Klassischer Wiener-Raum

Der klassische Wiener-Raum bezeichnet in der Stochastik den Raum, auf dem Norbert Wiener sein Wiener-Maß im Jahre 1923 konstruiert hat. Wiener selbst nannte diesen Raum Differentialraum (englisch Differential-Space).[1] Er konstruierte das Wiener-Maß als ein Gaußsches Maß auf einer unendlichdimensionalen Sphäre im Funktionenraum der stetigen Funktionen auf dem Interval .

Den Wiener-Raum nennt man klassisch zur Unterscheidung zwischen dem von Wiener betrachteten Raum und der von Leonard Gross verallgemeinerten Konstruktion des abstrakten Wiener-Raumes.

Der klassische Wiener-Raum

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Die Wiener-Sphäre

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Wiener betrachtete Differentiale eines Pfades der brownschen Bewegung. Dass die brownsche Bewegung eigentlich nirgends-differenzierbar ist (außer im distributionalen Sinne), bewies er erst rund 10 Jahre später.[2] Informell berechnete er die -Norm von unter Verwendung der Eigenschaft [3]

und somit .

Inspiriert durch Diskussionen mit Paul Lévy sah Wiener auf der unendlichdimensionalen Sphäre mit Radius und interpretierte die Normalverteilung als die Gleichverteilung auf der Sphäre.[4] Diese Vorstellung geht zurück auf Henri Poincaré.[5] Poincaré bemerkte, dass wenn ein Zufallsvektor der Gleichverteilung auf oder äquivalent unter Skalierung auf folgt, dann gilt für den Grenzwert fixierter Punkte in der unendlichdimensionalen Sphäre

Sei nun ein Beispielpfad der eindimensionalen Standard-Brownschen-Bewegung und eine Orthonormalbasis von , dann induziert die Abbildung

definiert durch

einen Isomorphismus zwischen der brownschen Bewegung und dem Raum mit der Grenzwert-Verteilung von Poincaré

[6]

Herleitung des Wiener-Raumes

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Sei ein Wahrscheinlichkeitsraum.

Es gibt unterschiedliche Wege einen stochastischen Prozess zu sehen. Die klassische Interpretation ist, dass ein stochastischer Prozess eine Familie von Zufallsvariablen mit der Index-Menge ist, induziert durch Ein stochastischer Prozess ist aber auch eine Familie von Zufallsfunktionen (englisch random functions) für jedes induziert durch

Die Zufallsfunktionen sind Punkte im Funktionenraum aller Funktionen von nach . Es ist bekannt, dass man den Raum mit dem Produktraum identifizieren kann und wir betrachten somit eine Abbildung Möchten wir nun einen -dimensionalen reellen Prozess definieren und wählen , so werden wir in Probleme der Messbarkeit laufen. Deshalb definieren wir die Koordinaten-Abbildungen durch

welche einen stochastischen Prozess bilden und definieren deren kleinste σ-Algebra . Die Zufallsvariable nennt man auch kanonische Version von oder Koordinaten-Funktional ([7]). Weiter existiert eine Abbildung definiert durch

Ein stochastischer Prozess ist somit genau dann ein stochastischer Prozess, wenn er -messbar ist.[8]

Für ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf können wir nun eine Familie von endlichdimensionalen Verteilungen für durch

definieren, wobei die Menge

Zylindermenge genannt wird und die kleinste σ-Algebra aller Zylindermengen in bezeichnet.[9] Umgekehrt gilt nach dem Erweiterungssatz von Daniell-Kolmogorov, dass für jede konsistente Familie ein Wahrscheinlichkeitsmaß existiert, so dass

gilt.[10] Dies führt zur Konstruktion des Wiener-Maßes der brownschen Bewegung.

Satz von Wiener

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Es existiert ein eindeutiges Wahrscheinlichkeitsmaß auf dem Raum der -dimensionalen reellen Funktionen, die stetig auf sind und Null auf Null abbilden,

so dass der Koordinaten-Prozess die brownsche Bewegung ist. Dieses Maß nennt man Wiener-Maß.

heißt klassischer Wiener-Raum. In der Literatur wird auch das Tripel selbst als klassischer Wiener-Raum bezeichnet, wobei die kleinste σ-Algebra der Koordinaten-Abbildungen ist und mit der borelschen σ-Algebra übereinstimmt.

Erläuterungen zur σ-Algebra

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Sei . Dann gilt , wobei hier mit die Borelsche σ-Algebra notiert ist.[11]

Der klassische Wiener-Raum für mit der Supremumsnorm

ist ein separabler Banach-Raum, da kompakt und die Funktionen stetig sind. Für benötigt man zusätzlich die Bedingung , damit man einen Banach-Raum unter Supremumsnorm erhält.

  • Daniel Revuz und Marc Yor: Continuous Martingales and Brownian Motion. In: Springer (Hrsg.): Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. Band 293, 1999 (englisch, Kapitel 1 und 3).
  • Hui-Hsiung Kuo: Gaussian Measures in Banach Spaces. 1975.

Über die Wiener-Sphäre

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  • H. P. McKean: Geometry of Differential Space. In: Institute of Mathematical Statistics (Hrsg.): The Annals of Probability. Band 1, Nr. 2, 1973, S. 197–206, doi:10.1214/aop/1176996973 (projecteuclid.org).
  • Nigel Cutland und Siu-Ah Ng: The Wiener Sphere and Wiener Measure. In: Annals of Probability. Band 21, Nr. 1, Januar 1993, S. 1 - 13, doi:10.1214/aop/1176989390.
  • Nigel J. Cutland: Brownian motion on the Wiener sphere and the infinite–dimensional Ornstein–Uhlenbeck process. In: Stochastic Processes and their Applications. Band 79, Nr. 1, 1999, S. 95–107, doi:10.1016/S0304-4149(98)00072-6 (sciencedirect.com).
  • Nigel J. Cutland: 3. Stochastic Calculus of Variations. In: Loeb Measures in Practice: Recent Advances. In: Springer (Hrsg.): Lecture Notes in Mathematics. Band 1751. Berlin, Heidelberg 2000, doi:10.1007/978-3-540-44531-9_3.

Allgemein historisches zu Wieners Konstruktion

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  • Arthur Genthon: The concept of velocity in the history of Brownian motion: From physics to mathematics and back. arxiv:2006.05399 (Geschichte zur Wieners Konstruktion).

Einzelnachweise

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  1. Norbert Wiener: Differential-Space. In: Journal of Mathematics and Physics. Nr. 2, 1923, doi:10.1002/sapm192321131 (wiley.com).
  2. Paley, R.E.A.C., Wiener, N. & Zygmund: A. Notes on random functions. In: Math Z. Band 37, 1933, S. 647–668, doi:10.1007/BF01474606.
  3. N. J. Cutland: 3. Stochastic Calculus of Variations. In: Loeb Measures in Practice: Recent Advances. In: Springer (Hrsg.): Lecture Notes in Mathematics. Band 1751. Berlin, Heidelberg 2000, doi:10.1007/978-3-540-44531-9_3.
  4. H. P. McKean: Geometry of Differential Space. In: Institute of Mathematical Statistics (Hrsg.): The Annals of Probability. Band 1, Nr. 2, 1973, S. 197–206, doi:10.1214/aop/1176996973 (projecteuclid.org).
  5. Henri Poincaré: Calcul des probabilités. Hrsg.: Gauthier-Villars. Paris 1912 (bnf.fr).
  6. H. P. McKean: Geometry of Differential Space. In: Institute of Mathematical Statistics (Hrsg.): The Annals of Probability. Band 1, Nr. 2, 1973, S. 197–198, doi:10.1214/aop/1176996973 (projecteuclid.org).
  7. A. S. Üstünel: Analysis on Wiener Space and Applications. Hrsg.: arXiv. 2010, S. 1, doi:10.48550/ARXIV.1003.1649, arxiv:1003.1649 [abs].
  8. Daniel Revuz und Marc Yor: Continuous Martingales and Brownian Motion. In: Springer (Hrsg.): Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. Band 293, 1999 (englisch, Kapitel 1 und 3).
  9. Ioannis Karatzas und Steven E. Shreve: Brownian Motion and Stochastic Calculus. Hrsg.: Springer Verlag. 1988, S. 49.
  10. Ioannis Karatzas und Steven E. Shreve: Brownian Motion and Stochastic Calculus. Hrsg.: Springer Verlag. 1988, S. 50.
  11. René L. Schilling und Lothar Partzsch: Brownian Motion: An Introduction to Stochastic Processes. Hrsg.: De Gruyter. 2012.