Sinozentrismus

Als Sinozentrismus (chinesisch 中國中心主義 / 中国中心主义, Pinyin Zhōngguó Zhōngxīn Zhǔyì) bezeichnet man die ethnozentrische Ideologie, welche für Chinesen ihre Nation bzw. ihre Kultur im Vergleich mit anderen Völkern für überlegen und einzigartig erklärt. Im Bezug auf die Epoche entstand das Yugong-Diagramm.

Bis in das 19. Jahrhundert sah China sich vor dem Hintergrund der eigenen kulturellen Werte und Weltanschauung als der einzige „zivilisierte Staat“ der Welt, schätzte andere Nationen und Völker hingegen als „Barbaren“ ein. In dieser Form war der Sinozentrismus lange Zeit Grundlage der in Ostasien gültigen Ordnung der Internationalen Beziehungen. Vergleichbare Vorstellungen für Europa werden als Eurozentrismus bezeichnet. Abgelöst wurde diese Ordnung erst, als im 20. Jahrhundert völkerrechtliche Gleichberechtigung nach den Grundsätzen des Westfälischen Friedens eingeführt wurde. Seither beschränkt sich der Sinozentrismus eher darauf, China den Vorrang vor anderen Nationen zuzubilligen.[1]

Spätestens seit der Reichseinigung durch den ersten Kaiser Qin Shihuangdi im 3. Jahrhundert vor Christus hat sich China als Zentrum der Welt, als einzige Zivilisation überhaupt und den – als „Barbaren“ betrachteten – anderen Völkern überlegen gefühlt. Exemplarisch kommt dies bereits in der Selbstbezeichnung Zhōngguó (中國 / 中国) zum Ausdruck, was im Deutschen als „Reich der Mitte“ übersetzt wird. Ursprünge dieses Denkens sind konfuzianisch geprägte kosmologische Vorstellungen.

Konzentrisches Modell

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Kaiser Qianlong (1736–1796)

Hauptartikel: Tianxia

Im Zentrum des Modells steht der Kaiser (皇帝, huángdì), der seine Legitimation als Alleinherrscher der Welt (天下, tiānxià – „Unter dem Himmel“) von einem ihm übertragenen Mandat des Himmels ableitet. Die Herrscher anderer Staaten hatten sich dementsprechend mit dem Titel König (, wáng) zu begnügen.

Rund um den Kaiser verlief eine Reihe konzentrischer Ringe. Der erste davon war der Kaiserpalast, der meist seinerseits wieder in innere und periphere Zonen unterteilt war. Dann folgte die Hauptstadt – deren Sitz im Laufe der Geschichte freilich vielfach wechselte, sowie das diese umgebende Kernland, dann das han-chinesische China, schließlich die Gebiete der im Reich lebenden Minderheitsvölker.

Außerhalb der Reichsgrenzen kamen dann als Nächstes die tributpflichtigen Nachbarstaaten. Zur Zeit der Ming-Dynastie gab es sogar unter diesen wiederum eine interne Rangfolge: An der Spitze standen die „südöstlichen Barbaren“, zu denen etwa Korea, Japan, das Königreich Ryūkyū, Annam, Kambodscha, Vietnam, Siam, Champa, und Java gehörten. Die zweite Gruppe bildeten die Gebiete Sulu, Malakka und Sri Lanka. Den geringsten Rang nahmen schließlich die „nördlichen“, „nordöstlichen“ sowie „westlichen Barbaren“ ein. Verkompliziert wurde die Sache dadurch, dass manche Tributstaaten ihrerseits Tribut von anderen Staaten nahmen, so etwa Vietnam von Laos.

Als nächster konzentrischer Ring nach dem der Tributstaaten folgte der derjenigen Länder, die mit China in Handelsbeziehungen standen, zunächst also Portugal und die Niederlande, später auch England und weitere europäische Staaten. Zuletzt schließlich folgten alle anderen Staaten.

Wirtschaftliche Auswirkungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Letztlich trug das sinozentrische Tributsystem positiv zum Aufbau ökonomischer Strukturen im gesamten ostasiatischen Raum bei: Im Gefolge des Austausches der Tributgaben der Vasallenstaaten (貢物 / 贡物, gòngwù) und der Gegengaben des Kaisers (回賜 / 回赐, huícì) entwickelte sich zu Land wie zur See ein lebhafter Handel auch mit anderen Gütern auf der Basis der chinesischen Silberwährung. Umgekehrt war der Eintritt in ein tributpflichtiges Vasallenverhältnis für andere Länder unabdingbare Voraussetzung für jeglichen Handel mit China. Soweit sie dazu aufgrund eigenen Geltungsanspruchs nicht bereit waren, wie insbesondere das römische und das byzantinische Reich, blieb ihnen nur der indirekte Handel mit China über Vermittler, wie etwa persische Händler.

Kulturelle Auswirkungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der gesamte chinesische Machtbereich wurde konsequent „sinisiert“, also der eigenen Kultur angepasst. Umgekehrt gelang den Chinesen zweimal sogar die Sinisierung der Kulturen fremder Eroberervölker, nämlich der Mongolen in der Yuan- und der Mandschu in der Qing-Dynastie. Selbst soweit es ausnahmsweise einmal zum Import fremder Lehren kam, wurden diese teilweise so konsequent sinisiert, dass sie am Ende mit ihrem Vorbild wenig gemein hatten. Beispiele hierfür sind der Buddhismus sowie in neuerer Zeit die Kommunistische Partei Chinas als chinesische Form des Kommunismus.

Ende des klassischen Sinozentrismus: Der 1. Opiumkrieg (1842)

Erschüttert wurde das sinozentrische System erst, als ab Ende des 18. Jahrhunderts europäische Mächte auf gleichberechtigte Handelsbeziehungen bestanden. Nachdem die Macartney-Mission 1793 kläglich gescheitert war, war im folgenden Winter die Titsingh-Mission unter Leitung des niederländischen Geschäftsmanns Isaac Titsingh von mehr Erfolg gekennzeichnet. In den 1850er Jahren setzten die Europäer ihr Anliegen nach ihrem Sieg im Ersten Opiumkrieg auf kriegerische Weise durch und verkehrten den Sinozentrismus in sein Gegenteil. Vor allem infolge der Ungleichen Verträge sank China von der asiatischen Hegemonialmacht auf den Status eines halbkolonialen Gebietes herab. Nach dem Sieg Japans im Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg 1894 wurde der Boxeraufstand 1900 von den Vereinigten acht Staaten niedergeschlagen.

Schon die Herrscher der Qing-Dynastie betonten anstelle des früheren Konzepts der Suprematie dasjenige der Harmonie. Auch die Volksrepublik China hat stets betont, dass sie nicht nach Hegemonie strebe (永不稱霸 / 永不称霸, yǒngbú chēngbà).

Gleichwohl wird bisweilen behauptet, das sinozentrische Konzept sei keineswegs erloschen, vielmehr lauere hinter zahlreichen modern-chinesischen Geschichts- und Identitätskonzepten weiterhin eine strikt sinozentrische Weltsicht. Als Beleg hierfür wird gerne die Reannexion der ehemals zum Qing-Reich gehörenden, mittlerweile aber de facto unabhängigen Gebiete Tibet und Xinjiang durch die Volksrepublik China nach dem Zweiten Weltkrieg genannt. Aus chinesischer Sicht war dies freilich lediglich legitimer Ausdruck der eigenen Souveränität, waren doch beide Gebiete völkerrechtlich als Teil Chinas anerkannt.

Sinozentrische Elemente werden bisweilen auch in den Beziehungen zu Japan und Korea vermutet. 2004 etwa forderten chinesische Historiker, dass die Geschichte des traditionell zu Korea gerechneten alten Königreichs Goguryeo als Teil der chinesischen Geschichte behandelt werden solle, soweit das Königreich auf dem Gebiet der heutigen Volksrepublik lag. Die koreanischen Fachkollegen reagierten mit Empörung.

Auf kultureller Ebene wird seitens chinesischer Wissenschaftler gelegentlich ohne schlüssige Belege behauptet, eindeutig „westliche“ Erfindungen und Entdeckungen gingen ursprünglich auf ältere chinesische Vorbilder zurück. Beispiele hierfür sind der Seismograph, als dessen Vorbild ein han-zeitlicher Wassertrog mit mehreren Ausgießern hingestellt wird, oder auch der Seeweg rund um das Kap der Guten Hoffnung, dessen Entdeckung die Chinesen ihrem mingzeitlichen Seefahrer Zheng He zuschreiben. Als Urheber dieser Transfusionstheorie aus China gilt Joseph Needham, dessen sinozentrische Rückschlüsse aber von modernen Technikhistorikern abgelehnt werden.

Kritik am Sinozentrismus-Konzept

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kritiker dieser Theorie führen gegen den Begriff des Sinozentrismus ins Feld, er sei ausschließlich geschaffen worden, um antichinesische Stimmungen anzufachen. China sei nahezu seine ganze Geschichte hindurch ein friedliebender Staat gewesen, von dem keine Gefahr für seine Nachbarn ausgegangen sei. Die territoriale Ausdehnung des Reiches sei vorwiegend in Zeiten ausländischer Fremdherrschaft erfolgt, insbesondere also während der mongolischen Yuan- und der mandschurischen Qing-Dynastie. Auch habe China anderen Völkern seine Kultur niemals aufgedrängt, vielmehr sei sie etwa von Korea oder Japan auf freiwilliger Basis rezipiert worden. Auch habe man die Leistungen anderer Völker durchaus anerkannt. Große Ehrungen seien in Peking etwa dem koreanischen Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern zuteilgeworden. Auch Marco Polo und den ersten Jesuiten seien die Chinesen ungeachtet weltanschaulicher Differenzen mit großem Respekt ob ihrer Fähigkeiten begegnet.

Weiter wird bezweifelt, dass das Konzept des „Sinozentrismus“ als Erklärung für alle Interaktionen Chinas mit dem Rest der Welt tauge. Subjektiv geprägte Mentalitäten hätten insofern geringeren Einfluss als historische Realitäten. Was vielfach als kultureller oder moralischer Überlegenheitsanspruch aufgefasst werde, sei vielmehr der Notwendigkeit geschuldet, die eigenen Grenzen zu kontrollieren und zu verteidigen und hierzu mitunter auch den Kontakt Chinas mit Ausländern zu reglementieren. Die teilweise recht abweisende Haltung der Qing-Kaiser gegenüber den Europäern beruhe etwa auf einem tiefverwurzelten Misstrauen gegen die Loyalität des eigenen Volkes, die durch den Kontakt mit dem Westen weiter angefacht hätte werden können. So sei chinesische Außenpolitik stets im Lichte innenpolitischer Vorgaben zu sehen.

Verwandte Konzepte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anders als der sog. Han-Chauvinismus geht der Sinozentrismus keineswegs auf ethnische oder gar rassistische Wurzeln zurück; vielmehr wurde er im Laufe der Geschichte von einer Vielzahl unterschiedlichster Völker wie den Xianbei, den Jurchen oder den Mandschu mitgetragen.

Zu unterscheiden ist der Sinozentrismus auch vom chinesischen Nationalismus: Während dieser als die modernere Konzeption lediglich auf ein geeintes, solidarisches und mächtiges China als eine Nation unter anderen abzielt, betont der Sinozentrismus vielmehr den universellen Absolutheitsanspruch Chinas.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Vgl. Matthias Messmer, Hsin-Mei Chuang: China an seinen Grenzen: Erkundungen am Rand eines Weltreichs. Stuttgart 2019, Sinozentrismus o. S. [1]