Die Mitglieder waren weibliche Häftlinge, die durch die Aufnahme ins Orchester vor der Vernichtung durch Arbeit und vor dem Tod in den Gaskammern bewahrt wurden. Dirigentin des Orchesters war von August 1943 bis zu ihrem Tod im April 1944 Alma Rosé, die Nichte des Komponisten Gustav Mahler. Die brutale und musikliebende SS-Oberaufseherin Maria Mandl, seit Oktober 1942 inoffizielle Leiterin des Frauenlagers Auschwitz-Birkenau, war eine Befürworterin des Orchesters. Sie unterstützte die Errichtung einer besonderen Baracke (Lagerabschnitt B I b in unmittelbarer Nähe des Stacheldrahtzaunes) für die Musikerinnen. Der Block trug die Nummer 12, ab Herbst 1943 Nummer 7. In der Baracke gab es einen mit Holzdielen ausgelegten Boden und einen Ofen, um die Musikinstrumente vor Feuchtigkeit zu schützen. Josef Kramer, seit Mai 1944 Lagerkommandant, wollte vor allem, dass die Arbeitskommandos im Gleichschritt marschierten, begleitet vom Mädchenorchester. Auch wirkte ein Orchester gut, wenn SS-Größen das Lager besichtigten.
Die Musikerinnen mussten immer wieder auch Privatkonzerte geben. So ließ beispielsweise Josef Mengele, ein Liebhaber klassischer Musik, sich öfter vorspielen. Anita Lasker-Wallfisch, eine Cellistin, musste Mengele regelmäßig SchumannsTräumerei vortragen, da er dieses Stück so gerne hörte. Für Maria Mandl musste die Sängerin Fania Fénelon manchmal mitten in der Nacht „Madame Butterfly“[1] singen.[2] Zum Repertoire des Orchesters gehörten außer den zahlreichen Märschen zum Ausmarsch der Gefangenen auch Operettenmelodien (z. B. „Zum weißen Rößl am Wolfgangsee“), die Zigeunerweisen von Sarasate,[3] und sogar der 1. Satz von Beethovens5. Sinfonie oder der 1. Satz aus Mendelssohns berühmtem Violinkonzert mit Alma Rosé als Solistin. Einige Stücke mussten extra für die ungewöhnliche Besetzung des Orchesters (u. a. mit Mandolinen, Gitarren und Akkordeon) von Fania Fénelon arrangiert werden; diese berichtete außerdem, dass die Nazis bei Konzerten Applaus höchstens andeuteten.[4]
An einem Sonntag musste das Orchester gemeinsam mit einem Liliputzirkus auftreten. Die Kleinwüchsigen vertrauten dem SS-Arzt, der mit ihnen scherzte und sie danach selbst in die Gaskammer führte.[5] Auch Kramer bestand auf Sonderveranstaltungen. Fania Fénelon schilderte solch eine Situation, als eine Läuferin erregt die Tür aufstieß und rief:
„Achtung! Mädchen, schnell! Herr Kommandant Kramer kommt! Eingefroren in ein eindrucksvolles Stillgestanden erwarten wir Kramer. Er tritt ein, begleitet von zwei SS-Offizieren… Er geht auf die für diesen Zweck aufgestellten Stühle zu, setzt sich, nimmt die Schirmmütze ab und legt sie neben sich hin… Immer noch Stillgestanden, wie es sich gehört, wenn man mit einem Offizier spricht, fragt Alma ängstlich: ‚Was möchte der Herr Lagerführer hören? – Die Träumerei von Schumann.‘ Und sehr gefühlvoll fügt er hinzu: ‚Das ist ein bewundernswertes Stück, das geht ans Herz.‘… Entspannt hebt der Lagerführer seinen Kopf und teilt mit: ‚Wie schön, wie erregend!‘“
– Fénelon, 2008, S. 138 ff
Das Orchester musste auch im Krankenrevier ein Konzert für Frauen geben, die noch am selben Tag vergast werden sollten – beide Seiten, sowohl die Musikerinnen, als auch das Publikum waren sich dessen bewusst und Fénelon empfand dies als eines ihrer schrecklichsten Erlebnisse im KZ.[6]
Die Musikerinnen litten erheblich darunter, unter solchen Umständen und in solch einer Umgebung der von ihnen geliebten Passion, der Musik, nachgehen zu müssen. Viele blieben zeitlebens traumatisiert. Z. B. litt Zofia Cykowiak unter Angstzuständen, war apathisch und konnte nach Kriegsende nie mehr ihr erlerntes Instrument spielen. Andere Musikerinnen berichteten nach dem Krieg, dass sie sich während ihrer Zeit im KZ in Traumwelten hineinbegaben, um die Grausamkeiten ertragen zu können. Yvette Assael fing bei der Ankunft neuer Transporte an zu weinen, was sie der Gefahr aussetzte, aus dem Orchester ausgeschlossen zu werden, da Weinen von der SS verboten war.[7] Immer wieder erkrankten viele Musikerinnen an Durchfall, Tuberkulose, Fleckfieber, Typhus, Diphtherie, Malaria etc. Wenn die Krankheit nicht sehr ansteckend war, wurde die Kranke nicht in den Häftlings-Krankenbau verlegt. Wurde doch eine Musikerin in den Krankenbau eingeliefert, blieb sie von den Selektionen der SS meist verschont.
Die Geschichte des Orchesters wurde in Romanen, Dokumentationen und Filmen sowie einer Oper verarbeitet.
Das Orchester spielte am Tor, wenn die Arbeitskolonnen aus- und einmarschierten. Im Sommer rückten die Arbeitskolonnen zwischen 5 und 6 Uhr aus und kamen gegen 20 Uhr zurück. Im Winter marschierten sie zwischen 7 und 8 Uhr aus und kamen gegen 17 Uhr zurück.
Behauptung (Quelle: Esther Bejarano): Auch wenn die Deportationszüge mit jüdischen Menschen aus ganz Europa ankamen, musste das Orchester spielen. Die Ankommenden sollten in Sicherheit gewiegt werden, damit sie ohne Verdacht zu schöpfen und ohne Kampf in den Tod in die nahen Gaskammern gehen würden. Während Transporte ankamen, herrschte jedoch in der Regel Blocksperre für das ganze Lager.
Fania Fénelon bestreitet, dass das Orchester zu den Selektionen spielen musste, und nennt dies eine Legende. In ihrem Buch steht: „Seit dem Morgengrauen ist Blocksperre. Seit fünf Stunden sind alle Türen im Lager verriegelt, sogar bei uns. Nur die Tür des Musiksaals darf offen bleiben. Können die Menschen aus den Zügen unsere Musik hören? Wahrscheinlich hin und wieder Fetzen einer Melodie, sie schauen manchmal zu uns herüber.“[8]
Auch Anita Lasker-Wallfisch widerspricht der Behauptung, dass das Orchester an der Rampe spielen musste. Da der Block, in dem das Orchester untergebracht war, nahe an den Gleisen lag, ist es jedoch plausibel, dass die Ankommenden das Orchester beim Proben gehört haben.[9]
1. Zofia Czajkowska, wird „Tschaikowska“ ausgesprochen, Violine und Interpretation, Polin, sie hat sich als Nachkommin des Komponisten Peter Iljitsch Tschaikowski ausgegeben, war bis August 1943 Dirigentin, übergab dann die Führung an Alma Rosé, wurde Blockälteste und unterstützte das Orchester weiterhin
2. Alma Rosé, Violine, Österreicherin, Tochter des jüdischen Konzertmeisters an der Wiener Hofoper Arnold Rosé und Nichte des Dirigenten und Komponisten Gustav Mahler, ab August 1943 bis zu ihrem Tod Anfang April 1944
3. Sonia Winogradowa, auch Vinogradova, Piano, (nichtjüdische) Ukrainerin, von April 1944 bis zur Auflösung im Oktober 1944 und erneut im Januar 1945
Fania Fénelon, auch Piano und Notenschreiberin, Französin (Nr. 74862)
Violette Jacquet-Silberstein (Florette Fenet), aus einer ungarisch-jüdischen Familie stammende, in Rumänien geborene Violinistin und Sängerin, Französin[10][11] (Nr. 51937)
Lotte Lébédova, auch Gitarre, von Mai 1943 bis Oktober 1944, jüdische Tschechin
Henryka Czapala, auch Czapla, von Juni 1943 bis September 1943, dann ausgeschieden und weiteres Schicksal unbekannt, Polin
Helena Dunicz (Halina Opielka), später Dunicz-Niwińska, Violine, Polin (Nr. 64118)
Henryka Galazka, von Mai 1943 bis August 1943, dann ausgeschieden und weiteres Schicksal unbekannt, Polin
Hilde Grünbaum, später Zimche/Simche, auch Notenschreiberin, jüdische Deutsche, erstes jüdisches Mitglied des Orchesters
Violette Jacquet-Silberstein (Florette Fenet), aus einer ungarisch-jüdischen Familie stammende, in Rumänien geborene Violinistin und Sängerin, Französin[10][11] (Nr. 51937)
Playing for Time – Spiel um Zeit – Das Mädchenorchester in Auschwitz, Spielfilm USA 1980, mit Vanessa Redgrave als Fania Fénelon
Arthur Miller: Spiel um Zeit : ein Theaterstück nach dem Fernsehfilm von Arthur Miller nach dem Buch von Fania Fenelon "Das Mädchenorchester von Auschwitz". Übersetzung Maik Hamburger. Theatermanuskript. Frankfurt am Main : Fischer, 1987
Esther Béjarano und das Mädchenorchester von Auschwitz, Film von Christel Priemer 1992
Mädchenorchester, Musiktheater der Spreeagenten, Uraufführung Berlin 2019
Fania Fénelon: Das Mädchenorchester in Auschwitz. Übersetzung aus dem Französischen Sigi Loritz. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2008, 20. Aufl., ISBN 978-3-423-13291-6
Esther Béjarano, Birgit Gärtner: Wir leben trotzdem. Esther Béjarano – vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Künstlerin für den Frieden. Pahl-Rugenstein, Bonn 2005, ISBN 3-89144-353-6.
Gabriele Knapp: Das Frauenorchester in Auschwitz. Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung (= Musik im „Dritten Reich“ und im Exil, Nr. 2). Verlag von Bockel, Neumünster 1996, ISBN 978-3-928770-71-2.
Richard Newman, Karen Kirtley: Alma Rosé. Wien 1906 – Auschwitz 1944. Übersetzer Wolfgang Schlüter. Berliner Taschenbuch-Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-8333-0141-4.
Anita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2007, ISBN 978-3-499-33251-7.
Margita Schwalbová: Elf Frauen in Wahrheit. Ein Leben in Wahrheit. Eine Ärztin berichtet aus Auschwitz-Birkenau 1942–1945. Übersetzung. Herausgeberinnen Anne Mohr, Elisabeth Prégardier. Plöger, Annweiler, Essen 1994, ISBN 978-3-924574-84-0.
Jean-Jacques Felstein: Dans l'orchestre d'Auschwitz. Le secret de ma mère. Edition Imago, Paris 2010, ISBN 978-2-84952-094-9.
Bruno Giner: Survivre et mourir en musique dans les camps nazis. Berg international éditeurs, Paris 2011, ISBN 978-2-917191-39-2.
Werner Grossert: Carla und Sylvia Wagenberg. Zwei Dessauer jüdische Mädchen im „Mädchenorchester“ des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, Sonderheft der Dessauer Chronik. Funk Verlag Bernhard Hein, Dessau 2007, ISBN 978-3-939197-16-4 (Leseprobe)
Rachela Zelmanowicz-Olewski: Weinen hier verboten. Ein jüdisches Mädchen im polnischen Bendzin, im Ghetto von Bendzin und im Versteck, im Mädchenorchester von Auschwitz, in Bergen-Belsen und Israel 1921–1987. Herausgegeben von Erhard Roy Wiehn, Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 2018, ISBN 978-3-86628-620-7.
↑Assistant Professor of History Shirli Gilbert, Shirli Gilbert: Music in the Holocaust: Confronting Life in the Nazi Ghettos and Camps. Clarendon Press, 2005, ISBN 978-0-19-927797-1, S.178 (google.com [abgerufen am 18. Juli 2021]).
↑Fania Fenélon: Das Mädchenorchester in Auschwitz. 2008, S. 273.
↑Aussage von Anita Lasker-Wallfisch bei einem Gespräch in Traun am 29. September 2007.