Niall Ferguson [18. April 1964 in Glasgow) ist ein britisch-US-amerikanischer Historiker. Er ist Senior Fellow der Hoover Institution.[1] Davor hatte er die nach Laurence Tisch benannte Laurence-A.-Tisch-Professur für Geschichte an der Harvard University und die William-Ziegler-Professur für Wirtschaft an der Harvard Business School inne. Er lehrte unter anderem auch am Jesus College der Oxford University und an der Stanford University. Im akademischen Jahr 2010/2011 lehrte er außerdem an der London School of Economics and Political Science als Philippe Roman Professor of International History.[2] Er gilt als ein Spezialist für Finanz- und Wirtschafts- und europäische Geschichte sowie für die Familiengeschichte der Rothschilds.
] (*Ferguson wurde 1964 in Glasgow als Sohn einer Lehrerin und eines Hausarztes geboren. Nach dem Geschichtsstudium an der Oxford University wurde er 1989 nach Archivarbeit als „Hanseatic Scholar“ in Deutschland mit der Arbeit Business and Politics in the German Inflation: Hamburg 1914–1924 zum Dr. phil. promoviert.[3]
Es folgten wissenschaftliche Anstellungen in Oxford und an der New York University, als Spezialist für Finanz-, Wirtschafts- und europäische Geschichte. Im Jahr 2004 nahm er den Ruf nach Harvard an. Er ist ebenso Senior Fellow der Hoover Institution und assoziiert mit dem von George Soros mitfinanzierten INET, dem Institute for New Economic Thinking.[3] Mit anderen Intellektuellen gründete er 2021 die University of Austin.[4]
Im Jahr 2004 wurde er vom Time Magazine als eine der 100 einflussreichsten Personen der Welt gelistet.[5]
Ferguson hat sich oft, auch pointiert, zu aktuellen Themen wie zur Finanzkrise und zur Flüchtlingskrise seit 2015 geäußert.[6] 2016 war er Sprecher beim Weltwirtschaftsforum in Davos.[7]
Er verfügte 2006 über einen Mitarbeiterstab von insgesamt über 15 Assistenten und Übersetzern, die ihm wissenschaftlich zuarbeiten und seine Werke nach Fertigstellung zügig in andere Sprachen übersetzen, des Weiteren über je einen Verkaufsagenten für Print- und elektronische Medien. Der Jahresumsatz dieser Unternehmen ist höher als der jährliche Etat einer historischen Fakultät an einer kleineren deutschen Universität. Neben seinen Lehrtätigkeiten schrieb er eine Kolumne für die Sunday Times,[8] seine Bücher über den Ersten Weltkrieg (1914. Why the World Went to War) und die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts (War of the World. History’s Age of Hatred, 1914–1989) entstanden zusammen mit Fernsehserien für den britischen Unterhaltungssender Channel 4.[9]
Vor der Brexit-Abstimmung im Juni 2016 plädierte er gegen einen Brexit; danach änderte er seine Meinung.[10]
Ferguson war von 1994 bis 2011 mit der Zeitungsverlegerin Sue Douglas verheiratet. Seit 2011 ist er mit der aus Somalia stammenden niederländischen Politikerin, Frauenrechtlerin und Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali verheiratet.[11] Er ist Vater von fünf Kindern.[12] 2018 nahm er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an.[13]
Ferguson wird von einigen Kommentatoren und Historikerkollegen als konservativer Historiker bezeichnet.[14] Ferguson selbst erklärte 2018 in einem Interview im Rubin Report, dass seine Ansichten dem klassischen Liberalismus entsprechen,[15] und bezeichnete sich bei anderen Gelegenheiten als "klassischer schottischer Aufklärungsliberaler".[16] Einige seiner Forschungen und Schlussfolgerungen haben zu Kontroversen geführt, insbesondere von Kommentatoren auf der linken Seite des politischen Spektrums.[16]
Bei den Wahlen zum Parteivorsitz der Konservativen im Juli 2022 unterstützte Ferguson die Kampagne von Kemi Badenoch.[17]
1998 erschien sein Buch The Pity of War (dt. 2001: Der falsche Krieg); in diesem untersuchte er die Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dabei kam er zu dem Schluss, dass nicht, wie auch von vielen deutschen Historikern (etwa Fritz Fischer oder Wolfgang J. Mommsen) angenommen, Deutschland, sondern vielmehr das Britische Empire für die Eskalation im Sommer 1914 hauptverantwortlich sei (siehe auch: Kriegsschuldfrage#Großbritannien). Laut Ferguson forcierte der britische Außenminister Edward Grey gezielt die Spannungen zwischen Großmächten. Hätte sich Großbritannien aus dem Krieg herausgehalten, so wäre das Ergebnis nach Ferguson zwar ein deutscher Sieg gewesen, aber auch ein prosperierendes Nachkriegs-Europa, in dem es zu Demokratisierung gekommen wäre, also faktisch zu einer Art „Europäischer Gemeinschaft“ unter deutscher Hegemonie, während Großbritannien weiterhin ein intaktes Empire geblieben wäre. Nach Ferguson – der sich dabei der Methode der kontrafaktischen Geschichte bedient und als einer ihrer Hauptbefürworter gilt – hätte damit auch der Nationalsozialismus keinen Nährboden gehabt, da dieser nur eine direkte Folge des „Großen Krieges“ gewesen sei. Stattdessen sei durch den unnötigen Kriegseintritt Großbritanniens der Krieg eskaliert – und doch sei das Ergebnis heute so, dass Deutschland die wirtschaftliche Vormacht in Europa ist.
Ebenso bestreitet er, dass es einen deutschen Sonderweg gegeben habe. Ferguson vertritt in dem Buch, insbesondere im Unterkapitel Im Felde unbesiegt?, die These, dass bis zuletzt Deutschland den Krieg nicht hätte verlieren müssen. Nicht die taktische oder materielle Überlegenheit der Alliierten habe den Krieg beendet, sondern eine Krise der deutschen Kampfmoral (vgl. Dolchstoßlegende), welche nur teilweise der exogenen Kraft der alliierten Infanterie und Artillerie zugeschrieben werden könne.[18] Vielmehr sei den deutschen Soldaten schon im September 1918 nicht verborgen geblieben, dass der Chef der Obersten Heeresleitung Erich Ludendorff auf einen Waffenstillstand drängte – nach Ferguson eine „Überreaktion“ eines „müden und kranken“ Ludendorff auf das Scheitern seiner Offensiven. Der „Nervenzusammenbruch“ ihres Oberkommandierenden habe wiederum zum Zusammenbruch der Kampfmoral geführt.
Niall Ferguson unterstützte in der Vergangenheit die Außenpolitik des republikanischen US-Präsidenten George W. Bush, wie etwa die Irakinvasion 2003; dazu vgl. auch Fergusons Colossus. The Rise and Fall of the American Empire (dt. 2004: Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht), wo Ferguson für die Notwendigkeit eines globalen „Hegemons“ eintritt. Er trat ebenso für eine stärkere Kürzung der Sozialausgaben in den USA ein, da es ansonsten zu ernsten finanzpolitischen Problemen kommen würde. Nachdem die Regierung Bush dies nicht in dem von Ferguson als notwendig erachteten Maße umgesetzt hatte, sprach er sich im Jahr 2004 gegen die Wiederwahl Bushs aus.
2008 veröffentlichte er das Buch The Ascent of Money: A Financial History of the World (dt: „Der Aufstieg des Geldes: eine Finanzgeschichte der Welt“); es wurde im selben Jahr mit ihm für den britischen Channel 4 als sechsteilige Fernsehreihe mit zu Boom and Bust abgewandelten Untertitel produziert. Ferguson hob unter anderem hervor, dass das Wirtschaftswachstum Chiles nach der Intervention der Chicago Boys tatsächlich höhere Wachstumsraten aufgewiesen habe.[19] Unverständnis erntete er von Teilen des Publikums dafür, dass er bei seiner negativen Bewertung des Sozialstaates zwar Großbritannien und Japan, aber nicht die skandinavischen Länder wie Schweden und Dänemark erwähnte. Da Buch und Fernsehserie kurz vor dem globalen Finanzcrash 2008 desselben Jahres veröffentlicht wurden, bot unter anderem seine Huldigung von Hedgefonds ein besonders leichtes Angriffsfeld für Kritiker.[20] Lobende Kritiken erhielt Ferguson unter anderem von Raghuram Rajan, dem ehemaligen Chefvolkswirt des IWF, der Ferguson bescheinigte, auf die Gefahren der Kreditexpansion vor Ausbruch der Finanzkrise hingewiesen zu haben.[21]
In seiner Kolumne in der Financial Times lieferte sich Ferguson nach dem 30. April 2009 eine öffentliche Fehde mit dem Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman.[22] Ausgangspunkt war eine Kontroverse über mögliche Wege aus der US-Haushaltskrise. Ferguson, der inzwischen in den USA lebt, hat mehrmals für die Republikaner und gegen Präsident Obama Partei ergriffen, während Krugman als linksliberal gilt.
In Hinblick auf das bekannte John-Maynard-Keynes-Zitat „Auf lange Sicht sind wir alle tot“ sagte Ferguson 2013 auf einer Konferenz, dass sich Keynes nicht für die Zukunft interessiert habe, da er homosexuell gewesen sei und keine Kinder gehabt habe. Er wurde daraufhin viel kritisiert; man warf ihm vor, Teile des Zitates, die den Zusammenhang erklären, unterschlagen zu haben, oder dass er, wie viele andere auch, das aus dem Kontext gerissene Zitat einfach nicht verstehe, wie der Cambridger Wirtschaftswissenschaftler Simon Taylor schrieb.[23]
“... The long run is a misleading guide to current affairs. In the long run we are all dead. Economists set themselves too easy, too useless a task if in tempestuous seasons they can only tell us that when the storm is past the ocean is flat again.”
„... ‚Auf lange Sicht‘ ist ein irreführender Leitfaden für aktuelle Angelegenheiten. Auf lange Sicht sind wir alle tot. Wirtschaftswissenschaftler setzen sich eine zu leichte und zu nutzlose Aufgabe, wenn sie uns in stürmischen Zeiten nur sagen können, dass der Ozean wieder ruhig ist, sobald der Sturm vorbei ist.“
Im Blog seiner Website bezeichnete Ferguson seine Äußerung später selbstkritisch als doppelt dumm: „Erstens ist es offensichtlich, dass auch Leute, die keine Kinder haben, sich um künftige Generationen kümmern“, und zweitens habe er vergessen, dass Keynes und seine Frau Lydia ungewollt kinderlos geblieben waren, da ein erwartetes Kind tot geboren wurde.[24][25]
Nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris im Herbst 2015 veröffentlichte Ferguson einen Artikel in mehreren großen Zeitungen, in dem er behauptete, Europa erlebe gewissermaßen gerade eine Wiederholung des Untergangs des Römischen Reiches in der Spätantike: Damals wie heute würden Barbaren von Außen eindringen und gewaltsam eine Zivilisation zerstören. Mehrere Althistoriker kritisierten daraufhin, dass Fergusons Aussagen nicht nur politisch fragwürdig seien, sondern dass er überdies auch den tatsächlichen Forschungsstand zum Ende Westroms nicht zu kennen scheine.[26]
2011 erschien Fergusons viel beachtetes, umstrittenes Werk Civilization. The West and the Rest zuerst in London und im gleichen Jahr auch in deutscher Sprache: Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen. Zu Beginn legt er einige Grundsätze seines Geschichtsverständnisses dar: Für ihn sei die Vergangenheit nicht einfach abgeschlossen, sondern sie lebe in der Gegenwart weiter in Form von Spuren wie Gegenständen und Dokumenten. Es gehe nicht darum, Beweisstücke zu sammeln, sondern eine Geschichte des Denkens zu erkennen und nachzuvollziehen. Historisches Wissen lasse vergangenes Denken erahnen und mache es im Kontext der Gegenwart sichtbar. Er verstehe sich wie ein Wildhüter, der erfolgreich Spuren suche und finde. Geschichte könne helfen, die Gegenwart zu klären und die heutige Situation besser beurteilen zu können. Darin folge er dem britischen Historiker Robin George Collingwood.
Sodann folgen Ausführungen, weshalb „der Westen“ seit etwa 1500 eine solch globale Macht geworden sei. Ferguson skizziert sechs entscheidende Faktoren, die er sogenannte „Killerapplikationen“ nennt, die alle zum phänomenalen Aufstieg notwendig gewesen seien und zu westlichem Wohlstand und Dominanz seit etwa 500 Jahren geführt hätten:[27]
Am Schluss bezeichnet Ferguson Zivilisationen und Kulturen als komplexere und interagierende Systeme zwischen Ordnung und Chaos. Er vergleicht sie mit fraktaler Geometrie, überoptimierten Elektrizitätsnetzen und Termiten. Bei Fehlfunktionen seien Katastrophen wie Finanzkrisen und Kriege die Folge. Beispiele für ein schnelles Ende sind laut Ferguson folgende Reiche:
Ferguson kann Samuel P. Huntington und seinem Kampf der Kulturen nur teilweise zustimmen, weil er ethnische Konflikte stärker gewichtet als religiöse Kriege. Zunehmende lokale Auseinandersetzungen bewirken eher einen Zusammenbruch der Kulturen. Als neuen Aufsteiger bezeichnet er China, das die westlichen „Killerapplikationen“ am besten verstanden, adaptiert und angewandt habe durch Konsum, Importe und Auslandsinvestitionen.
Fergusons Werk wurde breit und kontrovers diskutiert. Seine Sprache und Form wurden meist positiv gewertet und gewürdigt; Inhalt und Thesen wurden teils scharf kritisiert, insbesondere wegen zu „westlich“ gefärbter Perspektiven und unzulässiger Vereinfachungen. Es erhielt aber auch begeisterte Zustimmung.[28][29][30][31]
2018 trat Ferguson von seinem Posten an der Stanford-Universität zurück, als bekannt wurde, dass er nach Protesten gegen den Auftritt von Charles Murray konservative Studenten dazu aufgefordert hatte, Hintergrundinformationen über einen linksgerichteten Studenten zu recherchieren (opposition research), und in diesem Zusammenhang u. a. John Rice-Cameron angeschrieben hatte, Sohn von Susan Rice und Vorsitzender des Studentenverbandes der Republikaner an der Stanford-Universität: „Jetzt wenden wir uns dem feineren Spiel zu, sie im Studentenausschuss zu zermürben. Der Preis der Freiheit ist ständige Wachsamkeit.“ Rice-Cameron antwortete: „Wir werden den Widerstandsgeist der Linken langsam weiter zermalmen, denn unter Druck werden sie brechen.“[32]
Im März 2019 erschien in der NZZ ein Interview mit René Scheu, in dem Ferguson die „kulturelle Hegemonie“ der Linken an angloamerikanischen Universitäten und in den Medien anprangerte. Er kritisierte, dass Rechte generell als potentielle Nazis gesehen würden, während „Sozialisten und Kommunisten [...] moralisch einwandfreie Sozialdemokraten“ seien, „die auf ihrem Weg zur Beglückung der Menschheit bloß ein paar folgenschwere Fehler begangen“ hätten.[33]
Die FAZ veröffentlichte im Juni 2024 einen Gastbeitrag von Ferguson und Moritz Schularick mit dem Tenor, Deutschland müsse angesichts der russischen Aggression seinen Verteidigungshaushalt deutlich erhöhen – auch mit Kreditaufnahmen.[34]
Video
Personendaten | |
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NAME | Ferguson, Niall |
KURZBESCHREIBUNG | britisch-US-amerikanischer Historiker |
GEBURTSDATUM | 18. April 1964 |
GEBURTSORT | Glasgow, Schottland |