In Berlin legte Richard Rothe Ende 1820 das Erste Theologische Examen ab und trat anschließend bis 1822 in das pietistisch geprägte Predigerseminar in Wittenberg ein. Danach war er Kandidat in dem evangelischen Kirchendienst in Breslau. Sein Zweites Theologisches Examen und seine Ordination fanden 1823 in Berlin kurz hintereinander statt. Denn der Leiter des Wittenberger Predigerseminars Heinrich Leonhard Heubner hatte dem preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten schon 1823 Richard Rothe als Kandidat für das Amt des preußischen Gesandtschaftspredigers in Rom empfohlen, zu dem Rothe am 16. Dezember 1823 auch ernannt wurde. Im gleichen Jahr hatte Rothe Luise von Brück (1803–1861) geheiratet, eine jüngere Schwester der Ehefrau Heubners. 1828 wurde er Professor am Predigerseminar in Wittenberg und 1832 zweiter Direktor und Ephorus dieser Anstalt. 1837 wurde er von der badischen Regierung durch Vermittlung seines Heidelberger Lehrers Carl Daub zum ordentlichen Professor für Neues Testament, Dogmatik und Praktische Theologie an die Universität Heidelberg berufen. Hier war er auch noch Direktor des Heidelberger Predigerseminars. In dieser Zeit veröffentlichte Rothe sein Hauptwerk, die Theologische Ethik. Im November 1849 folgte er einem Ruf als Professor für Praktische Theologie an die Universität Bonn. Er kehrte aber wegen des schlechten Gesundheitszustandes seiner Frau 1854 ins klimatisch günstigere Heidelberg zurück. Hier übernahm er die Professur Carl Christian Ullmanns, der die Stelle des Prälaten der Evangelischen Landeskirche in Baden übernahm. Rothe lehrte nun als Ordinarius neben seinen bisherigen Fächern auch Kirchengeschichte. Gleichzeitig hatte er auch wieder das Amt des Universitätspredigers inne.
Richard Rothe wurde 1861 zum außerordentlichen Mitglied des Karlsruher Oberkirchenrats berufen und 1863 und 1865 vom Großherzog Friedrich I. von Baden zum Mitglied der Ersten Kammer des badischen Landtags ernannt. In den Jahren 1843, 1855, 1861 und 1867 nahm er an den Generalsynoden der Badischen Evangelischen Kirche teil und war 1863 an der Gründung des Deutschen Protestantenvereins beteiligt.
Rothe war auch Gründungsvater des Akademisch Theologischen Vereins zu Heidelberg, aus welchem die Studentenverbindung AThV Wartburg hervorging.[2]
Richard Rothe wollte den Bereichen Religion und Kirche die Zuständigkeit für die Sittlichkeit entziehen und diese sollte in einem sittlichen Kulturstaat zum Tragen kommen. So wäre die Institution der Kirche in einem christlichen Kulturstaat aufgegangen. Dieser Kulturstaat stellte sich nach Rothe als „absolute Theokratie“[3] dar, aus der das „vollendete Reich Gottes“[4] entstehen würde. Dieser Gedankengang ging aus Rothes spekulativer Theologie hervor, die an kein Dogma gebunden und die von der herrschenden Kirchenlehre abgewichen war. Nach dem Beispiel Friedrich Schleiermachers unterteilte Rothe die Theologie in die spekulative, historische und praktische Theologie. Die von Rothe entfaltete spekulative Theologie ließ sich von dem Inhalt der Bibel und einem frommen Gottesgefühl leiten. Da dieses fromme Gottesgefühl aber in den christlichen Kirchen unterschiedlich stark ausgeprägt war, konnte diese spekulative Theologie nach der inhaltlich protestantisch bestimmten Frömmigkeit nur in einem protestantischen Kulturstaat Anwendung finden. Die Bedeutung der Theologie Rothes besteht heute darin, dass das „Gottesgefühl der Frömmigkeit“ in den Gottesgedanken der gesamten spekulativen Theologie überführt wurde.
Richard Rothe war im 19. Jahrhundert eine wichtige Person des liberalen Protestantismus. Die Auffassung Rothes, die Kirche solle in einem sittlichen Kulturstaat aufgehen, wurde damals von vielen Protestanten vehement vertreten. Diese Überzeugung passt heute nicht mehr in das „Grundprinzip der Moderne“,[5] das u. a. von einer Autonomie des Individuums ausgeht, sie ist daher nicht mehr schulbildend. – Einige Theologen der Neuzeit schließen sich dem Gedanken Rothes noch einmal an, das Christentum solle außerhalb der Kirche bestehen, da sich das moderne Christentum von einer dogmatisch-kirchlichen zu einer ethischen Ausrichtung geändert habe.
Rudolf Ehlers: Richard Rothe. (Männer der Wissenschaft. Eine Sammlung von Lebensbeschreibungen zur Geschichte der wissenschaftlichen Forschung und Praxis, Heft 11). Welcher, Leipzig 1906.
Manfred Baumotte: Friedrich Julius Stahls und Richard Rothes Version des „christlichen Staates“. In: Wolf-Dieter Marsch (Hrsg.): Die Freiheit planen. Göttingen 1971, S. 173–188.
Falk Wagner: Theologische Universalintegration – Richard Rothe 1799-1867. In: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Bd. 1. Gütersloh 1990. S. 265–286.
Heike Krötke: Selbstbewußtsein und Spekulation. Eine Untersuchung der spekulativen Theologie Richard Rothes unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Anthropologie und Theologie. Hrsg. von Hans-Walter Schütte. De Gruyter, Berlin / New York 1999, ISBN 3-11-016695-X.
Christian Albrecht: Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis. Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie. Tübingen 2000, ISBN 3-16-147299-3, S. 147–198 [Realisierungsgestalten christlicher Substanz in der modernen Kultur. Zur Protestantismustheorie Richard Rothes].
Angelika Dörfler-Dierken: Luthertum und Demokratie. Deutsche und amerikanische Theologen des 19. Jahrhunderts zu Staat, Gesellschaft und Kirche. (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 75), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-55183-5, S. 49–113.
Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon, Bd. 2: 1803-1932. Springer, 2. [überarb. u. erweiterte] Aufl. Wiesbaden 2019, S. 674 f.
Konrad Fischer: Richard Rothe (1799–1867). In: Lebensbilder aus der evangelischen Kirche in Baden im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 3: Heidelberger Universitätstheologie. Ubstadt-Weiher u. a. 2020, 100–159.
↑Klaus-Peter Kriegsmann: 125 Jahre Prinzip Wissenschaft - Festschrift zum 125. Stiftungsfest. In: Schriften der Akademisch Theologischen Verbindung Wartburg zu Heidelberg. Band 2. Heidelberg 1988, S. 12ff.
↑Richard Rothe: Theologische Ethik, Bd. 2, Wittenberg 1869, S. 476.
↑Falk Wagner: Theologische Universalintegration - Richard Rothe 1799-1867, in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, Bd. 1, Gütersloh 1990, S. 277.
↑Theologische Realenzyklopädie, Bd.29, hg. von Gerhard Müller, Berlin 1998, S. 439.