Sibylle Lewitscharoff (* 16. April 1954 in Stuttgart; † 13. Mai 2023 in Berlin) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie wurde 2013 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Sibylle Lewitscharoff wuchs in Stuttgart-Degerloch als Tochter des Arztes Kristo Lewitscharoff und seiner Frau Marianne gemeinsam mit einem jüngeren Bruder auf.[1] Ihr aus Bulgarien stammender Vater, der in den 1940er Jahren nach Deutschland emigriert und in Stuttgart als Gynäkologe tätig war, litt an Depressionen und starb 1965 durch Suizid, als Lewitscharoff elf Jahre alt war. Sie interessierte sich früh für Literatur und engagierte sich als Jugendliche und Gymnasiastin politisch. 1972 machte sie ihr Abitur. Sie war in dieser Zeit Trotzkistin, las Karl Marx und beteiligte sich an der Gründung eines regionalen Ablegers des Sozialistischen Büros.[2][3][4][5][6]
1973 ging Lewitscharoff nach West-Berlin, wo sie seitdem ihren Lebensmittelpunkt hatte. Sie studierte Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin bei Klaus Heinrich und Jacob Taubes. Während ihres Studiums hielt sie sich für längere Zeit in Buenos Aires und Paris auf. Nach Abschluss ihres Studiums arbeitete Lewitscharoff ab den 1980er Jahren bis Anfang der 2000er Jahre als Buchhalterin in der Berliner Werbeagentur ihres Bruders und organisierte zudem Ausstellungen. Nebenher begann sie ihre schriftstellerische Tätigkeit und verfasste anfangs Radio-Features und Hörspiele. 1994 erschien ihr erster Roman, ab Anfang der 2000er Jahre war sie als freie Autorin tätig. Seither veröffentlichte Lewitscharoff mehrere Prosawerke und Essays sowie ein Theaterstück und erhielt für ihr schriftstellerisches Werk zahlreiche Literaturpreise.[2][3][5][7]
Ende 2009/Anfang 2010 beteiligte sie sich mit einer eigenen Ausstellung von verschiedenen Arbeiten und einem begleitenden Essay an der Veranstaltungsreihe FLUXUS des Deutschen Literaturarchivs Marbach im Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar.[8] Im Grimm-Jahr 2013 übernahm Lewitscharoff die Grimm-Professur an der Universität Kassel.[9] Ebenfalls 2013 erhielt sie ein Stipendium für die Deutsche Akademie Rom Villa Massimo.[10]
Ab 2005 war sie Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und Mitgründerin des PEN Berlin.[11] Außerdem war sie ab 2007 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie ab 2010 der Akademie der Künste in Berlin.[12]
Mehr noch als in ihrem literarischen und essayistischen Schaffen kam in „ihrem bildnerischen Werk die abgründig dunkle Seite ihres Wesens zum Vorschein“.[13]
Sibylle Lewitscharoff lebte zusammen mit ihrem Mann, dem 2019 verstorbenen Künstler Friedrich Meckseper, in Berlin.[7] Lewitscharoff war evangelisch, kritisierte aber „verwilderte haltlose Formen der Predigt und des Gottesdienstes“ ihrer Kirche. Das christliche Gebot der Nächstenliebe spielte für sie eine besondere Rolle als „Schwächung der immerzu sprungbereiten Aggressionen“.[14]
Im Januar 2022 sprach Lewitscharoff ausführlich mit der Zeit über ihre zwölf Jahre währende Erkrankung an Multipler Sklerose, die sie in den Rollstuhl zwang. Sie gab an, die Krankheit habe ihre Einstellung zur Sterbehilfe grundlegend verändert.[15] Sie starb im Mai 2023 in Berlin und wurde auf dem Waldfriedhof Heerstraße in Berlin-Westend beigesetzt.
Sibylle Lewitscharoff debütierte 1994 mit dem Prosaband 36 Gerechte, der auch einige ihrer Scherenschnitte enthielt und in kleiner Auflage im Verlag der Galerie Steinrötter in Münster erschien. 1998 veröffentlichte sie die Erzählung Pong, für die sie in Klagenfurt mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Pong ist die Geschichte eines Verrückten, der die Welt verändern will und dessen absurde Logik die Perspektive der Erzählung bestimmt.
Im Jahr 2003 erschien der Roman Montgomery, der die Lebensgeschichte eines schwäbisch-italienischen Filmproduzenten mit Namen Montgomery Cassini-Stahl erzählt. Dieser will einen Film über Joseph Süß Oppenheimer drehen und stirbt während der Dreharbeiten; sein Tod ist der Ausgangspunkt des Romans, der das Leben der Hauptfigur in Rückblenden darstellt. In Lewitscharoffs 2006 erschienenem Roman Consummatus sitzt der Lehrer Ralph Zimmermann in einem Café und lässt in einem Monolog sein Leben Revue passieren, darunter den Tod seiner Eltern und die Liebe zu einer Sängerin, mit der er bis zu ihrem Tod einige Monate lang in Europa unterwegs war. 2009 erschien der autobiographisch geprägte satirische Roman Apostoloff, in dem zwei Schwestern in Bulgarien unterwegs sind, wohin die sterblichen Überreste ihres bulgarischen Vaters überführt wurden. Die jüngere Schwester, die Erzählerin, rechnet sowohl mit ihrem toten Vater als auch mit dessen Herkunftsland Bulgarien ab. In Lewitscharoffs 2011 veröffentlichtem Roman Blumenberg erscheint der Titelfigur, dem Philosophen Hans Blumenberg, eines Nachts ein Löwe im Arbeitszimmer. Er liegt auf dem Teppich und schaut den Hausherrn an und zeigt sich auch während seiner Vorlesung an der Universität. Wahrgenommen wird der Löwe nur von ihm und einer alten Nonne. Die Autorin erzählt aus Blumenbergs akademischer Tätigkeit (nächtliche Arbeit am Schreibtisch und Vorlesungen in der Universität Münster) und das mit ihm unverbunden erscheinende Schicksal von vier seiner Studenten, die alle früh, plötzlich oder gewaltsam zu Tode kommen. Die Anregung für die Figur des Löwen fand die Autorin in den unter dem Titel Löwen 2001 erschienenen philosophischen Betrachtungen aus dem Nachlass Hans Blumenbergs. Das Buch hat viele lobende Rezensionen in den Feuilletons führender Zeitungen[16] erhalten; kritisch fielen hingegen die Rezensionen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung[17] und in der Kulturzeitschrift Merkur[18] aus.
Im Jahr 2014 erschien Lewitscharoffs einziger Kriminalroman Killmousky, der von der Kritik verhalten aufgenommen wurde.[19]
Am 2. März 2014 hielt Lewitscharoff eine Ansprache im Rahmen der traditionsreichen Dresdner Reden im Staatsschauspiel der Stadt,[20] die für einen Eklat sorgte.[21] In ihrer Rede ging Lewitscharoff unter anderem auf die Themen künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft ein. Das „drastische biblische Onanieverbot“, so Lewitscharoff, erscheine ihr heute „geradezu als weise“ angesichts der ihr grotesk und widerwärtig erscheinenden Vorstellung, dass ein Mann in eine Kabine geschickt werde, um unter Umständen mithilfe von Pornographie an einer Zeugung beteiligt zu werden. Und weiter:
„Mit Verlaub, angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden blauäugigen ss-Männern [sic!] zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor. Ich übertreibe, das ist klar, übertreibe, weil mir das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse derart widerwärtig erscheint, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas. Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.“
Diese und weitere Passagen der Rede lösten scharfe Kritik aus. Robert Koall, der Chefdramaturg am Staatsschauspiel, wandte sich in einem offenen Brief an die Autorin, in dem er ihre Haltung scharf verurteilte. In der taz nannte Dirk Knipphals die Rede „eine schreckliche, menschenverachtende Tirade“.[22] Viele Leitmedien teilten diese Auffassung.[23][24][25] Weitere Kritik kam unter anderem vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland,[26] dem Dresdner Bischof Heiner Koch,[27] vom Präsidenten der Berliner Akademie der Künste Klaus Staeck sowie von Gisela von Wysocki.[28] Nur einzelne Medien verteidigten Lewitscharoffs Aussagen, darunter Alexander Kissler, der Kulturchef von Cicero.[29][30] Rüdiger Safranski unterstützte im Schweizer Literaturclub die Problematisierung der künstlichen Schwangerschaftsbefruchtung.[31]
Der Sozialethiker und -jurist Oliver Tolmein warf Lewitscharoff „eigentümlich mystisch geprägte Vorstellungen von Reinheit und Schicksal“ vor. Ihr „‚Abscheu‘ angesichts des als ‚absolut widerwärtig‘ und ‚abartig‘ empfundenen ‚Fortpflanzungsgemurkses‘ [schlage] auf die Akteure und die so gezeugten Kinder“ durch. Ihre Kritik an modernen Entwicklungen in der Medizin beruhe nicht auf Analyse, sondern auf „einer Mystifikation dessen, was sie als wünschenswerte Normalität ansieht, [nämlich] eines Zustands, der das Schicksalsgetriebene der Vormoderne verbindet mit den Bequemlichkeiten der fortgeschrittenen Zivilisation“.[32]
Im Juli 2014 erklärte Lewitscharoff beim Antritt der Poetik-Dozentur an der Universität Koblenz-Landau zur Dresdner Rede einerseits, sie „habe das mit zwei, drei sehr dummen, sehr aggressiven Sätzen selbst verbockt“, andererseits bekräftigte sie „die etwas altertümliche Position, dass das Humanum nicht angetastet werden soll“.[33] Sie legte weiterhin Wert auf ihr Verständnis des Lebens, des Glaubens und der Welt: „Die Erlösung soll nicht allzu leicht zu haben sein, Furcht und Schrecken müssten immer mitgedacht werden.“ Religiosität ohne die Idee, dass die Bösen bestraft werden – für sie sei dies eine „Horrorvorstellung“. In Interviews mit dem ZDF und dem Hörfunksender SWR2 nannte sie als Grund für die problematischen Passagen ihrer Dresdner Rede, sie sei gelegentlich ein „Provokationskäschperle“.
Prosa
Essays und Gespräche
Bühnenwerke
Hörspiele
Personendaten | |
---|---|
NAME | Lewitscharoff, Sibylle |
KURZBESCHREIBUNG | deutsche Schriftstellerin |
GEBURTSDATUM | 16. April 1954 |
GEBURTSORT | Stuttgart |
STERBEDATUM | 13. Mai 2023 |
STERBEORT | Berlin |