Bei Marienerscheinungen handelt es sich um Visionen, bei denen sich Maria, die Mutter Jesu, nach den Berichten der Augenzeugen diesen gezeigt habe. Berichte von Marienerscheinungen sind für die gesamte christliche Ära bezeugt. Bereits Jakobus dem Älteren, einem der Jünger Jesu von Nazareth, soll am 2. Januar des Jahres 40 nach Christus im spanischen Saragossa die Gottesmutter erschienen sein. Von hunderten weiteren Erscheinungen wird berichtet, von denen einige kirchlich anerkannt wurden, andere verworfen. An Orten mit Marienerscheinungen haben sich oft Kirchen, Klöster und Wallfahrtsorte entwickelt.
Bei Marienerscheinungen handelt es sich häufig um Visionen der Gottesmutter, die von Botschaften begleitet werden. Im Rahmen der katholischen Theologie handelt es sich um Privatoffenbarungen Gottes durch Maria. Diese können einem kirchlichen Anerkennungsprozess unterzogen werden.[1][2] Bekannte Beispiele anerkannter Marienerscheinungen sind die von Lourdes und Fátima.
Die sinnliche Wahrnehmung einzelner Erscheinungen ist unterschiedlich. In einigen Fällen wird die Gottesmutter sowohl gesehen als auch gehört, manchmal auch berührt, wie im Fall Catherine Labourés in der Rue du Bac. Die Erscheinungen sind körperlich oder finden im Traum statt. Auch andere Sinneswahrnehmungen, etwa ein häufiger Rosengeruch, sind bekannt. In manchen Fällen ist ausschließlich eine Stimme zu hören (Audition), ohne eigentliche Vision, wie in Neviges oder Kevelaer. Die Botschaften der Erscheinungen sind unterschiedlichster Art. Sie beinhalten sowohl Prophezeiungen als auch Zuspruch in individuellen Lebenskrisen.
Teils wird von einzelnen Erscheinungen berichtet. Andere Marienerscheinungen wiederholen sich, auch mit Ankündigung, so Fátima und Međugorje. Das Ausbleiben wiederholter Erscheinungen wird bisweilen durch Zweifeln der Seher oder durch Zweifel oder Verbote von kirchlichen Stellen erklärt.[3]
Bereits im Mittelalter gab es das Motiv der einfachen Frau, der ein besonderes Erlebnis in Form einer Vision zuteilwird.[4] Hingegen ist das von der Aufklärung geprägte 18. Jahrhundert an Berichten über Marienerscheinungen arm. Im 19. Jahrhundert nahm die Anzahl vor dem Hintergrund einer katholischen Erneuerung und einer gefühlsintensiveren Frömmigkeit wieder zu. In deren Zentrum stand Maria.[5]
Den Seherinnen und Sehern des 19. Jahrhunderts sind verschiedene Merkmale gemeinsam: Leben in Abhängigkeit, rohe Behandlung, frühe Trennung von der Familie oder Verlust eines Elternteils, ein Außenseitertum und in den überwiegenden Fällen Armut.[6] Die Erscheinung konnten daher emotionalen Halt und Trost bedeuten.[7] In den Schilderungen des 19. Jahrhunderts wird hervorgehoben, dass es sich bei den Sehern um Angehörige der ärmsten Schichten handelte. Dies trifft auf Mélanie Calvat und Maximin Giraud, die Seher von La Salette, sowie Bernadette Soubirous aus Lourdes zu.
Marienerscheinungen treten meist bei römisch-katholischen und orthodoxen Christen auf; in vereinzelten Fällen auch bei Nichtchristen, die sich gegebenenfalls aufgrund dieser Erscheinungbekehrten. Manche Erscheinungen werden ganzen Gruppen von Sehern zuteil.
Berichte von Marienerscheinungen, auch solche, die von der Kirche als übernatürlich anerkannt sind, sind nicht Bestandteil der Lehre der katholischen Kirche. Jedem Katholiken bleibt deshalb freigestellt, an die Echtheit einer Marienerscheinung zu glauben oder nicht.
Für die kirchliche Stellungnahme hatten sich verschiedene Beurteilungsformeln[8] etabliert:
constat de supernaturalitate – Es steht fest, dass es sich um Übernatürliches handelt.
non constat de supernaturalitate – Es steht nicht fest, ob es sich um Übernatürliches handelt oder
constat de non supernaturalitate – Es steht fest, dass die Erscheinungen nicht übernatürlich sind.
Gemäß den inzwischen überholten Normen von 1978 der damaligen Glaubenskongregation (Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmasslicher Erscheinungen und Offenbarungen) hatte die kirchliche Autorität (1) über die Wirklichkeit der Geschehnisse einer mutmaßlichen Erscheinung zu urteilen, (2) eventuell entsprechende Ausdrucksformen zu erlauben sowie (3) „ein Urteil über die Wahrheit und Übernatürlichkeit zu fällen, wo der Fall es erfordert“.[8] Prüfung und Beurteilung wurden üblicherweise durch den Diözesanbischof vollzogen, konnten aber auch anderen Instanzen übertragen werden.[9]
Seit Mai 2024 wendet das Dikasterium für die Glaubenslehre die neuen Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene an.[11] Durch die neuen Normen wird die offizielle kirchliche Beurteilung dahin verändert, dass sie „nicht mit einer Erklärung de supernaturalitate, sondern mit einem Nihil obstat“ endet.[12] Das Verfahren wird damit erheblich beschleunigt. Es endet mit einer der folgenden Beurteilungen:
Nihil obstat (‚Es steht nichts entgegen‘) - „Auch wenn keine Gewissheit über die übernatürliche Echtheit des Phänomens geäußert wird, so werden doch viele Anzeichen für ein Wirken des Heiligen Geistes 'inmitten' einer bestimmten spirituellen Erfahrung erkannt, und es wurden, zumindest bis dato, keine besonders kritischen oder riskanten Aspekte festgestellt.“ Es wird dadurch nicht erklärt, dass diese Phänomene übernatürlichen Ursprungs sind.[12]
Prae oculis habeatur (‚Es soll weiter beobachtet werden‘) - Neben den positiven Zeichen bestehen „auch einige Elemente der Verwirrung oder mögliche Risiken“.[12]
Curatur (‚Es soll Sorge getragen werden‘) - Bei bereits weit verbreitetem Verehrung werden mehrere kritische Elemente festgestellt.
Sub mandato (‚Unter der Aufsicht‘) - Aufgrund kritischer Elemente bei Personen aus dem Umfeld der mutmaßlichen Erscheinungen wird die konkrete Seelsorge unter die Aufsicht des Diözesanbischofs oder anderer Autoritäten gestellt.
Prohibetur et obstruatur (‚Es soll verboten und unterbunden werden‘) - „Um weitere Verwirrung oder gar einen Skandal zu vermeiden, der den Glauben der Einfachen in Mitleidenschaft ziehen könnte, bittet das Dikasterium daher den Diözesanbischof, öffentlich zu erklären, dass das Festhalten an diesem Phänomen nicht zulässig ist“.[12]
Declaratio de non supernaturalitate (‚Erklärung der fehlenden Übernatürlichkeit‘) - Das Phänomen wird als nicht übernatürlich betrachtet.
Durch die neuen Normen ist das Verfahren der Beurteilung beschleunigt worden, und bereits 2024 wurden etliche Urteile bekanntgegeben: Nicht zu beanstanden („nihil obstat“) sind die Erscheinungen im französischen Pellevoisin[13], die Botschaften, die an die italienische Seherin Pierina Gilli ergangen sind[14], oder die 1968 bezeugten Erscheinungen in Santa Domenica di Placanica[15] in Kalabrien. Hingegen wurden angebliche Marienerscheinungen in Trivignano als „nicht übernatürlichen Charakters“[16] bewertet, wie auch das angebliche Amsterdamer Phänomen „Frau aller Völker“.[17]
Marienerscheinungen werden von den einen als Wunder angesehen, von den anderen generell abgelehnt, entweder als unwichtig für die persönliche Glaubenserfahrung oder als Scharlatanerie oder als Okkultismus. Von Wissenschaftlern werden viele dieser Erscheinungen als Halluzination bewertet. Inzwischen verweisen jedoch in erster Linie Politik- und Sozialwissenschaftler immer wieder auf die spezifischen sozialen Funktionen von Marienerscheinungen im Kontext einer globalisierten Moderne. So sind diese zumeist Ursprung sozialer Bewegungen, die politischen und gesellschaftlichen Widerstand fundieren. In diesem Sinne weisen Erscheinungen stabilisierende Wirkungen auf emotionale Bindungskräfte innerhalb Gesellschaften auf.[18]
Jakov Čolo, Ivan Dragičević, Mirjana Dragičević, Marija Pavlović, Ivanka Ivanković, Vicka Ivanković
Nihil obstat des Glaubensdikasteriums (19. September 2024) bezüglich der Marienverehrung; der übernatürliche Ursprung der Visionen steht nicht fest (non constat), die Botschaften gelten nicht als „Privatoffenbarungen“, sondern lediglich als „erbauliche Texte“.[25]
Marienvisionen der seligen Anna Katharina Emmerick (Deutschland), 19. Jahrhundert. Die Seligsprechung betrifft die Heiligkeit der Person und nimmt keine Stellung zu Emmericks Visionen.
Nach einer russischen Überlieferung hatte der slawische Asket Andreij, auch als „Narr in Gott“ bezeichnet, in der berühmten Blachernen-Kirche in Konstantinopel an einem 1. Oktober im 10. Jahrhundert während der Mitternachtsmesse eine Vision der Gottesmutter, die aus den Türen des Altarraumes hervortrat und unter Tränen lange betete. Auch der Diener Epiphanius will gesehen haben, wie sie schließlich ihr Schultertuch über das anwesende Volk ausbreitete. Der russische Fürst Andrej Bogoljubskij († 1174) übernahm die Legende, errichtete der Schutzmantelmadonna (Pokrov) eine eigene Kirche und machte den 1. Oktober in ganz Russland zu ihrem Festtag.
Russland:
Kasan: Am 8. Juli 1579 soll die „Theotokos“ („Gottesgebärerin“, wie Maria in der Orthodoxie genannt wird) dem neunjährigen Mädchen Matrona in Kasan an der Wolga erschienen sein. Dem Bericht zufolge offenbarte sie ihr das Versteck einer vor den muslimischen Tataren verborgenen wundertätigen Ikone. Das als „Kasanskaja“ bekannte Gnadenbild wurde zum Symbol Russlands, ihr zu Ehren wurden in Moskau und Sankt Petersburg Kathedralen errichtet.
Potschajiw: Am 17. April 1198 erschien die „Theotokos“, der Gründungslegende des Basilianerklosters von Potschajiw zufolge, einer Gruppe von Mönchen, die vor der Invasion der Mongolen aus dem berühmten Höhlenkloster von Kiew (Petscherskaja Lavra) in die Höhlen nahe Ternopyl geflohen waren, „in einer Säule aus Feuer“. Dabei soll sie ihren Fußabdruck im Felsen hinterlassen haben. Wasser aus einer nahegelegenen Quelle werden seitdem Heilwirkungen zugeschrieben, ein Kloster an der Erscheinungsstätte wurde zum beliebten Wallfahrtsort.
Hruschiw: Am 25. April 1987 soll Maria der 11-jährigen Marina Kisyn über dem Glockenturm der seit 40 Jahren geschlossenen Dorfkirche erschienen sein. Diese war vor mehr als 100 Jahren wegen einer wundertätigen Marienikone und einem Brunnen mit angeblich heilendem Wasser schon einmal ein Wallfahrtsort gewesen. Als sich die Erscheinungen an den folgenden Tagen wiederholten, kamen trotz aller Sabotagen des damaligen kommunistischen Regimes bis zu 40.000 Pilger. Fast alle wollen ebenfalls die Erscheinung in orangerotem und blauem Licht gesehen haben.
Zeitoun: Am 2. April 1968 und Wochen danach kam es allabendlich zu Erscheinungen einer „Frau in weißem Licht“, die von hunderttausenden koptischen Christen und Moslems über der Kuppel der koptischen Marienkirche von Zeitoun beobachtet wurden. Zeitoun ist nach der Legende der Ort, wo die Jungfrau Maria bei ihrer Flucht nach Ägypten unter einem Bergahorn ausruhte. Viele Wunderheilungen und Bekehrungen wurden berichtet. Am 4. Mai 1968 erklärte der koptische Papst Kyrillos VI. die Erscheinungen für glaubwürdig, der katholische Patriarch Stephanus I. pflichtete ihm bei.[35][36]
Assiut: Am 17. August 2000 begann eine Reihe von Marienerscheinungen über der Markuskirche. Zahlreiche Zeugen wollen mysteriöse Lichter, Tauben aus Licht oder die leuchtende Gestalt der Gottesmutter gesehen haben, auch Fotos und Videos liegen vor. Der koptische Patriarch Shenouda III. erkannte die Echtheit der Erscheinungen an und bezeichnete sie als „Zeichen des Trostes“ für die christliche Minderheit in Ägypten. Bischof Mina Hanna, Vorsitzender des Rates der Kirchen von Assiut, sagte: „Dies ist ein Segen sowohl für Muslime als auch für Christen. Es ist ein Segen für Ägypten.“[37]
Paul Badde: Maria von Guadalupe – wie das Erscheinen der Jungfrau Weltgeschichte schrieb. Ullstein, München 2004, ISBN 3-550-07581-2.
David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Rowohlt, Hamburg 1997, ISBN 3-498-00583-9.
David Blackbourn: „Die von Gottheit überaus bevorzugten Mägdlein“ – Marienerscheinungen im Bismarckreich. in: Irmtraud Götz von Olenhusen (Hrsg.): Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Schöningh, Paderborn u. a. 1995, ISBN 3-506-76178-1, S. 171–201 (digi20.digitale-sammlungen.de).
Ramon DeLuca: Echt oder unecht? Die Unterscheidungskriterien der Kirche bei Privatoffenbarungen. Verax, Müstair 1998, ISBN 3-909065-03-1.
Angelika Ebrecht: Wahrheit, Wahn und Wunder – Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie religiösen Wunderglaubens am Beispiel von Franz Werfels Roman Das Lied der Bernadettefu-berlin.de (Memento vom 13. Januar 2012 im Internet Archive), 2009.
Monika Hauf: Marienerscheinungen. Hintergründe eines Phänomens. Patmos, Düsseldorf 2006, ISBN 3-491-72496-1.
Gottfried Hierzenberger, Otto Nedomansky: Erscheinungen und Botschaften der Gottesmutter Maria. Vollständige Dokumentation durch zwei Jahrtausende. Bechtermünz/Weltbild, Augsburg 1998, ISBN 3-86047-452-9.
Helmut Moll: Marienerscheinungen im Glauben der Kirche. Ein Gespräch über die kirchliche Anerkennung von Marienerscheinungen, in: L’Osservatore Romano (deutsch) Nr. 8 (20. Februar 1987) 5.
Elvira Maria Slade: Maria – Die unbekannten Seiten der „Mutter Gottes“. Verlag für Reformatorische Erneuerung, Wuppertal 2003, ISBN 3-87857-318-9.
Stefan Teplan, Valentin Reitmajer: Maria spricht in Medjugorje – Sämtliche Botschaften der Gottesmutter. Reimo Verlag, Oberding 2002, ISBN 3-9805810-7-1.
Ivan Zeljko: Marienerscheinungen – Schein und Sein aus theologischer und psychologischer Sicht – Dargestellt am Beispiel der Privatoffenbarungen in Medjugorje. Dr. Kovač, Hamburg 2004, ISBN 3-8300-1448-1.
↑Elvira Maria Slade: Maria – Die unbekannten Seiten der „Mutter Gottes“. Verlag für Reformatorische Erneuerung, Wuppertal 2003, ISBN 3-87857-318-9.
↑David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Rowohlt, Hamburg 1997, ISBN 3-498-00583-9, S. 32.
↑David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Rowohlt, Hamburg 1997, ISBN 3-498-00583-9, S. 62 f.
↑David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Rowohlt, Hamburg 1997, ISBN 3-498-00583-9, S. 36–46.
↑David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Rowohlt, Hamburg 1997, ISBN 3-498-00583-9, S. 43.
↑Zum Verfahren vgl. Peter Martin Litfin: Zum „Visionsprüfungsverfahren“. Das kirchliche Feststellungsverfahren zum Charakter angeblicher Erscheinungen und/oder Offenbarungen und seine entscheidenden Kriterien, in: Theologisches 35 (2/2005), Sp. 91–104.