Nietzsche contra Wagner ist Friedrich Nietzsches letzte Schrift, die er Ende 1888 zu Papier brachte, ehe er am 3. Januar 1889 in Turin einen geistigen Zusammenbruch erlitt, von dem er sich nicht mehr erholte.
Bereits Monate zuvor hatte er dort mehrere Schriften verfasst, in denen es unter anderem um sein Verhältnis zu Richard Wagner ging: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung und Ecce homo. Mit dieser Auswahl teilweise überarbeiteter Texte wollte Nietzsche, Autor der Geburt der Tragödie, den Vorwurf entkräften, er sei erst mit dem Fall Wagner vom glühenden Verehrer zum erbitterten Gegner des Komponisten geworden.[1]
So stellte er „Aktenstücke“ früherer Schriften – etwa aus Menschliches, Allzumenschliches – zusammen, die belegen sollten, er habe bereits 1876, während der ersten Festspiele, bei sich Abschied von Wagner genommen. Die Zweifel des noch jungen Autors Nietzsche an der Sache Wagners sind von der Forschung anhand früher Schriften und Entwürfe eindeutig bestätigt worden.
Das Verhältnis Wagner-Nietzsche war ambivalent. Als junger Professor in Basel war Nietzsche vom 31 Jahre älteren Wagner begeistert und besuchte ihn ab Mai 1869 regelmäßig in Tribschen. Er bewunderte und verehrte Wagner, ebenso dessen junge Frau Cosima. Im Gegenzug wurde Nietzsche bei den Wagners wie ein Sohn aufgenommen. Viele Briefe aus dieser Zeit zeugen von dem mehr als freundschaftlichen Verhältnis. So schreibt der 24-jährige Nietzsche an seinen Freund Erwin Rohde, nachdem er Wagner erstmals in Leipzig kennengelernt hatte:
Wagner hatte vor, Nietzsche in die Organisation der ersten Bayreuther Festspiele einzubinden. Nietzsche war nicht abgeneigt und schrieb mehrere positive Artikel und Essays, u. a. Wagner in Bayreuth. Zu Wagners 60. Geburtstag schrieb Nietzsche:
Aus bis heute nicht eindeutig geklärten Gründen persönlicher oder ideeller Art (Entfernung Wagners von früheren Idealen, Rückkehr zur christlichen Symbolik mit dem Parsifal oder der Dekadenz Bayreuths) kühlte sich das Verhältnis ab und zerbrach mit der letzten Begegnung im September des Jahres 1876 in Sorrent. Seitdem gab es keinen Briefwechsel mehr, aber man schrieb übereinander. Erst nach dem Tode Wagners im Jahre 1883 – Nietzsche soll sehr darunter gelitten haben – konnte sich Nietzsche (scheinbar) von Wagner befreien und kritisierte ihn nun zunehmend heftiger.
Über das Verhältnis wird bis heute viel spekuliert. Nietzsche lernte die nur wenig ältere Cosima Wagner in Tribschen kennen, als diese mit ihrem Sohn Siegfried bereits hochschwanger war, und weilte auch bei der Geburt des Kindes im Juni in Tribschen. Es war in erster Linie Cosima, die mit Nietzsche korrespondierte und für ihn offensichtlich eine ebenso kompetente Diskussionspartnerin war wie ihr Mann. Nietzsche schrieb ihr mehrere Gedichte und komponierte für sie. Später nannte er sie seine „Ariadne“, so in seinem Gedicht „Klage der Ariadne“. Andererseits kreidete er ihr später an, sein Idol Richard Wagner negativ beeinflusst zu haben, denn der von ihm so bewunderte Kultur-Revolutionär war aus seiner Sicht „zu Kreuze“ gekrochen. Cosima, seine katholische „Fessel“, nur sie konnte die Schuldige sein, habe ihn „verdorben“ und „Götzendienst“ mit ihm gehalten. Sein tiefsinniger Kommentar, als vermeintliche Parsifal-Kritik oft falsch interpretiert:
In seiner Schrift Der Fall Wagner wird Nietzsche noch deutlicher:
Als Nietzsche nach seinem Zusammenbruch in die Heilanstalt Jena eingeliefert wurde, notierte man dort seinen Ausspruch: „Meine Frau Cosima Wagner hat mich hierher gebracht.“ Später fand man in seinem Nachlass mehrere Briefentwürfe an Cosima Wagner.
Datiert mit 3. Januar 1889 (am Tag seines Zusammenbruchs):
Datiert mit ungefähr 25. Dezember 1889:
Nietzsche geht in seiner allerletzten Schrift, die sich abermals mit Wagner auseinandersetzte und den Untertitel „Aktenstücke eines Psychologen“ trägt, auf Gemeinsamkeiten und Gegensätze ein.
Nietzsche schrieb diese „Erleichterung“ mit dem Untertitel: „Ein Musikanten-Problem“ im September 1888 und stellte schon in seinem Vorwort klar, dass er ein Kind einer dekadenten Zeit sei, sich aber, anders als Wagner und Schopenhauer, die er als „seine Krankheit“ bezeichnet, dagegen wehrt und nun durch „Selbstüberwindung“ die ganze „Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht“. Er beginnt seine kritischen Ausführungen mit einem Vergleich zwischen der „liebenswürdigen“ Musik von Georges Bizets Carmen, die hell und die diesseitige Welt verkörpere, und der schweren, schwülen Atmosphäre („Wasserdampf“) Wagners.
Nietzsches Kritik an Wagner ist vielschichtig, und obwohl sie sich vor allem am Spätwerk (Parsifal) entzündete, bezog er sie nun auch auf frühere Werke und den Ring des Nibelungen, den er in den Unzeitgemäßen Betrachtungen noch gefeiert hatte. Als ehemaliger „Schüler“ Schopenhauers (Schopenhauer als Erzieher), der sich später gegen den Pessimismus seines Lehrers stellte, analysierte Nietzsche dessen Einfluss auf Wagner. Habe Wagner als revolutionärer Denker zunächst in Verträgen, Gesetzen, Institutionen das Übel der Welt erblickt – das Vertragsmotiv im Ring –, änderte sich später sein Weltbild, und das christliche Motiv der Erlösung trat in den Mittelpunkt. Viele Figuren Wagners sollten fortan „erlöst“ werden. Wagners „Schiff“ sei nach der „Götterdämmerung der alten Moral“ lange Zeit „lustig auf dieser Bahn“ (des Optimismus) gelaufen, bis es auf das „Riff“ der Schopenhauerschen Philosophie gefahren sei. Er habe dann den Ring ins Schopenhauersche übersetzt: Alles auf der Welt laufe schief, und alles gehe zugrunde. So sei nur das Nichts, die Auslöschung, die „Götterdämmerung“ die Erlösung – und dieses Nichts werde von Wagner nun unaufhörlich gefeiert. Nietzsche wiederholt mehrmals, dass Wagner der Künstler der „décadence“ sei:
In seiner Kunst sei auf die verführerischste Art gemischt, was die Welt am nötigsten hätte: das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische). Seine Musik sei ein Verderben und ziele „auf die Nerven“. Nietzsche steigert sich im Verlauf seiner Ausführungen einerseits in „Schimpftiraden“ und bezeichnet Wagner als den größten Schauspieler, andererseits als ein Genie, das das „Sprachvermögen der Musik ins Unermessliche vermehrt“ habe. Er wolle nichts anderes als „Wirkung“. Mit Sarkasmus stellt er fest:
In seiner fast zeitgleich verfassten autobiographischen Bilanz, die wie ein Brennglas des Denkens Nietzsches wirkt, nimmt er vielmals Stellung zu Wagner. Insgesamt geht er allein in Ecce homo über 70 Mal auf Wagner ein, wobei es je nach Intention leicht ist, Nietzsche gegen sich selbst zu zitieren.