Klassifikation nach ICD-10 | |
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Q85.8 | Sonstige Phakomatosen |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Das Von-Hippel-Lindau-Syndrom (VHL-Syndrom), genannt auch Hippel-Lindausche Krankheit, gelegentlich auch als Retino-cerebelläre Angiomatose bezeichnet, ist eine seltene, erbliche Tumorerkrankung aus dem Formenkreis der sogenannten Phakomatosen.[1] Die Patienten entwickeln gutartige, geschwulstähnliche Gewebsveränderungen (Angiome) vornehmlich im Bereich der Netzhaut des Auges und des Kleinhirns. Letzteres wurde auch als Lindau-Tumor oder Lindau-Syndrom bezeichnet. Im zentralen Nervensystem können darüber hinaus auch der Hirnstamm und das Rückenmark, selten das Großhirn betroffen sein. Charakteristisch für das VHL-Syndrom ist, dass sich aus Vorformen des Bindegewebes Geschwülste entwickeln, die aus Gefäßknäueln bestehen. Viele Patienten haben auch Gewebsveränderungen im Bereich von Niere (Nierenzellkarzinome), Nebenniere (Phäochromozytom) und Bauchspeicheldrüse. Bei Männern kann der Nebenhoden betroffen sein. Diese Gewebsveränderungen können harmlos sein, sich aber auch zu bösartigen Tumoren entwickeln. Die Ursache der Erkrankung ist eine Genmutation im Von-Hippel-Lindau-Tumorsuppressor-Gen. Da es sich bei dem VHL-Syndrom um eine genetische Erkrankung handelt, ist keine Heilung möglich. Die Behandlung der Patienten richtet sich nach dem Ort und der Ausprägung der Gewebsveränderungen. Am Auge werden die Netzhautgeschwülste mittels Laserstrahlen zerstört. Bösartige Geschwülste treten vor allem im Bereich der Niere auf und werden gemäß den Richtlinien der Behandlung dieser Erkrankung behandelt. Die Gewebsveränderungen im zentralen Nervensystem werden operiert, wenn durch deren Lage und Größe gefährliche Folgen für die Patienten eintreten können. Da die Krankheit schon frühzeitig erkannt werden kann, werden regelmäßige Kontrolluntersuchungen empfohlen.
Namensgeber der Erkrankung sind der Göttinger Ophthalmologe Eugen von Hippel (1867–1939) und der schwedische Pathologe Arvid Lindau (1892–1958). Von Hippel beschrieb 1904 erstmals Angiome des Auges, Lindau 1926 die Angiome im Rückenmark.
Ein familiärer Zusammenhang der Erkrankung wurde zunächst 1894 bei der Untersuchung von Geschwistern vermutet.[2] 1929 wurde festgestellt, dass das VHL-Syndrom einer autosomal-dominanten Vererbung gehorcht.[3] Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko Tumoren zu bilden. Dabei wird das Maximum der genetischen Penetranz im Alter von 65 Jahren erreicht.[4] Die Inzidenz wird zwischen 1:36.000 - 1:45.000 angegeben.[5] Die möglichen Ausprägungen der Erkrankung können bei Erkrankten stark variieren.[6] Je nach Studie beträgt die Spontanmutationsrate bis zu 50 %. Männer wie Frauen sind gleichermaßen betroffen.
Das Gen für die Hippel-Lindau Erkrankung wurde im Bereich von Chromosom 3, Bande p25/26 lokalisiert. Es ist im Zellzyklus und der Gefäßneubildung involviert. Das HL-Gen besitzt drei Exons und kodiert für ein nukleäres Protein, das eine Bindung mit Proteinen der Elongin-Gruppe eingeht. Bei Patienten mit einer HL-Erkrankung wurde eine Vielzahl von Mutationen entdeckt, die alle weitgehend gleichmäßig über das Gen verteilt sind. In verschiedenen Studien wurde festgestellt, dass 35 % der Mutationen Missense-Mutationen sind und etwa 75 % der Patienten eine Keimbahnmutation haben.
Bei den Angiomen des HL-Syndroms handelt es sich vorwiegend um kapilläre Hämangiome und Hämangioblastome. Als Hämangiom bezeichnet man gutartige, geschwulstähnliche Neubildungen mit einer Ausprägung als Blutgefäßknäuel. Sie treten meist als Hamartome auf, sind also keine Tumoren im engeren Sinne. Die Hämangiome entstehen nicht, wie der Name nahelegt, aus Blutgefäßen, sondern aus Bindegewebsvorläufern und sie entwickeln sich zu Strukturen, die man am einfachsten als Blutgefäßknäuel oder Blutschwämme bezeichnen kann. Die Blutschwämme, die sich im Kleinhirn, Hirnstamm und Rückenmark der VHL-Patienten finden, sind Hämangioblastome. Mit diesem Begriff bezeichnet man echte Neubildungen, die aus gewucherten Kapillarsprossen bestehen.
Die Kern- oder Kardinalsymptome des VHL-Syndroms sind das Auftreten von Hämangiomen der Retina und Hämangioblastomen des Kleinhirns.
Das klinische Spektrum der Erkrankung umfasst neben den Affektionen von Augen und Kleinhirn das Auftreten von Hämangioblastomen im Bereich des Hirnstamms und des Rückenmarkes. Sodann werden Nierenzellkarzinome (Erkrankungsrisiko liegt bei 25 – 45 %, meist ab dem 50. Lebensjahr), Pankreaszysten, Phäochromozytome, Nebenhodenzysten und eine Polyzythämie beobachtet.
Die Hämangioblastome des ZNS präsentieren sich in ca. 60 % der Fälle im Kleinhirn, in 13 % der Fälle im Rückenmark und in 4 % der Fälle im Hirnstamm sowie selten < 1 % im Großhirn. Die Läsionen im Kleinhirn werden im Schnitt bei Patienten im Alter von 29 Jahren klinisch auffällig und im Fall von Rückenmarksläsionen im Alter von 34 Jahren.
Als diagnostisches Kriterium gilt der Nachweis von beidseitigen oder multiplen retinalen Hämangiomen oder der Nachweis multipler Hämangioblastome der hinteren Schädelgrube.
Aufgrund klinischer Verläufe und Unterschieden in der Phänotyp-Genotyp-Korrelation unterscheidet man zwei Formen des VHL-Syndroms. Patienten ohne Phäochromozytom ordnet man dem VHL-Typ I zu, Patienten mit einem Phäochromozytom dem VHL Typ II.
Zum Verlauf der Erkrankung werden sehr unterschiedliche Angaben gemacht. Die retinalen Angiome werden im Durchschnitt bei den Patienten im Alter von 25 aufgedeckt. Die Netzhautveränderungen können, sofern sie rechtzeitig entdeckt werden, gut behandelt werden. Die intrazerebralen und spinalen Hämangioblastome können vor allem im Bereich des Hirnstammes zu gefährlichen Blutungen führen.
Bei dem HL-Typ I wurden in über 50 % der untersuchten Fälle Mikrodeletionen und nonsense-Mutationen entdeckt. Beim HL-Typ II fanden sich in fast 100 % der untersuchten Patienten missense-Mutationen.
Die Diagnose VHL-Syndrom wird beim Vorhandensein von kapillären Hämangioblastomen (gefäßreichen Tumoren) im ZNS oder der Netzhaut des Auges gestellt. Weitere zum VHL-Komplex gehörende Tumoren (Phäochromozytom, Nierenzellkarzinom) oder eine entsprechende Familienanamnese treten hinzu. In der Kernspintomografie stellen sich die Hämangioblastome als kontrastmittelaufnehmende Knötchen dar.
Die Wahl der Therapie ist von der Größe, Lokalisation und vom klinischen Bild abhängig. Nur eine frühzeitige Diagnose und effektive Therapie kann eine Erhaltung des Visus ermöglichen.[7] In einigen seltenen Einzelfällen wurden spontane Regressionen ohne Therapie der retinalen Angiomen beschrieben.[8][9]
Die Laserkoagulation wird zurzeit bei kleineren retinalen Hämangiomen angewendet. Dabei werden Argon-,[10][11] Krypton-,[12] Farbstoff- und Diodenlaser, früher auch Xenon-Koagulator, eingesetzt. Der Vorteil des Verfahrens ist die gezielte Zerstörung mit genauer Dosierung, wobei das gesunde Gewebe geschont wird.[13] Durch häufige Anwendungen der Methode zeigen sich Erfolge bei retinalen Hämangiomen bis zu einer Größe von 4,5 mm, allerdings ist die Therapie am effektivsten bei Größen bis 1,5 mm (entspricht einem Papillendurchmesser) oder kleiner.[14][15][16] Angiome, die größer als ein Papillendurchmesser sind, zeigen bei der Laserkoagulation nur unbefriedigende Ergebnisse und sollten daher mit anderen Methoden behandelt werden.[17] Die Laserkoagulation kann direkt auf das Angiom erfolgen, auf die zuführende Gefäße des Angioms oder beides gleichzeitig.[18] Die Ansprechrate bei der direkten Photokoagulation bei der Benutzung vom Argon-Laser liegt bei 91 – 100 %.[15][19] Hämangiome mit der Größe von einem Papillendurchmesser brauchen durchschnittlich drei Anwendungen bis zur vollständigen Verödung, hingegen ist bei Mikroangiomen eine Sitzung meist ausreichend.[17] Einige Autoren empfehlen die Kombination der Laserkoagulation mit anderen Methoden, um Angiome zu behandeln, die durch die alleinige Laserkoagulation nicht ausreichend behandelt werden konnten.[20]
Die Verwendung des gelben Lasers beim Krypton-Laser bietet einen theoretischen Vorteil gegenüber den anderen Laserverfahren, da das oxidierte und reduzierte Hämoglobin mehr gelbe Wellenlängen absorbiert, als grüne oder blaue wie beim Argon-Laser.[21] Dadurch sollten die zuführenden Gefäße stärker bestrahlt werden.
Als häufigste Nebenwirkungen der Laserkoagulation können Glaskörperblutungen oder exsudative Netzhautablösungen, speziell durch Lipidablagerungen in der Makula mit bleibendem Visusverlust, auftreten.[14][22] Dieser degenerative Vorgang kann innerhalb von einem Tag nach der Behandlung auftreten.[23] Die Komplikationen treten besonders häufig auf, wenn das Angiom schon strukturelle Veränderungen verursacht hat.[13] Bei der indirekten Laserkoagulation kann es, nach einigen Monaten nach der Behandlung, zu einer Reperfusion der zuführenden Gefäße des Angioms kommen,[24] wodurch Nachbehandlungen notwendig werden können. Der Verschluss einer zuführenden Arterie kann zu einem Infarkt der von ihr versorgenden Netzhaut nach sich ziehen. Die Folge sind Gesichtsfeldausfälle.[11]
Trotz einer Behandlung mit der direkten oder indirekten Laserkoagulation können sich später neue Hämangiome entwickeln.[25][17] Auch Rezidive des behandelten Angioms können auftreten.[26] In histologischen Untersuchungen zeigten sich bei der Behandlung mit Laserstrahlen nur eine oberflächliche Zerstörung von Tumorzellen bei großen Hämangiomen. In der Tiefe konnte unverändertes Tumorgewebe gefunden werden. Im Gegensatz dazu konnte eine vollständige Zerstörung bei kleinen Hämangiomen nachgewiesen werden.[24]
Bei der Kryotherapie werden Angiome, die größer als zwei Papillendurchmesser sind und weit peripher liegen, behandelt. Auch Angiome mit subretinalen Exsudaten können so behandelt werden.[17][27] Diese Methode wurde 1967 zum ersten Mal von Lincoff eingesetzt und untersucht.[28] Dabei wird das retinale Angiom bei Temperaturen von −60 °C bis −80 °C vereist.[29] In einer Langzeitstudie zeigten sich die besten Ergebnisse bei Angiomen, die kleiner als 3,75 mm waren. Bei größeren Angiomen war die Kryotherapie nicht erfolgreicher als die Laserkoagulation, zeigte aber weniger Komplikationen als mit der Behandlung mit Laserstrahlen.[19]
Auch bei der Kryotherapie sind häufig Nachbehandlungen notwendig, allerdings sollte ein Mindestabstand von zwei Monaten zwischen den Behandlungen eingehalten werden.[30] Als Komplikationen können exsudative Netzhautablösungen und eine Proliferative Vitreoretinopathie auftreten.[7]
Bei Angiomen von einer Größe von 4 mm können Ruthenium-106 Applikatoren als episkeral aufgenähte Stahlträger eingesetzt werden. Nach der Bestrahlung kommt es, im Vergleich zur Behandlung mit Laserstrahlen, zu einer langsameren Zurückbildung der Angiome. Die durchschnittliche Regressionsdauer beträgt 5 bis 14 Monate.[31][32][33] Nach der Bestrahlung entstehen fast immer chorioretinale Narben, die größer als der Tumor waren. Als größte Gefahr besteht die Verletzung des Sehnervs durch die radioaktiven Strahlen.
Auch bei der Brachytherapie können exsudative Netzhautablösungen und Glaskörperblutungen auftreten, die jedoch seltener auftraten als bei den herkömmlichen Behandlungsmethoden. Selten können epiretinale Membranbildungen auftreten, die eine chirurgische Sanierung notwendig macht. Bei einer, vor der Behandlung bestehenden, Netzhautablösung ist das Risiko für Komplikationen nach der Brachytherapie jedoch stark erhöht.[31]
Die Transpupilläre Thermotherapie kann bei der Behandlung von chorioidalen Melanomen[34], Retinoblastom[35] und chorioidale Hämangiome[36] versucht werden. Dabei wird mittels Infrarot-Diodenlaser eine lokale Erwärmung beim Tumor erzeugt.[37] Histologische Untersuchungen zeigten nach der Behandlung deutliche Nekrosen des Tumors beim chorioidalen Melanom.[38] Bei der Behandlung von retinalen Hämangiomen zeigten sich einerseits Erfolge,[39] andrerseits zeigten andere Studien kaum Wirksamkeit der Methode.[40]
Bei größeren Angiomen wird die Effektivität der photodynamischen Therapie mit Verteporfin in klinischen Studien zurzeit untersucht.[41] Dabei konnten Verbesserungen des Visus um durchschnittlich 0,5 nach zwei Jahren festgestellt werden. Als Nebenwirkung kann ein Makulaödem auftreten, welches wiederum zur Visusverschlechterung führen kann.[42][43] Diese Methode kann auch mit der Photokoagulation kombiniert werden.[44]
Die Behandlung mit Strahlen wurde als allererste Therapiemethode bei retinalen Angiomen durch Houwer 1919 versucht.[45] Dabei konnte er jedoch keine Wirksamkeit feststellen, was durch andere Autoren bestätigt wurde.[46][47][48] Die Therapie zeigte bei einer Dosis von 12 Gray in Einzelfällen Erfolge.[49] In einer Langzeitstudie von 11 Jahren war bei einer durchschnittlichen Dosis von 38 Gray die Strahlentherapie nur bei einem Fall erfolgreich.[50] Bei einer neueren Untersuchung von 2004 zeigte sich eine Visusverbesserung von 0,28 auf 0,44, bei einer durchschnittlichen Tumorreduktion um ca. 40 %, wobei sich nicht alle Tumoren gleich stark verkleinerten. Die größte Reduktion zeigte sich bei kleineren Angiomen. Die Patienten wurden mit einer Gesamtdosis von 21,6 Gray fraktioniert über zwölf Tage bestrahlt. Als Nebenwirkung trat bei einem Patienten Katarakt auf.[51]
Bei dieser Therapiemethode besteht der Vorteil einer hohen Präzision der Gewebezerstörung, wobei nicht erkrankte Gewebeanteile geschont werden. Daher wird diese Methode angewendet, wenn Angiome in der Nähe von empfindlichen Gewebebereichen wachsen. Hierbei werden Protonen angewendet, die mittels großer Energie mehrere Zentimeter in das Gewebe eindringen können.[52][53]
In klinischen Studien wurde die Behandlung der Angiome mit VEGF-Inhibitoren wie Pegaptanib[54] oder SU 5416[55][56] untersucht. Dabei wurden keine Veränderungen der Tumorgröße festgestellt. Jedoch traten Visusverbesserungen durch die Reduktion des Makulaödems auf. Als ernsthafte Nebenwirkung kann eine Anaphylaxie auftreten.[56] Zurzeit wird die medikamentöse Therapie als Begleittherapie neben den konventionellen Therapiemethoden diskutiert.[57][58]
Die Indikation zur Enukleation wird selten gestellt. Meist bei Schmerzen beim blinden Auge, bedingt durch ein Sekundärglaukom.[59]
Therapie ist die chirurgische Entfernung der Tumore.