Klassifikation nach ICD-10 | |
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Q87.1 | Angeborene Fehlbildungssyndrome, die vorwiegend mit Kleinwuchs einhergehen - Silver-Russell-Syndrom |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Das Silver-Russell-Syndrom (SRS) ist eine Form des bereits intrauterinen Kleinwuchses. Die Krankheitshäufigkeit wird weltweit auf ungefähr 1-3 von 100.000 Geburten geschätzt und zählt damit zu den seltenen Krankheiten.[1] Intrauteriner Kleinwuchs ist die Sammelbezeichnung für solche Entwicklungsbesonderheiten, die bei Kindern bereits im Mutterleib (= intrauterin) entstehen und insbesondere durch Ernährungsmangel und Wachstumsrückstand des Kindes bei der Geburt auffallen. Die Ursachen des Silver-Russell-Syndroms sind noch nicht vollständig bekannt. Im englischsprachigen Raum wird das Silver-Russell-Syndrom (SRS) meist Russell-Silver-Syndrom (RSS) genannt.
Das Syndrom ist nicht mit dem Silver-Syndrom (Spastische Paraplegie SPG17) zu verwechseln.
Erstmals wurde das Syndrom 1953/1954 von Henry Russell (England) und Alexander Silver (USA) unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten beschrieben. Seitdem sind über 360 Fälle publiziert, von denen die meisten Fälle nach bisherigen Erkenntnissen sporadisch aufgetreten sind, wenngleich auch einige wenige familiäre Häufungen und Geschwisterfälle bekannt wurden. Aus diesem Grund wird eine genetische Ursache vermutet.
Bislang konnte bei etwa 10 von 100 der Menschen mit SRS eine maternale uniparentale Disomie 7 (UPD(7)mat) nachgewiesen werden. Das bedeutet, dass das Kind von seiner biologischen Mutter zwei Kopien des Chromosoms der Nummer 7 geerbt hat und nicht wie üblich eine Kopie von der Mutter und eine vom Vater, was für ein Imprinting spricht. Die Kopie des väterlichen Chromosoms 7 ist bei den Menschen mit SRS entweder gar nicht vorhanden oder sie ist beschädigt. Bei etwa 40 % der SRS-Patienten kann heute (2010) eine Störung der DNA-Methylierung auf Chromosom 11 nachgewiesen werden. Hierbei liegt eine Hypomethylierung des paternalen (väterlichen) Allels der H19-DMR (ICR1 – Differentiell methylierte Region o. Imprinted controle region) in 11p15 vor. H19 codiert für eine nicht translatierte RNA, also eine RNA, die nicht in ein Protein übersetzt wird.
Das H19-Gen steht unter der Kontrolle einer „imprinting control region“ oder auch DMR (differenziell methylierte Region), die beim väterlichen Chromosom methyliert und beim mütterlichen Chromosom unmethyliert vorliegt. Ist die DMR1 methyliert, wird der embryonale Wachstumsfaktor IGF2 gebildet, der zusammen mit H19 unter der Kontrolle der ICR1 steht. Das ist beim väterlichen Allel der Fall. Beim unmethylierten maternalen Allel wird statt des Wachstumsfaktors IGF2 die RNA von H19 exprimiert. Wichtig hierfür ist die Bindung des Zinkfingerproteins CTCF. Die Anlagerung von CTCF an die DNA in der ICR1 bewirkt eine „Isolation“ des IGF2-Gens vom Promotor/Enhancer-Bereich, der stromaufwärts auf der DNA liegt. Dadurch kann nur H19 exprimiert werden. Ist die ICR1 methyliert (paternales Chromosom), kann CTCF nicht binden und statt H19 wird IGF2 erzeugt.
Bei einigen Menschen mit SRS wurden andere chromosomale Strukturbesonderheiten gefunden, z. B. eine Verlängerung am kurzen Arm des Chromosoms 7 (Umbauten in 7p), Verkürzungen am langen Arm des Chromosoms 17 (Region 17q23-25) oder Brüche auf dem Chromosom X (einem der Geschlechtschromosomen). Durch moderne Karyotypisierungs-Methoden (SNP-Arrays) konnten auch Mikrodeletionen bei Silver-Russell Patienten gezeigt werden. Gegen eine einheitliche genetische Ursache spricht ein ungleichförmiges Auftreten des SRS bei eineiigen Zwillingen.
Das Silver-Russell-Syndrom ist oft schwierig von SGA (Small for Gestational Age) abzugrenzen. Für die Diagnose müssen mindestens vier von sechs klinischen Merkmalen erfüllt sein:
Bei Verdacht auf das Silver-Russell-Syndrom bei einem Kind sollte an erster Stelle eine Untersuchung des Methylierungsstatus der DMR (differenziell methylierte Region) auf dem Gen H19 erfolgen. Dies geschieht entweder durch einen Southern Blot oder aufgrund der besseren Detektionsrate durch eine MS-MLPA (methylation sensitive – multiplex ligation dependend probe amplification). Gleichzeitig erfolgt meistens eine Testung auf eine maternale UPD des Chromosoms 7 (uniparentalen Disomie 7 (UPD(7)mat) durch eine MS-PCR (methylierungssensitive PCR) an den Loci MEST und GRB10. Bleiben diese Tests ohne Ergebnis, ist es ratsam, eine molekulare Kariotypisierung über einen DNA-Array (Chip) in Erwägung zu ziehen. Manchmal ist eine eindeutige Diagnose (zunächst) nicht möglich.
Diese bekannten genetischen Veränderungen lassen sich bei einem Teil der Betroffenen nicht nachweisen – es gibt also keinen Test, der das Silver-Russell-Syndrom sicher ausschließen kann, und die Diagnose basiert somit primär auf den oben aufgeführten charakteristischen Merkmalen.[3]
Mit der Zeit sind einige Besonderheiten dokumentiert worden, die sehr häufig bei Menschen mit Silver-Russell-Syndrom festgestellt werden können. Nicht alle Merkmale kommen bei allen Menschen mit SRS vor beziehungsweise lassen sich in gleich starker Ausprägung finden. Abgesehen von genetischen Besonderheiten sind die am häufigsten vorkommenden Besonderheiten:
Als Erwachsene erreichen Frauen mit Silver-Russell-Syndrom in der Regel eine Körpergröße von 139 – 147 cm, Männer eine Größe von 151 – 154 cm. Der Grund für den Kleinwuchs ist nicht vollständig bekannt. Nur wenige Kinder mit SRS weisen einen Mangel an Wachstumshormonen auf.[6]
Da die kognitive Leistungsfähigkeit von Menschen mit Silver-Russell-Syndrom nicht bzw. nicht in besonderem Maße eingeschränkt ist, ist fast allen Kindern ein Regelkindergarten- und Regelschulbesuch möglich. Zwar schneiden Kinder mit SRS in Intelligenztests meist ein paar Prozentpunkte schlechter ab als ihre Geschwister, dies ist jedoch kein schwerwiegender Unterschied – und es ist im Übrigen nicht klar, ob es wirklich auf das SRS zurückzuführen ist.[7] Erwachsene können einen Regelberuf erlernen und ausüben. Menschen mit SRS sind in ihrer Lebensgestaltung- und führung und in ihrer Lebensqualität durch ihre Behinderung medizinisch gesehen normalerweise nicht eingeschränkt.
Die Häufigkeit des Silver-Russell-Syndroms wird auf 1:100.000 bis 1:30.000 geschätzt. Damit gehört es zu den Seltenen Erkrankungen.[3]
Bei vielen betroffenen Kindern sind Physiotherapie (bei einer motorischen Entwicklungsverzögerung) oder Ergotherapie (bei Konzentrationsproblemen) sinnvoll. Ein Teil der Kinder hat durch die engen Verhältnisse im Nasen-, Rachen- und Ohrenbereich häufige Ohrenentzündungen und Paukenergüsse, die ebenfalls therapiebedürftig sind.[7]
Aufgrund der Neigung zu Unterzuckerung ist die Überwachung des Blutzuckers und ein rechtzeitiges Gegensteuern wichtig.[8]
Nachdem in den ersten Lebensjahren häufig Ernährungsprobleme auftreten, die teils mit Magensonden oder appetitanregenden Medikamenten behandelt werden, ist eine Vermeidung von Übergewicht notwendig, um das Risiko für Stoffwechselstörungen und kardiovaskulären Erkrankungen im Erwachsenenalter zu senken – denn dieses Risiko ist bei SRS-Betroffenen erhöht.[9]
Bei betroffenen Kindern mit einem gesicherten Wachstumshormonmangel ist eine kontinuierliche Behandlung mit Wachstumshormonen angezeigt. Andere Kinder mit Silver-Russell-Syndrom, die keinen solchen Mangel aufweisen, können trotzdem von einer Behandlung mit Wachstumshormonen profitieren: Der Appetit verbessert sich meist und die Muskelkraft nimmt zu, wodurch sich die Mobilität des Kindes erhöht und das Hypoglykämie-Risiko reduziert wird. Zudem wird ein durchschnittlicher Größenzuwachs von etwa sieben bis neun Zentimetern erreicht.[10]
Als Differentialdiagnose zum SRS kommen folgende Besonderheiten in Frage: