Percevax (Percevaus)[2] ou Li Contes del Graal[3] (altfranzösisch); Perceval ou Le Conte du Graal (neufranzösisch).
Perceval oder die Geschichte vom Gral ist der fünfte, längste und letzte höfische Versroman des Trouvères Chrétien de Troyes. Dieses Meisterwerk der französischen Literatur des Mittelalters entstand zwischen 1181 und 1191.[4] Der champagnische Autor hat diesen Artusroman seinem Auftraggeber und Mäzenen gewidmet, dem Kreuzfahrer Philipp von Elsass, Graf von Flandern.
„Perceval oder die Geschichte vom Gral“ ist die literarische Geburt des geheimnisumwitterten Gralmythos. Der französische Mediävist und Romanist Philipp Walter stellt fest:
« Chrétien est bien l'inventeur du ‹mythe du Graal. »
„Chrétien ist in der Tat der Erfinder des ‹Gralmythos›.“[5]
In Vers 8 beschreibt Chrétien sein Werk als einen « romans ». Dies bedeutet, seine Erzählung ist in romanischer (altfranzösischer) Volkssprache gedichtet und nicht, wie im Mittelalter üblich, auf Latein.
Der Versuch des Trouvères Chrétien, profane Ritterlichkeit (in den Gauvain-Abenteuern) und die spirituelle Gralsuche (« Queste ») Percevals mit christlichen Motiven zu verbinden, blieb unvollendet. Die mittelalterliche Leserschaft fieberte ungeduldig einer Auflösung entgegen. So entstand eine Flut von Gral- und arturischen Rittererzählungen, zunächst in Frankreich und Europa, dann weltweit bis in die Gegenwart hinein.
Im Prolog seines Contes del Graal vergleicht sich der champagnische Autor metaphorisch mit einem Sämann:[6]
v 7 Crestiens seme et fet semance
v 8 D’un romans que il ancomance
Chrétien sät und streut den Samen aus
Eines Romans, den er beginnt[7]
Diese Prophezeiung sollte sich bewahrheiten. Die literarische Saat ging reichlich auf. Zahllose Epigonen bemächtigten sich eifrig des Stoffes und schufen unterschiedliche Fortsetzungen des unvollendeten Romans.
Das Versfragment Li Contes del Graal umspannt – je nach Handschrift – bis zu 9.234 gepaarte Achtsilber. Zwei Artusritter teilen sich die Handlung. 5000 Verse sind Perceval als Protagonisten gewidmet, und 4000 Verse berichten von den vielen Abenteuern Gauvains.[8] Dieser höfische Versroman verbindet Artusepik mit dem Gral-Mythos, der in Richtung christlicher Heilsrituale weist, was Epigonen in zahlreichen Perceval-Fortsetzungen gerne aufgreifen werden.[9]
Der Prolog (Verse 1-68)
Chrétiens Prolog ist zum einen ein Panegyrikus, eine Lobrede auf seinen Mäzen und Auftraggeber, den Grafen von Flandern, Philipp von Elsass und zum anderen ein Eigenlob mit einem Hinweis auf eine – bis in die Gegenwart – unbekannte Quelle, ein Buch, das der Graf ihm übergeben habe, auf dass er daraus eine Geschichte in Versen reime, „die beste, die je am Königshofe erzählt werde“:
v 62 Crestiens, qui antant et peinne
v 63 a rimoier le meillor conte,
v 64 par le comandement le conte,
v 65 qui soit contez an cort real.
v 66 Ce est li contes del graal,
v 67 don li cuens li baille le livre
Chrétien bemüht sich
die beste Geschichte zu reimen
im Auftrag des Grafen
die je am Königshof erzählt wurde
das ist die Erzählung vom Gral
zu welcher der Graf ihm ein Buch übergab
Begegnung mit den Rittern (Verse 68-337)
Der junge Waliser, französisch Perceval, le Gallois, lebt bei seiner verwitweten Mutter auf dem Lande im keltischen Britannien. Sie versucht, ihren Sohn von der Welt abzuschirmen, weil ihre anderen Söhne im Kampf gefallen sind. Der Erzähler charakterisiert ihn als einfältig:
„li vaslez qui nices fu“
„der Jüngling, der einfältig war“
Wolfram von Eschenbach wird den jungen Parzival später als einen tumben Tor bezeichnen.
Das Schicksal will, dass dem Knaben im Wald fünf Ritter begegnen, die er in seiner Tölpelhaftigkeit für Engel hält. Wenn er Ritter werden wolle, solle er zum Hofe von König Artus reisen.
Abschied von der Mutter (Verse 338-592)
Die erschrockene Mutter versucht, Perceval von seinem Vorhaben abzubringen, Ritter zu werden. Sie enthüllt ihm seine adlige Herkunft, den Tod seines Vaters und seiner Brüder. Drei Tage später – seine Mutter gibt ihm noch einige Moralregeln mit auf den Weg – bricht Perceval auf, ohne sich weiter um das Leid der Mutter zu scheren. Zu Pferd sieht er noch, wie die Mutter vor Schmerz vor dem Herrenhaus zusammenbricht, was ihn aber nicht weiter kümmert.
Das Fräulein im Zelt
Perceval gelangt zum Artushof und besiegt den Roten Ritter
Gornemant de Goort schlägt Percevax zum Ritter
Im Schloss von Blanchefleur de Beaurepaire
Perceval auf der Gralsburg (Verse 3004-3380)
Der einfältige Tor, Perceval, der noch nicht einmal seinen Namen weiß (Verse 3055-3562), überschreitet nach einem langen Ritt die „Schwelle zu einem andersweltlichen Bereich“.[10] Er erreicht die Gralsburg. Als Gast des verwundeten Fischerkönigs, altfranzösisch Roi Pescheor, wird der walisische Ritter Zeuge eines vom Erzähler absichtlich im Geheimnisvollen gelassenen Umzuges. Eine blutende Lanze und ein Gral ziehen an ihm vorbei:
v 3208 .I. graal antre ses .ii. mains
v 3210 une dameisele tenoit
[…]
v 3220 Le graal, qui aloit devant,
v 3221 de fin or esmeré estoit ;
v 3222 pierres precieuses avoit
v 3223 el graal de maintes menieres,
v 3224 des plus riches et des plus chieres
v 3225 qui an mer ne an terre soient.
Einen Graal zwischen ihren zwei Händen
Hielt eine Jungfrau.
[…]
Der Gral, der vorausging
War aus feinem reinen Golde
Edelsteine hatte
Der Gral, der verschiedensten Art
Der reichsten und teuersten
Die es im Meer und in der Erde gibt.
In diesen zitierten Versen erfährt der geheimnisvolle Gegenstand Gral seine literarische Première.[11]
Perceval begeht nun einen folgenschweren Fehler, weswegen ihm ein unseliges Leben droht. Aus falscher Rücksicht versäumt er es, den Fischerkönig nach dem Grund seines Leidens, nach der Bedeutung der blutenden Lanze und der des Grals zu fragen. Er wusste nicht, dass er mit dieser Frage den Fischerkönig hätte heilen und erlösen können. Als er am nächsten Morgen aufwacht, findet er die Gralsburg vollkommen leer vor.
Percevax erahnt seinen Namen
Percevax kennt zunächst seinen Vornamen nicht, denn seine Mutter hatte ihn immer nur mit « Biax Filz » (schöner Sohn) angesprochen. Erst im Dialog mit seiner Cousine erinnert er sich wieder:
v 3558 Comant avez vos non, amis ?
v 3559 Et cil qui son non ne savoit
v 3560 devine et dit que il avoit
v 3561 Percevax li Galois a non,
v 3562 et ne set s’il dit voir ou non
Wie lautet Ihr Name, Freund?
Und er, der seinen Namen nicht wusste
rät und sagt er habe ihn,
Perceval, der Waliser sei sein Name
und er wisse nicht, ob es wahr ist.
Die Cousine erzählt dem jungen Waliser, dass die Mutter am Tage seines Auszugs vor Herzeleid tot zu Boden gefallen sei.
Perceval meditiert über drei Blutstropfen im Schnee
Sie erinnern ihn an Blanchefleur.
Der Waliser kehrt an den Hofe Königs Artus zurück
Das hässliche Fräulein verflucht Perceval
Es erscheint am Artushof ein Fräulein von unbeschreiblicher Hässlichkeit:
v 4594 onques riens si leide a devise
v 4595 ne fu neïs dedanz anfer
niemals hat es etwas so hässliches gegeben
selbst in der Hölle nicht
Es verflucht Perceval, weil er am Artushofe stumm geblieben sei. Perceval gelobt daraufhin, solange nicht zu ruhen, bis er die Bestimmung des Grals und der blutenden Lanze ergründet habe.
Perceval reitet fort auf spirituelle Gralsuche
Ab Vers 4787 verschwindet Perceval zunächst völlig aus der Erzählung. Er erscheint nur noch einmal kurz in einem Einschub, und zwar in der kurzen Karfreitags-Episode, bei dem Besuch einer Eremitage:
Perceval beim Eremiten (Verse 6027-6434)
Fünf Jahre irrt Perceval in der Welt umher, gottvergessen, aber Heldentaten anhäufend. An einem Karfreitag trifft er eine Prozession, die ihn zu einem Einsiedler führt. Perceval erkennt seine Sünden, legt eine Beichte ab. Der Gral wird christianisiert. Er ist Träger der Hostien, von denen sich der Fischerkönig, der Gralkönig, der die höchste Form der Spiritualität erreicht hat, ausschließlich ernährt.
Der Erzähler oder der Kopist der Handschrift interveniert in den Versen 4785-4787 und erläutert:
v 7785 et messire Gauvains s’an va.
v 4786 Des avantures qu’il trova
v 4787 m’orrez vos parler maintenant
und Herr Gauvain zieht fort
Von den Abenteuern, die er erlebt
werdet Ihr mich jetzt sprechen hören
Gauvain kämpft beim Turnier von Tintagel
Gauvain besteht die Prüfung auf dem Wunderbett, altfranzösisch « Lit de la Mervoille », oder « lit périllieus » (gefährliches Bett)
In dieser Episode schöpft der Autor aus dem Märchenhaften, Magischen, aus bretonischen Legenden.
Abrupter Abbruch der Erzählung
Inmitten der Handlung der Abenteuer Gauvains, nach gut 9.000 Versen, bricht die Erzählung des „alten Percevals“ unvermittelt ab und es beginnen die Fortsetzungen (continuations) Chrétiens Epigonen. Der Schlussvers lautet:
„« Explycyt Percevax le viel »“
„explicit Perceval, der Alte.“
Gemeint ist mit „der Alte“ der ursprüngliche Text Chrétiens, in Abgrenzung zu den Nachfolgeerzählungen, dem „neuen Perceval“.
Im Roman findet man zwei Erzählstränge, eine Perceval- und eine Gauvain-Handlung, spirituelle Suche (Quest, altfranzösisch queste) und ritterliches Abenteurertum (Âventiure).
So warf der Romanist Gustav Gröber um 1900 die Frage auf:
„ob im Conte del Graal nicht etwa zwei von Chrestien als selbständig gedachte Werke, eine Graaldichtung mit Perceval und eine Episodendichtung mit Gavain als Helden, vom nächsten Besitzer seines Manuskriptes absichtlich oder aus Missverständnis zu einem Werke verarbeitet worden seien…“
Der spanische Romanist Martín de Riquer hat 1957 die Vermutung Gröbers der Verschmelzung zweier ursprünglich voneinander unabhängigen Romanfragmengten wieder aufgegriffen. und versucht, die Richtigkeit dieser These zu beweisen.[13]
Der Romanisten Philipp August Becker und Stefan Hofer gingen einen Schritt weiter und sprachen Chrétien de Troyes aufgrund stilistischer Analysen gar die Autorschaft des Gauvain-Teils ab. Die Gauvain-Abenteuer stammten nicht von Chrétien, sondern seien das Werk eines ersten Fortsetzers. „Für Ph. Aug. Becker hört der Anteil Chrétiens am Werk unmittelbar nach Percevals Besuch der Gralsburg durch Perceval auf.“[14][15]
„Die Schwierigkeit, Vorstufen von Chrétiens Gralroman zu erschließen, liegt in der Eigenart mittelalterlicher volkssprachlicher Literatur begründet, in ihrem Status zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen mündlichem Erzählen und gelehrter Schriftkultur.“
Dies gilt besonders für die keltische Literatur. Es ist wahrscheinlich, dass es mündlich überlieferte keltische Erzählungen von einem mysteriösen Gefäß gab, das Bezug zu einer wunderbaren Speisung hatte.[16] Der literarische Stoff solcher märchenhafter, wundersamer Geschichten aus dem keltischen Kulturraum wird nach dem Anfang des Sachsenliedes, « Chanson des Saisnes », des im 12. Jahrhundert lebenden Dichters Jean Bodel als Matière de Bretagne bezeichnet:[17]
V6 Ne sont qe .III. matieres a nul home antandant:
V7 De France e de Bretaigne e de Rome la grant.
Es gibt nur drei Erzählkreise für jeden verständigen Menschen:
den vom Frankenreich, den von der Bretagne und den vom großen Rom.
In Vers 9 beschreibt Jean Bodel den keltisch-bretonischen Stoffkreis näher:
« Li conte de Bretaigne sont si vain e plaisant », Die Geschichten aus der Bretagne sind so eitel und gefällig. Die Matière de Bretagne ist die Welt der Fiktion, des Phantastischen, der Artusepik, der Gralerzählungen und der Lais der Marie de France, in der die mittelalterlichen Erzähler von Fortsetzungsromanen (frz. continuateurs, remanieurs) nach Belieben Ideen schöpfen konnten.[18]
Die Herkunft des Wortes Gral ist strittig.[19] Der französische Keltologe Joseph Vendryes stellt fest:
« Le mot graal n’a rien de celtique. Mais il est de fait qu’on rencontre dans mainte légende d’Irlande ou de Galles un vase plus au moins merveilleux qui joue son rôle dans le récit. »
„Das Wort Gral hat nichts Keltischen an sich. Aber es ist erwiesen, dass man in manch irländischer oder walisischer Sage ein mehr oder weniger wundersames Gefäß vorfindet, das sein Rolle in der Erzählung spielt.“
Chrétien de Troyes hat nicht nur den Gralsmythos in die Literatur eingeführt, er hat auch den Namen « Perceval » erfunden.[21] Den Namen eines Ritter « Percevaus » liest man zum ersten Mal in seinem ersten Artusroman Érec et Énide: « Percevaus li Galois », Vers 1506.[22] Auch in Chrétiens zweiten höfischen Roman Cligès tritt ein Ritter namens « Percevax li Galois » kurz in Erscheinung (z. B. in Vers 4774).[23] Eine Deutung des Namens bleibt Chrétien seinen Lesern schuldig.
Wolfram von Eschenbach erklärt die Bedeutung des Namens „Parzival“ (germanisierte Schreibweise) in seinem gleichnamigen Epos als „Mittenhindurch“:[24]
deiswâr du heizest Parzivâl.
der name ist Rehte enmitten durch.
grôz liebe ier solh herzen vurch
mit dîner muoter triuwe:
dîn vater liez ir riuwe.
Wahrlich Du heißt Parzival,
und der Name bedeutet ‹Mittenhindurch›.
große Liebe pflügte eine Furche durch das Herz
deiner treuen Mutter:
dein Vater ließ sie in ihrem Kummer zurück.
Sollte das Etymon altfranzösischen Ursprungs sein: « perc(ier) » „durchbohren“; « val, vax, vaus » „Tal“, so wäre der Name als „Dringe durchs Tal“ zu deuten. Volker Mertens bemerkt dazu, dass es kaum zu klären sei, ob zum Beispiel eine ursprünglich keltisch-walisische Gestalt „Peredur“ französiert worden sei oder nicht.[25]
„Mais, encore une fois, il n'y aurait pas eu de matière du Graal sans le roman de Chrétien.“
„Aber ich sage es noch einmal. Es hätte keine Gralthematik gegeben ohne den Roman Chrétiens.“
Wie im Prolog seines Versromans prophezeit, ging Chrétiens „literarische Saat“ in ungeahnter Fülle auf. Er pflanzte die Keimzelle zu einer Flut von Fortsetzungserzählungen.[26]
Kurz nach Chrétiens Tod, um 1190, erschienen bis ins Jahr 1225 vier Fortsetzungen in Versform zu Chrétiens Gralroman, die sogenannten « continuations du Conte du Graal ».[27][28]
C1 : die „Erste Fortsetzung“, „Continuation Gauvain“ oder auch „Pseudo-Wauchier“ genannt, zählt in ihrer längsten Fassung 19.600 Verse.[29] Sie enthält eine Einschiebung, Buch Caradoc oder Caradué genannt. Darin wird von einer Köpfungsprobe[30] berichtet, der sich Gauvain unterzieht, und welche einem späteren mittelenglischen Text, Sir Gawain and the Green Knight (14. Jh.), als Quelle dienen sollte.
C2 : die „Zweite Fortsetzung“, „Continuation Perceval“ oder auch „Continuation Wauchier-Denain“ genannt, umfasst 13.000 Verse.[31]
CM: die „Dritte Fortsetzung“, „Continuation Manessier“, ist 17.000 Verse lang.[32] Sie bietet eine erste Vollendung der Gralsgeschichte Chrétiens an:
« Des Continuations en vers, seule la troisième, dite aussi Continuation Manessier, termine l’aventure majeure et clôt le débat. »
„Von den Fortsetzungen in Versen, beendet nur die dritte, auch Manessier-Fortsetzung genannt, das große Abenteuer und schließt die Debatte.“
CG: die „Gerbert-Fortsetzung“, die „Continuation de Gerbert“, zählt 17.086 Verse.[33]
Mit den ca. 76.000 Fortsetzungs-Versen wuchs der Pflänzling des Sämanns Chrétien,Perceval oder die Geschichte vom Gral, von 9.234 Versen, auf gut 85.000 Verse.
Hinzu kommen noch zwei Prologe, Bliocadran (800 Verse. Erzählt wird die Geschichte von Percevals Vater, namens Bliocadran), und Élucidation (484 Verse. Es geht u. a. um das Geheimnis der Longinuslanze).[34]
Um 1300 schafft Robert de Boron eine Gralerzählung in Versen « Li Romanz de l’Estoire dou Graal » (altfranzösisch) oder kurz « Joseph d’Arimathie » genannt.[35] Es geht ihm darum, die Herkunft des mythischen Grals und seinen Weg bis zu Artus’ Tafelrunde zu erzählen. Robert de Boron stellt eine Verbindung mit der biblischen Geschichte und der Passion Jesu her. Er christianisiert keltische Legenden aus der « Matière de Bretagne », die in mündlicher Überlieferung von wundersamen magischen Gefäßen berichten. Der Gral wird zu einer Passionsreliquie, zum Hostienkelch, den Christus beim letzten Abendmahl benutzte, als er das Sakrament der Eucharistie einsetzte:[36]
v 395 Leenz eut un veissel mout gent
v 396 Où Criz feisoit son sacrement
v 397 Uns Juis le veissel trouva
v 398 Chiés Symon, se l’prist et garda,
Dort gab es ein sehr schönes Gefäß
In dem Christus sein Sakrament feierte.
Ein Jude fand das Gefäß
Im Haus von Simon, er nahm es und behielt es.
Schließlich knüpft Robert de Boron an die apokryphe Legende des Joseph von Arimathäa an. Im Abendmahlgefäß habe Joseph das allerheiligste Blut (vers 853 altfranzösisch « li saintimes sans ») des Gekreuzigten aufgefangen. Der Gral ist also der liturgische Kelch, der „Heilige“ Gral, der Wunder wirkt.
In den Handschriften, welche die Estoire dou Graal überliefern, schließen sich 504 Verse des zweiten Romans von Robert de Boron an: eine fragmentarische Merlin-Erzählung. Sie verbindet die Gral-Geschichte mit der Artusepik. Der prophetische Zauberer Merlin, Sohn eines Incubus, wird zum Erzieher des künftigen König Artus.
Diese fragmentarische Verserzählung sowie der Joseph d’Arimathie wurden alsbald in einen längeren Prosaroman aufgelöst. Es entstand eine Trilogie, die man den „Kleinen Gral-Zyklus“ (frz. Le Petit Graal) zu nennen pflegt, bestehend aus dem Prosa-Joseph, dem Prosa-Merlin und dem Didot-Perceval.
Im „Prosaroman von Merlin“[38] wird ein jeder Artusritter zu einem Miles christianus, zu einem Soldaten Christi. Die Ritter der Tafelrunde formen eine quasi religiöse Gemeinschaft.
Robert de Boron dichtete im Zeitalter der Kreuzzüge.
Weitere altfranzösische Bearbeitungen des Gral-Stoffes sind „Perlesvaus“ oder „Li Hauz Livres du Graal“, um 1200, sowie der umfangreiche „Große Gral-Zyklus“, kurz „Vulgata“, welcher zwischen 1215 und 1230 entstand,[39]
Der „Vulgata-Zyklus“ wird auch „Prosa-Lancelot-Gral-Zyklus“ genannt, weil hier Lancelot du Lac die Protagonistenrolle anstelle Percevals einnimmt. Pessimistisch arbeitet er auf den Untergang der Artuswelt hin: « La Mort le Roi Artu », „Der Tod des Königs Artus“, oder kurz altfranzösisch « La Mort Artu », heißt der letzte Teil der Vulgata.[40] Er schildert die tragische „Heldendämmerung“ der Artusritter. König Artus und sein inzestuöser und verräterischer Sohn Mordred töten sich gegenseitig im Duell:
„Einsi ocist li peres li fill, et e li filz navra le pere a mort.“
„Und so tötete der Vater den Sohn, und der Sohn verwundete den Vater tödlich.“
Die altfranzösische „La Mort le Roi Artu“ liegt dem in der anglophonen Welt sehr bekannten mittelenglischen Opus „Le Morte Darthur“ (sic!) des Dichters Thomas Malory (1458) als wichtige Quelle zugrunde.
In dem Bemühen anonymer mittelalterlicher Umgestalter, der « remanieurs », die vielen Erzählungen aus der „Matière de Bretagne“, beginnend bei Chrétien de Troyes’ höfischen Romanen,[41] in einer neuen Gesamt-Komposition zusammenzuführen, werden zu guter Letzt die Tristan-und-Isolde-Verserzählungen zu einem neuen Prosaroman aufgelöst, dem « Roman de Tristan en Prose ». Die altfranzösische Ausgabe von Philippe Ménard zählt über 2.000 Seiten.[42]
Im Prosa-Tristan, einem der größten Ritterromane des 13. Jahrhunderts, werden die berühmten ehebrecherischen Paare Tristan-Isolde und Lancelot-Guenièvre in einem Crossover zusammengebracht und rivalisieren um die Lesergunst des spätmittelalterlichen Publikums. Tristan wird in den Rang eines Artusritters erhoben und reiht sich als Verwandter biblischer Gralshüter in die Zahl derer ein, die auf Gralssuche gehen.[43]
Der Minnesänger Wolfram von Eschenbach ließ sich von Chrétiens „Perceval“ inspirieren und führte ca. 20 Jahre später, zwischen 1200 und 1210, mit seinem Parzival den unvollendeten Roman Chrétiens zu einem heilsgeschichtlichen Abschluss.
Der deutsche Mediävist und Germanist Joachim Bumke schreibt in seinem Buch „Wolfram von Eschenbach“, Wolfram habe eine Textfassung vorgelegen, die der altfranzösische Handschrift „R“ (heute Paris BnF Français 1450) ähnlich war:
„Die Quellenuntersuchungenn zum ›Parzival‹ haben zu dem Ergebnis geführt, dass Wolframs Vorlage der ›Conte du Graal‹ von Chrétien de Troyes war.“[44]
Wolframs mittelhochdeutsches Werk, 25.000 paarweise gereimte Verse, ist wesentlich umfangreicher als das unvollendete Opus seines altfranzösischen Vorbildes mit 9.234 Versen.
in Bearbeitung
Fünfzehn verschiedene Handschriften überliefern den Text oder Textteile des unvollendeten Versromans Li Contes del Graal. Vier davon enthalten nur den Percevaltext, die anderen bringen im Anschluss mindestens eine Fortsetzung (« continuation »). Die 15 Manuskripte werden in der Fachliteratur – unabhängig von den Bibliotheks-Signaturen – durch Sigel (Großbuchstaben) gekennzeichnet. Fünf Handschriften (M, P, S, T, U) sind illuminiert.[45]
Daneben existieren noch vier Manuskripte mit Fragmenten des Romans, welche der Mediävist Keith Busby mit den Kleinbuchstaben a, l, p, und q unterscheidet.[46]
A: Paris, BnF, fonds français 794, folia 361ra-394vc (erste Hälfte des 13. Jh., Dialekt champenois, ein einziger Kopist « Guiot »).
B: Bern, Burgerbibliothek 354, folia 208ra-283vb, mit verzierten Versalien,[47] (14. Jh., burgundischer Dialekt).
C: Clermont-Ferrand, Bibliothèque communautaire et interuniversitaire 248, nur Perceval (Ende 13. Jh., franzischer Dialekt. Handschrift enthält nur den Perceval).
E: Edinburgh, National Library of Scotland, Advocates’, 19.1.5, folia 2-25ra (erste Hälfte 13. Jh., Dialekt zwischen champenois und burgundisch).
F: Florenz, Biblioteca Riccardiana 2943, nur Perceval (Mitte 13. Jh., Dialekt aus dem östlichen Frankreich).
H: London, College of Arms, Arundel, 14, folia 150ra-221rb (Mitte 14. Jh., anglo-normannischer Dialekt).
L: London, British Library, Additional 36614, (Zweite Hälfte 13. Jh., Dialekt champenois).
M: Montpellier, Bibliothèque interuniversitaire, Section Médecine H 249 (Bibliotheks-Signatur), folia 1ra-59rb, 55 Miniaturen (Ende 13. Jh., burgundischer Dialekt).
P: Mons, Bibliothèque universitaire et publique, 331/206 (pikardischer Dialekt)
Q: Paris, BnF, Français 1429
R: Paris, BnF, Français 1450, f. 158vb-188va
S: Paris, BnF, Français 1453
T: Paris, BnF, français 12576
U: Paris, BnF, Français 12577, folia 1ra-53ra, 52 Miniaturen, (erste Hälfte des 14. Jh., Dialekt der Pariser Region)[48]
V: Paris, BnF, nouvelles acquisitions françaises, 6614