutöten.[29]
Dies ist ein für Viren der Ordnung Tubulavirales typisch, anders als bei lytischen Bakteriophagen, die ihre Wirtszellen am Schluss zum Platzen bringen und abtöten. Auch der lysogene Zyklus, bei dem sich die Viren mit der Wirtszelle vermehren und sich ggf. auch in ihr Genom integrieren, wurde bei den Inoviridae zunächst nicht beobachtet.
Vom filamentösen Phage Cf1t der Bakterienspezies Xanthomonas campestris (vorgeschlagene Phagenspezies „Xanthomonas-Phage Cf1t“, incertae sedis innerhalb der Familie Inoviridae, gelegentlich als Cflt verschrieben)[30]
wurde allerdings 1987 gezeigt, dass er sich in das bakterielle Wirtsgenom integrieren kann. Seitdem wurden weitere solche temperente filamentöse Phagen gefunden, von denen viele in die Pathogenese involviert sind, indem sie an sich ungefährlichen Bakterien Toxingene vermitteln, wodurch diese Krankheiten auslösen können.[3] Ein Beispiel für einen solchen Phagen ist der Vibrio-Phage CTXphi
Die Taxonomie der filamentösen Bakteriophagen wurde von Andre Lwoff und Paul Tournier als Familie Inophagoviridae, Gattung Inophagovirus, Spezies Inophagovirus bacterii (nach griechischἰνόςInos, deutsch ‚Faser oder Faden (Genitiv)‘) definiert, mit dem Phagen fd (Hoffmann-Berling) als Typusart.[31][32]
Die Bezeichnung „Phagovirus“ ist tautologisch (alle Phagen sind Viren), und der Name der Familie wurde in Inoviridae und die Typusgattung in Inovirus geändert.
Diese Nomenklatur blieb für viele Jahrzehnte bestehen, obwohl die Definition von fd als Typusart ersetzt wurde, als M13 für genetische Manipulationen und für Studien von pVIII breiter eingesetzt wurde.[4][33][34]
Die Phagen fd, f1, M13 (und andere verwandte Phagen) werden oft als Ff-Phagen bezeichnet,
mit dem ersten F für F-Plasmid (auch Fertilitätsfaktor genannt, englischF-episome – sie infizieren Colibakterien, die das F-Episom tragen),
und dem zweiten f für filamentös (fadenartig)
für F-spezifische (sie infizieren Escherichia coli, die das F-Episom tragen) filamentöse Phagen, unter Verwendung des Konzepts der umgangssprachlichen Namen.[35]
Zu Untersuchungen der Taxonomie der Inoviridae werden zunehmend Phylogenetische Bäume und Kladen verwendet.[3][5][36][7][37]
Die Anzahl der bekannten filamentösen Bakteriophagen hat sich durch die Verwendung eines maschinellen Lernansatzes (KI) um ein Vielfaches vermehrt.
Daher wurde vorgeschlagen, die Familie Inoviridae neu zu ordnen und in mehrere Familien einer neu geschaffenen Ordnung (den Tubulavirales) aufzuspalten. Vorgeschlagen sind vorläufig 6 Kandidatenfamilien mit 212 Kandidatenunterfamilien.[7]
In die folgende Gliederung der Familie Inoviridae nach ICTV (Stand Mai 2024)[11][12] ist diese vorgeschlagene Neuordnung der Familien in der Ordnung Tubulavirales nach Roux et al. (2019) eingearbeitet, jedoch ohne die vorgeschlagenen Unterfamilien (die bisher nur Nummern haben);[7]
zusätzlich mit einer Auswahl vorgeschlagener Spezies in Anführungszeichen (nach NCBI mit Stand 15. Februar 2021):
Familie: Inoviridae (im weiteren Sinn; veraltet: Inophagoviridae)
Familie „Amplinoviridae“ (Vorschlag, neu)
Familie „Densinoviridae“ (Vorschlag, neu)
Familie „Photinoviridae“ (Vorschlag, neu)
Familie „Protoinoviridae“ (Vorschlag, die Inoviridae im engeren Sinn):
Die Erforschung der heute zu den Inoviridae gestellten Bakteriophagen begann in den frühen 1960er Jahren.
Der in elektronenmikroskopischen Aufnahmen zu sehende fadenförmige (filamentöse) Teil wurde zunächst irrtümlich als ein bakterieller Pilus interpretiert. Der Abbau der beobachteten Strukturen mit Hilfe von Ultraschall, wodurch die flexiblen Filamente ungefähr in der Mitte auseinandergebrochen wurden, inaktivierte die Infektiosität, wie für eine fadenförmige Bakteriophagenmorphologie vorhergesagt.[46][47][48]
Die ersten drei fadenförmigen Bakteriophagen, fd, f1 und M13, wurden von drei verschiedenen Forschungsgruppen isoliert und charakterisiert.
Da sich diese drei Phagen in ihren DNA-Sequenzen um weniger als 2 Prozent unterscheiden, was Änderungen in nur wenigen Dutzend Codons im gesamten Genom entspricht, können sie für viele Zwecke als identisch angesehen werden[49]
und werden oft mit dem Oberbegriff Ff-Phagen bezeichnet.[35] und heute der gemeinsamen Gattung Inovirus zugeordnet.[10]
Die weitere unabhängige Charakterisierung in den folgenden 50 Jahren war von den Interessen dieser Forschungsgruppen und ihrer Anhänger geprägt.[4]
Genetische Studien an M13 unter Verwendung von bedingt letalenMutanten (Varianten), die von David Pratt und Kollegen initiiert wurden, entschlüsselten die Funktionen der Phagengene.[50][51]
So zeigte sich beispielsweise, dass das Proteinprodukt von Gen 5 (g5p bzw. pV), das für die Synthese der einzelsträngigen DNA (ssDNA) der neuen Virionen verantwortlich ist, in großen Mengen in den infizierten Bakterien gebildet wird.[52][53][54]
Es bindet an die naszierende (neu gebildete) DNA, um einen linearen intrazellulären Komplex zu bilden.[23]
Das Genom des Phagen fd war eines der ersten vollständigen Genome, die sequenziert wurden.[55]
Filamentöse Bakteriophagen, die so verändert wurden, dass sie immunogenePeptide anzeigen, sind nicht nur in der Immunologie, sondern auch darüber hinaus für weitere biologische Anwendungen nützlich.[56][57][58][59]
Da während der Assemblierung je nach Bedarf mehr (oder weniger) Proteinuntereinheiten hinzugefügt werden können, um die DNA zu schützen, kann in fd-Phagen längere (oder kürzere) DNA enthalten sein.[60]
Dies macht diese Phagen für genetische Studien besonders geeignet.[61][62]
↑Die Bezeichnung Filamentous phage (bzw. analog Filamentous bacteriophage, deutsch Filamentöser Phage) ist nach ICTV eine veraltete Bezeichnung für die heutige Bezeichnung der Typusgattung Inovirus (ab 1971); entspricht aber heute nach Entdeckung einer großen Zahl weiterer fadenförmiger Bakteriophagen (ggf. mit Plural-s) der ganzen Familie um diese Gattung, also aktuell den Inoviridae.
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