Ein Kräuterbuch (auch Herbar bzw. lateinisch Herbarius; italienisch Erbario oder Erbario farmaceutico) ist ein pharmakognostischesNachschlagewerk, das (oft mit Abbildungen, Herbarium pictum[1]) Heilpflanzen und sonstige Arzneidrogen beschreibt und deren Anwendung erläutert. Sind auch Pflanzen („Kräuter“) die bestimmende Gruppe, so werden ebenfalls arzneilich verwendete Tiere, Mineralien sowie tierische und menschliche Produkte behandelt. Auch im seinerzeit weit verbreiteten Gart der Gesuntheit von 1485 wird unter Kraut bzw. Kräutern (kruter) eine Arzneidroge verstanden, die aus dem Pflanzen-, Tier- oder Mineralreich stammt.[2] Das Wort „Kräuterbuch“ (von niederländisch „Cruijdeboeck“) wurde erstmals im 16. Jahrhundert gebräuchlich.[3]
Die Geschichte der Kräuterbücher lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen.[4] Als frühestes Kräuterbuch im Sinne einer eigenständigen und komplexen Drogenmonographie[5] gilt das im 4. Jahrhundert v. Chr. entstandene Rhizotomikón des griechischen Arztes Diokles von Karystos. Das älteste erhaltene Kräuterbuch ist der reich illustrierte, spätantike Wiener-Dioskurides-Kodex, ein Geschenk der Bürgerschaft von Honoratae an die Aristokratin Anicia Juliana in Konstantinopel (vor 512), dessen Vorlage im ersten Jahrhundert entstanden war.[6] Im 4. Jahrhundert entstand ein fälschlich dem Apuleius zugeschriebenes, später vielbenutztes illustriertes Kräuterbuch[7] (Herbarius). Solche und ähnliche Werke bleiben jedoch bis in das Spätmittelalter eher Ausnahmen, erst seit Beginn der Neuzeit werden Kräuterbücher durchgehend illustriert.
Zu den bezüglich ihrer Pflanzenillustrationen stärker an der Naturbeobachtung orientierten mittelalterlichen Handschriften gehören das Erbario Carrarese[12] (Ms. Egerton 2020 im Britischen Museum, um 1400) und der Codex Roccabonella (Cod. lat. 59.2548 in der Biblioteca Marciana in Venedig, um 1419/1420). Der Text des in Padua hergestellten Erbario Carrarese geht auf den Liber aggregatus in medicinis simplicis des Pseudo-Serapion zurück, die Ausstattung mit Illustrationen auf das Ms. Egerton 747 des Circa instans. Verfasser der auch Rinio-Herbar[13] genannten, von dem Maler Andrea Amadio illustrierten, Kompilation Codex Roccabonella, für die es keine direkte Textvorlage gibt, dessen Illustrationen jedoch mit denen des Erbario Carrarese weitgehend übereinstimmen, war wahrscheinlich der Arzt Niccolo Roccabonella[14] aus Conegliano.[15]
Nach Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern konnten Bücher hergestellt werden, die – im Gegensatz zu Handschriften – einigermaßen erschwinglich waren und daher weit größere Verbreitung fanden: Gerade die Kräuterbücher, die landessprachlich veröffentlicht wurden (und nicht in Latein, der Sprache der Gelehrten) waren ein verlegerischer Erfolg. In Frankreich, England und anderen europäischen Ländern, ganz besonders aber in Deutschland, sind zahlreiche Ausgaben von der Frühen Neuzeit bis in das 18. Jahrhundert erschienen.
Bereits zuvor – im Jahr 1484 – hatte Schöffer den Herbarius moguntinus („in Mainz gedrucktes Kräuterbuch“) herausgegeben, der lange als das erste im deutschsprachigen Raum gedruckte Kräuterbuch galt. Allerdings hatte der Buchdrucker Bartholomäus Ghotan bereits 1483 in Magdeburg das als pharmakologisch-nosologisches Handbuch angelegte Promptuarium medicinae[19] als ersten niederdeutschen (elbostfälischen)[20] Kräuterbuch-Druck herausgegeben.
Das erste gedruckte englische Kräuterbuch erschien 1525, das erste illustrierte Kräuterbuch Englands, das Grete Herball, wurde 1526 erstmals gedruckt.[23]
Kräuterbücher sind in erster Linie Fachbücher für Ärzte und Apotheker. Aber den Autoren war es meist auch wichtig, Arzneimittel- und Pflanzenkenntnisse über die Fachkreise hinaus dem Laien zu vermitteln oder auch den Arzneipflanzenanbau zu empfehlen.
Besonders bemerkenswert sind die Kräuterbücher der so genannten „Väter der Botanik“. Sie geben die behandelten Arzneipflanzen (meist) in naturgetreuen Abbildungen wieder. Zu ihnen zählt Hieronymus Bock (1498–1554), der detailliert und nach eigener Anschauung einheimische, vor allem in Südwestdeutschland wachsende Pflanzen beschreibt, wobei er viele morphologische Details als Erster erwähnt. Die Erstausgabe seines Kreutter Buch von 1539 hatte keine Abbildungen, diese finden sich dann in den Ausgaben seit 1546.[24]
Ist bei Bock der originelle Text bemerkenswert, fällt dieser bei De historia stirpium (1542), in deutscher Übersetzung unter New Kreuterbuch (1543) von Leonhart Fuchs (1501–1566), im zeitgenössischen Vergleich etwas ab. Ganz anders werden dagegen die Illustrationen beurteilt, die mit größter Sorgfalt erstellt sind, bestechend naturgetreu und botanisch von höchstem Rang. Diese Holzschnitte wurden in zahlreiche andere Werke (verkleinert, seitenverkehrt nachgeschnitten etc.) übernommen.
Als dritter „Vater der Botanik“ ist Otto Brunfels (1488–1534) zu nennen. 1530 erschienen seine Herbarum vivae eicones, 1532 in Straßburg bei Hans Schott das Contrafayt Kreüterbuch. Ganz besonders erfolgreich als Autor war der Arzt Pietro Andrea Mattioli (1500–1577). Seine als „Dioskurides-Kommentar“ bekannten und von ihm kommentierten Übersetzungen der „De materia medica“ des griechischen Arztes Pedanios Dioscurides erschienen in etwa 60 Ausgaben und mehreren Sprachen; nach seinem Tod bearbeitet, unter anderem durch Joachim Camerarius dem Jüngeren, Bernhard Verzascha und Theodor Zwinger. Jakob Theodor (Tabernaemontanus, 1520/1530–1590) schrieb ein Kräuterbuch, das zu den ausführlichsten und originellsten gehört. Zu seinen Lebzeiten wurde lediglich der erste Band des Neuw Kreuterbuch 1588 gedruckt. 1591 folgten der zweite und dritte Band.
In die Neuzeit weisen dann die Werke der zu den bedeutendsten Botanikern ihrer Zeit zählenden Flamen Rembert Dodoens (Dodonaeus, 1517–1585, Cruijdeboeck[25]), Matthias de L’Obel (1538–1616) und Charles de l’Écluse (Clusius, 1526–1609).
„Kräuterbücher“ des 20. Jahrhunderts sind etwa Heinrich MarzellsNeues illustriertes Kräuterbuch (erschienen 1921 in Reutlingen) und das dreibändige Das neuzeitliche Kräuterbuch. Die Arzneipflanzen Deutschlands in alter und neuer Betrachtung von dem Apothekendirektor Ludwig Kroeber (in 4. Auflage erschienen 1948 im Hippokrates-Verlag Marquardt & Cie. in Stuttgart).
Hans Amsler: Ein handschriftlicher illustrierter Herbarius aus dem Ende des 15. Jahrhunderts und die medizinisch-botanische Literatur des Mittelalters. Dissertation Zürich, Herzogenbuchsee 1925.
Frank J. Anderson: An illustrated history of the herbals. New York 1977.
Frank J. Anderson: Herbals through 1500. 2 Bände. New York 1983–1984 (= The illustrated Bartsch. Band 90).
Agnes Arber: Herbals: Their Origin and Evolution. A chapter in the history of botany. 1912; 2. Auflage Cambridge 1938; Neudruck ebenda 1953.
Susanne Baumann: Pflanzenabbildungen in alten Kräuterbüchern. Die Umbelliferen in der Herbarien- und Kräuterbuchliteratur der frühen Neuzeit. (= Heidelberger Schriften zur Pharmazie- und Naturwissenschaftsgeschichte. 15). Stuttgart 1998, ISBN 3-8047-1568-0.
Christina Becela-Deller: Ruta graveolens L. Eine Heilpflanze in kunst- und kulturhistorischer Bedeutung. (Mathematisch-naturwissenschaftliche Dissertation Würzburg 1994) Königshausen & Neumann, Würzburg 1998 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 65). ISBN 3-8260-1667-X, S. 144–183.
Otto Beßler: Das deutsche Hortus-Manuskript des Henricus Breyell. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1952 (= Nova acta Leopoldina. Neue Folge, XV, 107), S. 191–266 (mit ausfaltbarer Stammtafel der Kräuterbuch-Inkunabeln und des Hortus Breyell).
Henrike Fricke: Die Geschichte der Kräuterbuchliteratur unter besonderer Berücksichtigung des „Herbarium Siegesbeckianum“. Grin, 2017, ISBN 978-3-668-49375-9. (Bachelorarbeit 2013)
K. E. Heilmann: Kräuterbücher in Bild und Geschichte. Kölbl, München-Allach 1973.
Johannes Helm, Peter Hanelt: Das „Kreutterbuch“ von Johannes Kentmann aus dem Jahre 1563. In: Johannes Helm (Hrsg.): Johannes Kentmann (1518–1574). Ein sächsischer Arzt und Naturforscher. (= Sudhoffs Archiv. Beiheft 13). F. Steiner, Wiesbaden 1971, S. 89–177.
Michael Jakob, Eva Raffel (Hrsg.): Spiegel der Natur. Kräuterbücher aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Silvana Editoriale, Cinisello Balsamo, Mailand 2023, ISBN 978-88-366-4687-6.
Gundolf Keil: „Gart“, „Herbarius“, „Hortus“. Anmerkungen zu den ältesten Kräuterbuch-Inkunabeln. In: Gundolf Keil (Hrsg.): „gelêrter der arzenîe, ouch apotêker“. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Festschrift Willem Frans Daems (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 24). Pattensen, Hannover/ Königshausen & Neumann, Würzburg 1982, S. 589–635.
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Gerhard Bahn (Hrsg.): Das „Lexicon plantarum“ (Handschrift 604 der Münchener Universitätsbibliothek): Ein Vorläufer der deutschen Kräuterbuchinkunabeln, Teil II (= Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Naturwissenschaften. Band 3). Würzburg 1941. (Mathematisch-naturwissenschaftliche Dissertation Berlin)
Werner Thode (Hrsg.): Das „Lexicon plantarum“ (Handschrift 604 der Münchener Universitätsbibliothek). Ein Vorläufer der deutschen Kräuterbuch-Inkunabeln, Teil III (= Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Naturwissenschaften. Band 4) (Mathematisch-naturwissenschaftliche Dissertation) Berlin 1942.
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↑Vgl. etwa Pedacii Dioscoridis Anazarbaei Kraeuterbuch […]. Ins Deutsche übersetzt von Johannes Danzius. Petrus Uffenbach, Frankfurt am Main 1610; Neudruck Grünwald bei München 1964.
↑Lynn Thorndike, Francis S. Benjamin Jr. (Hrsg.): The herbal of Rufinus [= Liber De virtutibus herbarum …], edited from the unique manuscript. Chicago 1945; anastatische Nachdrucke ebenda 1946 und 1949 (= [nur die Nachdrucke] Corpus of mediaeval scientific texts. Band 1).
↑Felix Andreas Baumann: Das Erbario Carrarese und die Bildtradition des Tractatus de herbis. Ein Beitrag zur Geschichte der Pflanzendarstellung im Übergang vom Spätmittelalter zur Frührenaissance. Bern 1974 (= Berner Schriften zur Kunst. Band 12).
↑Vgl. Ettore de Toni: Il libro dei semplici di Benedetto Rinio. In: Memorie della Pontificia Accademia Romana dei Nuovi Lincei, Ser. II. Band 5, 1919, S. 171–279, Band 7, 1924, S. 275–398, und Band 8, 1925, S. 123–264.
↑M. Minio: Il quattrocentesco codice “Rinio” integralmente rivendicato al medico Nicolo Roccabonella. In: Atti del Ist. Ven. die Sc., Lettere ed Arti, Classe di Sc. morali e Lettere. Band 111, 1952/1953, S. 49–64.
↑Christina Becela-Deller: Ruta graveolens L. Eine Heilpflanze in kunst- und kulturhistorischer Bedeutung. 1998, S. 169–172, 178 f., 218 und 241.
↑De proprietatibus rerum. Köln: Drucker der Flores Sancti Augustini (Jan Veldener). Vielmehr Johann Schilling (Solidi) auf Kosten von William Caxton, um 1471 (Digitalisat).
↑Johannes G. Mayer: Die ersten gedruckten Kräuterbücher und das Angelika-Wasser der Donaueschinger Taulerhandschrift. In: Würzburger Fachprosa-Studien. Beiträge zur mittelalterlichen Medizin-, Pharmazie- und Standesgeschichte aus dem Würzburger medizinhistorischen Institut, [Festschrift] Michael Holler zum 60. Geburtstag. (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. 38). Königshausen & Neumann, Würzburg 1995, ISBN 3-8260-1113-9, S. 156–177; hier: S. 158 f.
↑Agnes Arber: Herbals. Their origin and evolution. Cambridge 1912, S. 10.
↑Peter Seidensticker (Hrsg.): Das Promptuarium medicinae: Magdeburg: Bartholomäus Ghotan 1483. (= Corpus herbariorum. Band 1). Schauenburg, Lahr 1990, ISBN 3-7946-0263-3.
↑Peter Seidensticker: ‚Promptuarium medicinae‘ (‚Beredicheyt der artzedige‘, ‚[Schone] Arstedyge boeck‘). In: Verfasserlexikon. 2. Auflage. Band 7, Sp. 864–867.
↑Ute Obhof: Rezeptionszeugnisse des „Gart der Gesundheit“ von Johann Wonnecke in der Martinus-Bibliothek in Mainz – ein wegweisender Druck von Peter Schöffer. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018, S. 25–38, hier: S. 25.
↑Johanna S. Belkin, Earle R. Caley: Eucharius Rösslin the Younger, On Minerals and Mineral Products. Chapters on Minerals from his „Kreutterbůch“: Critical text, English translation and commentary. (= Ars medica. IV, 1). Berlin / New York 1978.
↑Brigitte Hoppe: Das Kräuterbuch des Hieronymus Bock. Wissenschaftshistorische Untersuchung, mit einem Verzeichnis sämtlicher Pflanzen des Werkes, der literarischen Quellen, der Heilanzeigen und der Anwendungen der Pflanzen. Stuttgart 1969.