Scheuchzer wurde 1672 als Sohn des gleichnamigen Zürcher Stadtarztes († 1688) geboren. Taufpate war der Theologe Johann Heinrich Heidegger (1633–1698).[1]Johannes Scheuchzer war sein jüngerer Bruder. Seine Mutter war Tochter des Lateinschuldirektors, dessen Schule (Collegium Humanitatis) er besuchte. Daneben unterrichtete ihn der Vater in naturwissenschaftlichen Fächern. Im Jahr 1688 starb sein Vater, und Scheuchzer gab sich autodidaktischen Studien hin. Der Zürcher WaisenhausarztJohann Jacob Wagner (1641–1695), der Verfasser einer ersten Historia naturalis Helvetiae curiosa (Zürich 1689), beeinflusste ihn in dieser Zeit sehr.
Da Scheuchzer nach seinem Studium warten musste, bis einer der vier amtlichen Ärzte Zürichs starb, um dessen Position als Stadtarzt in Zürich einnehmen zu können, arbeitete er bei den wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien der Stadt mit. Durch den Tod von Johann Jakob Wagner bekam er 1695 seine Anstellung als Mediziner. Zugleich übernahm er auch die Stelle als Direktor der Bürgerbibliothek und der Kunst- und Naturalienkammer, in der er sich für die Erforschung seines Heimatlandes entschied. Diese Forschungsreisen führten ihn bis 1714 durch das Land.
Mit einem grossen und detaillierten Katalog mit 220 Fragen informierte er sich im Vorfeld bei Bekannten in der gesamten Schweiz über die Natur und die Wetterverhältnisse an ihren Heimatorten; die Beteiligung war allerdings eher gering. Vor allem zur Hebung der Volksbildung und zur Widerlegung von Volksmärchen schrieb Scheuchzer als Zusammenfassung seiner Forschungsergebnisse von 1705 bis 1707 die Seltsamen Naturgeschichten des Schweizer-Lands wochentliche Erzehlung. In dem Werk widerlegte er etwa die Meinung, dass die Gewitter am Pilatussee von Dämonen herrührten, sobald man dem See näher komme oder gar einen Gegenstand in ihn werfe. Er selbst schrieb dazu 1714: «Ich selbst habe im Beisein der Sennen, welche diese Fabeln verlachen, Stein, Holz und anderes nicht nur einmal in diese Pfütze geworfen ohne Gefahr und Schaden.» Ebenfalls zur Volksbildung schrieb Scheuchzer 1701 in deutscher Sprache Physica, oder Natur-Wissenschaft.
Im Jahr 1697 heiratete Scheuchzer Susanna Vogel, die Tochter des Färbers Hans Vogel. Unter seinen Söhnen trat Johann Caspar Scheuchzer als Arzt, Naturforscher und Japanologe hervor.[2]
Eintrag der Nürnberger Astronomin und Künstlerin Maria Clara Eimmart (1676–1707), datiert 16. August 1695. Von Eimmart sind auch fünf Briefe an Scheuchzer erhalten geblieben.
Eintrag von Scheuchzers Cousine, der Malerin Anna Waser (1678–1714), datiert 12. Juli 1697. Waser schuf später Illustrationen für ein Werk von Scheuchzer, siehe unten.
Von besonderer Bedeutung sind die wissenschaftlichen Leistungen Scheuchzers, der als Erster Höhenmessungen mit barometrischen Instrumenten statt der wesentlich unzuverlässigeren trigonometrischen Berechnungen durchführte. Durch Untersuchungen an Bergkristallen wurde er mit dem Luzerner Stadtphysikus Moritz Anton Kappeler und seinem Schüler Johann Heinrich Hottinger (1680–1756) zu einem der Mitbegründer der modernen Kristallographie, und aufgrund seiner klimatologischen Beobachtungen konnte er regelmässige Wetterberichte abfassen.
Bekannt ist Johann Jakob Scheuchzer vor allem für seine paläontologischen Arbeiten. In seiner Lithographia Helvetica beschrieb er die Fossilien noch als «Naturspiele» oder Überreste der Sintflut. Durch die Übersetzung des Buches Essay toward a Natural History of the earth von John Woodward ins Lateinische wurde er von den Denkweisen des René Descartes überzeugt, der ein Nebeneinander von göttlicher Allmacht und der Existenz von Naturgesetzen in Gottes Werk darstellte. Scheuchzer befasste sich intensiver mit den Fossilien, insbesondere denen der Tiere, und stellte 1726 in den Philosophical Transactions of the Royal Society ein von ihm am Schiener Berg gefundenes Skelett als das eines in der Sintflut ertrunkenen Menschen vor (Homo diluvii testis). Mit dieser Deutung des Fossils lag er falsch und es wurde etliche Jahre später durch den Franzosen Georges Cuvier (1769 bis 1832) als das Skelett eines ausgestorbenen Riesensalamanders erkannt und als Andrias scheuchzeri benannt.
Durch das 1709 erschienene Herbarium diluvianum («Sintflut-Herbarium») wurde Johann Jakob Scheuchzer zum Begründer der Paläobotanik. In diesem Werk zeigt er auf 14 Tafeln Pflanzenabdrücke, die vor allem aus dem Karbon, Perm und Tertiär stammende Pflanzen darstellen. Diese Tafeln sind so naturgetreu gestaltet, dass aufgrund der Bilder bei den meisten Abbildungen eine Artbestimmung möglich ist. Scheuchzers umfangreiche Sammlung von Versteinerungen und Mineralien wird heute im Paläontologischen Museum von Zürich aufbewahrt, ein kleiner Teil davon ist ausgestellt.
1712 entstand eine vierblättrige Karte der Schweiz, die Nova Helvetiae tabula geographica,[3] die einige Zeit als die beste und die gültige Karte der Schweiz galt. Durch seine wissenschaftliche Arbeit erlangte Johann Jakob Scheuchzer internationale Anerkennung. So beteiligte sich etwa der damalige Präsident der Royal Society in London, Isaac Newton, an den Druckkosten für Scheuchzers Werk Ouresiphoites Helveticus, sive itinera alpina tria («Helvetischer Berggänger, oder drei Reisen durch die Alpen», London 1708[4]), und 1710 bot ihm der russische Zar Peter der Große auf Empfehlung von Gottfried Wilhelm Leibniz die gut bezahlte Stelle als Leibarzt an, die Scheuchzer aber ablehnte.
Nova Helvetiae tabula geographica, 1712
Eine der Illustrationen im Randbereich der Karte: die Schöllenen mit der «Teufelsbrücke»
Die Bildvorlagen hatte Scheuchzers Cousine Anna Waser geschaffen
In der Schweiz selbst wurde Scheuchzer gemieden, vor allem wegen seiner neuartigen Ideen und seiner Interpretation des göttlichen Wirkens. Auf Ablehnung stiessen insbesondere seine Pläne für das Werk mit dem lateinischen Titel Physica sacra (deutsche Ausgabe: Kupfer-Bibel, in welcher die Physica sacra oder geheiligte Natur-Wissenschaft derer in heil. Schrift vorkommenden natürlichen Sachen deutlich erklärt und bewährt…, kurz Kupfer-Bibel). In diesem vierbändigen Werk sollte versucht werden, den Gottesbeweis durch die Naturwissenschaft zu erbringen. Diese sogenannte Physikotheologie stellte biblische Geschichten durch naturwissenschaftliche Erklärungen dar. Eine Druckgenehmigung für dieses Werk wurde Scheuchzer in der Eidgenossenschaft verweigert – vor allem deshalb, weil er darin das kopernikanische Weltbild vertrat.[3] 1731 bis 1735 erschien die Physica sacra dennoch, und zwar in Augsburg. Mit vier Foliobänden und 2098 Seiten sowie 750 Kupfern mit Abbildungen im „Übergangsbereich von wissenschaftlicher Illustration und künstlerischer Abbildung“[5] wurde sie zu einem Meisterwerk der Druckkunst der damaligen Zeit. Scheuchzer konnte zwar die Manuskripte für die deutsche und die lateinische Ausgabe noch fertigstellen; die Vollendung erlebte er jedoch nicht mehr. Nach der lateinischen und der deutschen Fassung folgten eine niederländische und eine französische Version des Werkes.
Im Zürcher Quartier Oberstrass (Kreis 6) wurde die Scheuchzerstrasse nach ihm benannt. Im Haus Nr. 68 lebte zwischen 1916 und 1919 der Schriftsteller Elias Canetti.
In der Zentralbibliothek Zürich befindet sich Scheuchzers Nachlass, der 12,3 Laufmetern entspricht. Darunter sind Briefe, Materialien zum Werk, Akten, Arbeiten, Bildmaterial und Karten (in der Kartensammlung); ausserdem Protokolle des Collegiums der Wohlgesinnten (1694–1709), Reden, Vorträge und Vorarbeiten.
Nova Helvetiae tabula geographica. Zürich 1712 / Amsterdam 1715. (Scheuchzers Karte der Schweiz; alle vier Blätter in hoher Auflösung auf Wikimedia Commons.)
Naturgeschichte des Schweitzer Landes. Zürich 1716. doi:10.3931/e-rara-18692 (neu herausgegeben von Johann Georg Sulzer, 1746).
Jobi physica sacra, Oder Hiobs Natur-Wissenschafft, vergliechen mit der Heutigen. Zürich 1721. doi:10.3931/e-rara-11879.
Ouresiphoites Helveticus, sive, itinera per Helvetiae alpinas regiones facta annis MDCCII, MDCIII, MDCCIV, MDCCV, MDCCVI, MDCCVII, MDCCIX, MDCCX, MDCCXI. Leiden 1723. doi:10.3931/e-rara-22519. (Reisen der Jahre 1702, 1703, 1704, 1705, 1706, 1707, 1709, 1710 und 1711.)
Tilmann Walter: Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und seine Kontakte zur Leopoldina. In: Wolfgang U. Eckart, Heinz Schott (Hrsg.)(2022): Strategien der Kommunikation von Naturwissen und Medizin. Zeitschriften gelehrter Akademien in der frühen Neuzeit (= Acta Historica Leopoldina. (81)), Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, S. 167 f.
Simona Boscani Leoni (Hg.): Wissenschaft – Berge – Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung = Scienza – montagna – ideologie: Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) e la ricerca naturalistica in epoca moderna. Schwabe, Basel 2010, ISBN 978-3-7965-2591-9.
Simona Boscani Leoni: Vernetzte Welten: Das Korrespondenznetz von Johann Jakob Scheuchzer. In: Urs B. Leu (Hg.): Natura Sacra. Der Frühaufklärer Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Achius-Verlag, Zug 2012, ISBN 978-3-905351-17-0, S. 130–165.
Simona Boscani Leoni: Die Debatte um den Torfabbau im 18. Jahrhundert: Die Gebrüder Scheuchzer zwischen Johannes von Muralt und Johann I Bernoulli. In: S. Boscani Leoni, M. Stuber (Hg.): Wer das Gras wachsen hört. Wissensgeschichte(n) der pflanzlichen Ressourcen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. In: Jahrbuch für die Geschichte des ländlichen Raums. Band 14, 2017 (= Sammelband mit den Beiträgen des gleichnamigen Workshops an der Universität Bern, 9.–10. September 2016), S. 81–95; doi:10.25365/rhy-2017-5.
Simona Boscani Leoni (Hg.): «Lettres des Grisons»: Wissenschaft, Religion und Diplomatie in der Korrespondenz von Johann Jakob Scheuchzer. Eine Edition ausgewählter Schweizer Briefe (1695–1731).Online Edition
Simona Boscani Leoni: The Discovery of the Alps: between «Science» and «Exoticism». In: N. Etienne, C. Lee, E. Wismer, C. Brizon (Hrsg.): Exotic Switzerland? Looking Outward in the Age of Enlightenment. Diaphanes, Berlin 2020, S. 289–301. online
Simona Boscani Leoni: Between the Americas and Europe: Mapping Territories and People through Questionnaires, 16th-18th Centuries. In: S. Boscani Leoni, S. Baumgartnen, M. Knittel (Hrsg.): Connecting Territories: Exploring People and Nature, 1700-1830. Brill, Leiden/Boston 2022, S. 23–53; https://brill.com/display/title/55991?language=en; doi:10.1163/9789004412477_003.
Simona Boscani Leoni: Mondi interconnessi. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733), la storia naturale e la scoperta delle Alpi in epoca moderna. Habilitationsschrift, Historisch-Philosophische Fakultät, Universität Bern, 7. September 2021.
Dunja Bulinsky: Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und sein soziales Umfeld. Chronos Verlag, Zürich 2020, ISBN 978-3-0340-1561-5.
Madlena Cavelti Hammer: An Kunstwerken lernen, zum Beispiel: Die Schweizerkarte von Johann Jakob Scheuchzer um 1720. In: Cartographica Helvetica. Heft 1 (1990) S. 29–31, doi:10.5169/seals-1129.
Arthur Dürst: Jakob Scheuchzer: «Nova Helvetiae tabula geographica.» De Clivo Press, Zürich 1971.
Arthur Dürst: Johann Jakob Scheuchzer und die «Natur-Histori des Schweitzerlands». Begleittext zur Faksimile-Ausgabe. Orell Füssli, Zürich 1978.
Arthur Dürst: Johann Jakob Scheuchzer, Vorlage (Handzeichnung) ca. 1712 zur «Nova Helvetiae tabula geographica» von 1712/1713. Begleittext zur Reproduktion. Mathieu, Zürich 1999.
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Hans Fischer: Johann Jakob Scheuchzer, Naturforscher und Arzt (= Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich). Leemann, Zürich 1973.
Michael Kempe: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die Sintfluttheorie. Bibliotheca-Academica-Verl., Epfendorf 2003 (= Frühneuzeit-Forschungen; 10), ISBN 3-928471-33-3.
Bernhard Milt: J. J. Scheuchzer und seine Reise ins Land Utopia. In: Notizen zur schweizerischen Kulturgeschichte. Bd. 91 (1946) S. 143–146.
Irmgard Müsch: Geheiligte Naturwissenschaft. Die Kupfer-Bibel des Johann Jakob Scheuchzer. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, ISBN 3-525-47903-4.
Eberhard Rohse: Paläontologisches Behagen am Sinflutort. Naturhistorie und Bibel in und um Raabes «Stopfkuchen». In: Sören R. Fauth, Rolf Parr, Eberhard Rohse (Hrsg.): «Die besten Bissen vom Kuchen.» Wilhelm Raabes Erzählwerk: Kontexte, Subtexte, Anschlüsse. Wallstein, Göttingen 2009, ISBN 978-3-8353-0544-1, S. 63–116 (hier insbes. S. 72–85: «Odfeld»-Exkurs: Noah Buchius als Sintflut-Paläontologe – «Homo diluvii testis».)
Hermann Alfred Schmid: Die Entzauberung der Welt in der Schweizer Landeskunde. Diss. Basel 1942, S. 98–161.
Rudolf Steiger: Johann Jakob Scheuchzer I. Werdezeit (bis 1699). Leemann, Zürich 1930 (= Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft XV/1; 1927) [Diss. Zürich 1927; mehr nicht erschienen].
Rudolf Steiger: Verzeichnis des wissenschaftlichen Nachlasses von Johann Jakob Scheuchzer. (= Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich. LXXVIII), Zürich 1933.
↑ Tilmann Walter: Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und seine Kontakte zur Leopoldina. In: Wolfgang U. Eckart und Heinz Schott (Hrsg.)(2022): Strategien der Kommunikation von Naturwissen und Medizin. Zeitschriften gelehrter Akademien in der frühen Neuzeit. Acta Historica Leopoldina (81), Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, S. 167 f.
↑Wolfgang Michel: Johann Caspar Scheuchzer (1702–1729) und die Herausgabe der History of Japan. In: Asiatische Studien / Études Asiatiques. Band 64, Nr. 1, 2010 Zurich Open Repository and Archive ZORA S. 101–137.
↑Andreas Mettenleiter: Das Juliusspital in Würzburg. Band III: Medizingeschichte. Herausgegeben vom Oberpflegeamt der Stiftung Juliusspital Würzburg anlässlich der 425jährigen Wiederkehr der Grundsteinlegung. Stiftung Juliusspital Würzburg (Druck: Bonitas-Bauer), Würzburg 2001, ISBN 3-933964-04-0, S. 411, Anm. 88.