Die Multipolentwicklung ist in der Physik ein Verfahren zur Lösung der Poisson-Gleichung in drei Raumdimensionen, bei der die Lösungsfunktion als Laurent-Reihe entwickelt wird. Die Entwicklungskoeffizienten dieser Laurent-Reihe heißen Multipolmomente. Sie wird hauptsächlich in der Elektrostatik und der Magnetostatik verwendet, kann aber auf jedes andere Gebiet der Physik, in dem die Poisson-Gleichung auftritt, verallgemeinert werden.
Die Motivation der Multipolentwicklung liegt darin, das Verhalten von elektrischem Potential und magnetischem Vektorpotential (oder beliebigen anderen Potentialen wie dem Gravitationspotential) in großer Entfernung von Ladungen oder Strömen zu betrachten. Dazu wird angenommen, dass diese das Potential induzierenden Ladungen oder Ströme nur auf einen kleinen Bereich des Raumes beschränkt sind, und die Greensche Funktion des Laplace-Operators, der in der Poisson-Gleichung auftritt, als Taylor-Reihe entwickelt.
Die Poisson-Gleichung lässt sich allgemein als
![{\displaystyle \Delta \phi ({\vec {r}})=-f({\vec {r}})}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/39ec5333808fd74c82d14e07db4a5a8505d1bc40)
schreiben, wobei
der Laplace-Operator,
eine Dichte und
ein Potential ist (das Minus ist Konvention). Die formale Lösung dieser Gleichung ist:
![{\displaystyle \phi ({\vec {r}})={\frac {1}{4\pi }}\int \mathrm {d} ^{3}{\vec {r}}'{\frac {f({\vec {r}}')}{|{\vec {r}}-{\vec {r}}'|}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/d11b172311c55e0ad0905a5d52429da5ca88f6fa)
Ist
in einem Volumen lokalisiert, kann für Orte
, die weit außerhalb dieses Volumens liegen,
, der Bruch in einer Taylor-Reihe in
um
entwickelt werden:
![{\displaystyle {\frac {1}{\left|{\vec {r}}-{\vec {r}}'\right|}}=\sum _{n=0}^{\infty }{\frac {1}{n!}}\left({\vec {r}}'\cdot {\vec {\nabla }}'\right)^{n}\left.{\frac {1}{\left|{\vec {r}}-{\vec {r}}'\right|}}\right|_{{\vec {r}}'=0}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/a740dbb8b4610f39ddbc541680b16b750cdacc5a)
Dabei bedeutet
, dass der Nablaoperator
nur auf die gestrichenen Koordinaten
und nicht auf
wirkt. Nach Bilden der Ableitungen wird diese an der Stelle
ausgewertet. Durch Umformen erhält man:
![{\displaystyle {\frac {1}{\left|{\vec {r}}-{\vec {r}}'\right|}}=\sum _{n=0}^{\infty }{\frac {1}{n!}}\left(-{\vec {r}}'\cdot {\vec {\nabla }}\right)^{n}{\frac {1}{r}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/35748d1f219c1df6102ee25db1d90a14d456f5eb)
Aus dimensionalen Überlegungen ergibt sich, dass jeder Term in der Taylor-Reihe in
zu einem Term
im Hauptteil der Laurent-Reihe in
führt. Mit anderen Worten, mit zunehmendem Abstand vom betrachteten Volumen, werden die höheren Ordnungen der Multipolmomente immer vernachlässigbarer, da sie immer stärker abfallen.
Die genaue Form der Entwicklung und der Multipole hängt davon ab, in welchem Koordinatensystem sie betrachtet werden.
Bei der kartesischen Multipolentwicklung wird die Entwicklung in kartesischen Koordinaten durchgeführt. Dort ist
,
wobei Einsteinsche Summenkonvention verwendet wird. Dann muss bei einem Summanden
-ter Ordnung ein Tensor
-ter Stufe, nämlich
berechnet werden:
![{\displaystyle {\begin{aligned}{\frac {1}{\left|{\vec {r}}-{\vec {r}}'\right|}}&={\frac {1}{r}}-r'_{i}\partial _{i}{\frac {1}{r}}+{\frac {1}{2}}r'_{i}r'_{j}\partial _{i}\partial _{j}{\frac {1}{r}}+{\mathcal {O}}(r'^{3})\\&={\frac {1}{r}}+r'_{i}{\frac {r_{i}}{r^{3}}}+{\frac {1}{2}}r'_{i}r'_{j}{\frac {3r_{i}r_{j}-r^{2}\delta _{ij}}{r^{5}}}+{\mathcal {O}}(r'^{3})\end{aligned}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/4b3ea544206b5af0c282956bc9568c517279deb4)
Das Symbol
repräsentiert das sogenannte Kronecker-Delta.
Die formale Lösung
der Poisson-Gleichung, ist unter Verwendung der Identität
wie folgt darstellbar:
![{\displaystyle {\begin{aligned}\phi ({\vec {r}})&={\frac {1}{4\pi }}{\bigg [}{\frac {1}{r}}\underbrace {\int f({\vec {r}}')\,\mathrm {d} ^{3}{\vec {r}}'} _{\text{Monopol-}}+{\frac {r_{i}}{r^{3}}}\underbrace {\int \mathrm {d} ^{3}{\vec {r}}'\,r'_{i}f({\vec {r}}')} _{\text{Dipol-}}+{\frac {1}{2}}{\frac {r_{i}r_{j}}{r^{5}}}\underbrace {\int \mathrm {d} ^{3}{\vec {r}}'\,\left(3r'_{i}r'_{j}-r'^{2}\delta _{ij}\right)f({\vec {r}}')} _{\text{Quadrupolmoment}}+\dots {\bigg ]}\\&={\frac {1}{4\pi }}\left[{\frac {1}{r}}q+{\frac {r_{i}}{r^{3}}}p_{i}+{\frac {1}{2}}{\frac {r_{i}r_{j}}{r^{5}}}Q_{ij}+\dots \right]\end{aligned}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/67d28d0e5125b1595d1dde0982f805a9d6c07172)
In der sphärischen Multipolentwicklung wird nicht in den einzelnen Koordinaten entwickelt, sondern im Abstand. Dazu wird der Term in Kugelkoordinaten umgeschrieben. Es ist
![{\displaystyle {\vec {r}}'\cdot {\vec {\nabla }}'=r'\partial _{r'}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/fa9db1a8cfe9c33bb89a3b2c060bc7bed9f7731e)
und
.
Da dies die erzeugende Funktion der Legendre-Polynome
ist, kann die Entwicklung damit geschlossen angegeben werden:
![{\displaystyle {\frac {1}{|{\vec {r}}-{\vec {r}}'|}}=\sum _{l=0}^{\infty }P_{l}(\cos(\theta -\theta ')){\frac {r'^{l}}{r^{l+1}}}={\frac {1}{r}}+\cos(\theta -\theta '){\frac {r'}{r^{2}}}+{\frac {1}{2}}(3\cos ^{2}(\theta -\theta ')-1){\frac {r'^{2}}{r^{3}}}+{\mathcal {O}}(r'^{3})}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/f57164bec8544ec3f232a0c041eefc009f699e7d)
Mithilfe des Additionstheorems für Kugelflächenfunktionen lässt sich das Legendre-Polynom in
als Summe über Kugelflächenfunktionen
schreiben und damit in
und
entkoppeln:
![{\displaystyle P_{l}(\cos(\theta -\theta '))={\frac {4\pi }{2l+1}}\sum _{m=-l}^{l}Y_{lm}^{*}(\theta ',\varphi ')Y_{lm}(\theta ,\varphi )}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/ee91fc12a7dbfb35884ab4e92b9a033dbca2f72c)
Das Einsetzen in die Gleichung für
führt zu:
![{\displaystyle \phi ={\frac {1}{4\pi }}\sum _{l=0}^{\infty }\sum _{m=-l}^{l}{\sqrt {\frac {4\pi }{2l+1}}}Y_{lm}(\theta ,\varphi ){\frac {1}{r^{l+1}}}\int \mathrm {d} ^{3}{\vec {r}}'{\sqrt {\frac {4\pi }{2l+1}}}Y_{lm}^{*}(\theta ',\varphi ')f({\vec {r}}')r'^{l}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/3e45a1cd7d43af8750c8fa622792fe038d3af52b)
Das sphärische Multipolmoment
ist dann definiert als
.
Durch Koeffizientenvergleich sieht man, dass der Term
zum Monopolmoment korrespondiert, der Term
zum Dipolmoment et cetera.
Die Umrechnung zwischen kartesischen und sphärischen Multipolmomenten erfolgt, indem die Kugelflächenfunktionen in kartesischen Koordinaten ausgedrückt werden. Für das Monopolmoment erhält man
![{\displaystyle q_{00}=q}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/272e42def6b55d6bb96a7e7955708576c6927e89)
und für die drei Dipolmomente
.
Für höhere Momente ist die Umrechnung nichttrivial, da in der sphärischen Multipolentwicklung
Terme auftreten, der korrespondierende Tensor jedoch
Komponenten hat. Da die Anzahl der Freiheitsgrade unabhängig vom Koordinatensystem sein muss, sieht man dadurch, dass nicht alle kartesischen Multipolmomente unabhängig voneinander sind. Unter anderem ist der Quadrupoltensor symmetrisch und spurfrei, was die Freiheitsgrade einschränkt. Da die Anzahl der sphärischen Multipolmomente nur linear anwächst und die der kartesischen exponentiell, ist für höhere Momente die Angabe der kartesischen Multipolmomente nicht zweckdienlich.
In der Elektrostatik lässt sich die Poisson-Gleichung für das Potential aus der ersten Maxwell-Gleichung ableiten. In der Coulomb-Eichung lautet sie
![{\displaystyle \Delta \phi =-{\frac {\rho }{\varepsilon _{0}}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/62daddeb7e50350938078d84b2638961876994fc)
mit dem elektrischen Potential
, der (elektrischen) Ladungsdichte
und der elektrischen Feldkonstante
. Die ersten drei Momente des elektrostatischen Potentials sind die Gesamtladung
, das elektrische Dipolmoment
und die Quadrupolmomente
.
In der Magnetostatik führen die Maxwell-Gleichungen in Coulomb-Eichung zu Poisson-Gleichungen für das Vektorpotential
![{\displaystyle \Delta {\vec {A}}=-\mu _{0}{\vec {j}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/77efb72ec1e173a25831d1d7f98007d80b7347ed)
mit der elektrischen Stromdichte
und der Permeabilität des Vakuums
. Der magnetische Monopol verschwindet, da in einer räumlich lokalisierten Stromverteilung immer genauso viel hinein wie hinaus fließt. Der Term führender Ordnung ist daher das magnetische Dipolmoment. Um die Tensorstruktur im Dipolmoment zu vereinfachen, kann die Identität
![{\displaystyle r_{i}\int \mathrm {d} ^{3}{\vec {r}}'\,r'_{i}j_{n}({\vec {r}}')=-{\frac {1}{2}}\varepsilon _{lkn}r_{l}\int \mathrm {d} ^{3}{\vec {r}}'\,\varepsilon _{ijk}r'_{i}j_{j}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/1290576e987f9fb459fe38041edb06f9ab5021e2)
verwendet werden. Damit wird
![{\displaystyle {\vec {A}}=\mu _{0}{\frac {{\vec {\mu }}\times r}{r^{3}}}+{\mathcal {O}}(r^{-3})}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/0680a5637ce28c04f982f1b81c30730a386fff33)
mit dem magnetischen Dipolmoment
.
In der Gravitation ergibt es sich, dass keine negativen Massen als Ladungen existieren. Dennoch können formal gravitative Multipole definiert werden. Beginnend mit der Poisson-Gleichung aus dem Newtonschen Gravitationsgesetz
![{\displaystyle \Delta \Phi =-4\pi G\rho }](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/8cc1fbd1d664cd992644bf071595660e1b210374)
mit der Gravitationskonstante
und der Massendichte
ist der gravitative Monopol die Gesamtmasse
und der gravitative Dipol der Massenmittelpunkt
.