Die slowinzische Sprache (slowinzisch slovjĩnsħï ją̃zĕk, slovjĩnsħė gådą̃ńė)[1] ist eine im 20. Jahrhundert ausgestorbene westslawische Sprache. Zusammen mit den ebenfalls ausgestorbenen polabischen Sprachen und dem noch gesprochenen Kaschubischen bildete sie einen Überrest der slawischen Sprachen, welche ursprünglich entlang der Ostseeküste in Pommern und nordöstlich der Elbe gesprochen wurden. Ob das Slowinzische eine eigene Sprache war oder als Dialekt des Kaschubischen angesehen werden kann, ist strittig. Nicht wenige Menschen in bzw. aus dem nordöstlichen Hinterpommern definierten sich als Slowinzen (auch Lebakaschuben), obwohl sie die Sprache nicht mehr sprechen konnten.
Die Forschung wurde erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf diese kleine Sprachgemeinschaft aufmerksam, die im Nordosten Pommerns, vor allem in den KirchspielenGroß Garde und Schmolsin im Landkreis Stolp, lebte. Als erster berichtete über sie der russische Slawist Alexander Hilferding, nach ihm besuchten weitere russische, deutsche und polnische Sprachforscher die Gegend. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Sprache von dem Slawisten Friedrich Lorentz aufgezeichnet.
Wann die letzten Sprecher verstorben sind, ist unklar. Das letzte Rückzugsgebiet war offenbar das Dorf Klucken am Lebasee. Abgesehen von wenigen Begriffen, die in das regionale Ostniederdeutsch eingeflossen waren, sprachen 1945 nur noch wenige alte Leute die slowinzische Sprache.
Das Slowinzische war eine besonders archaische Sprache, in der sich einige Besonderheiten erhalten hatten, die in den meisten (west)slawischen Sprachen nicht mehr vorkamen (z. B. hatte es einen freien Akzent). Daneben stand es aber auch unter starkem Einfluss des Ostniederdeutschen und Hochdeutschen, vor allem im Wortschatz, aber auch in der Syntax.
Das Slowinzische hat nie eine eigene Schriftsprache entwickelt. Erst kurz vor dem Aussterben, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde die Sprache von dem Slawisten Friedrich Lorentz in lautschriftlich-kodifizierter Form aufgezeichnet.[2]
Die Hauptunterschiede zwischen Ost- und Westslowinzisch lassen sich folgendermaßen beschreiben.
1. Die urslawischenVokale i, y, u und z. T. ę sind in der betonten Silbe nach harten Konsonanten im Ostslowinzischen durch ȧ, im Westslowinzischen durch ä (nur nach c ʒ durch ȧ) vertreten:[4]
urslaw. *glina → oslz. glȧ̃nă und wslz. glä̀·nă[4]
urslaw. *struga → oslz. strȧ̃gă und wslz. strä̀·gă[4]
urslaw. *ręditь → oslz. řȧ̃ʒĕc und wslz. řä̀·ʒĕc[4]
2. Die ursprünglich kurzen slowinzischen Vokale i, ʉ und ȧ bzw. ä sind in betonten Binnensilben im Ostslowinzischen lang, im Westslowinzischen kurz, wobei hier der folgende Konsonant gedehnt wird:[4]
3. Die slowinzischen Diphthonge ie̯ und ʉѳ̯ sind im Westslowinzischen vor Nasalen in betonten Silben monophthongisiert, im Ostslowinzischen sind sie als Diphthonge erhalten:[4]
Alexander Hilferding: Die Ueberreste der Slaven auf der Südseite des baltischen Meeres. In: Zeitschrift für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft. 1. Band, 1. Heft. Verlag von J. E. Schmaler, Bautzen 1862, S.81–97 (Volltext).
Alexander Hilferding: Die Ueberreste der Slaven auf der Südseite des baltischen Meeres. In: Zeitschrift für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft. 1. Band, 4. Heft. Verlag von J. E. Schmaler, Bautzen 1864, S.230–239 (Volltext).
Alexander Hilferding: Die Ueberreste der Slaven auf der Südseite des baltischen Meeres. In: Zeitschrift für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft. 2. Band, 2. Heft. Verlag von J. E. Schmaler, Bautzen 1864, S.81–111 (Volltext).
F. Tetzner: Die Slowinzen und Lebakaschuben. Land und Leute, Haus und Hof, Sitten und Gebräuche, Sprache und Literatur im östlichen Hinterpommern. Mit einer Sprachkarte und 3 Tafeln Abbildungen (= Beiträge zur Volks- und Völkerkunde. Band8). Verlag von Emil Felber, Berlin 1899 (archive.org).
Friedrich Lorentz: Slovinzische Grammatik. Изданіе Второго Отдѣленія Императогской Академіи Наукъ, St. Petersburg 1903 (Digitalisat).
Friedrich Lorentz: Slovinzische Texte. Изданіе Второго Отдѣленія Императогской Академіи Наукъ, St. Petersburg 1903 (Digitalisat).
Friedrich Lorentz: Slovinzisches Wörterbuch. Erster Teil. A–Ѳ. Изданіе Отдѣленія Русскаго Языка и Словесности Императорской Академія Наукъ/Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg 1908 (Digitalisat München, Słupsk).
Friedrich Lorentz: Slovinzisches Wörterbuch. Zweiter Teil. P–Z. Orts- und Personennamen. Nachträge. Unsichere Wörter. Изданіе Отдѣленія Русскаго Языка и Словесности Императорской Академія Наукъ/Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg 1912 (Digitalisat München, Słupsk).
Hans F. Rosenfeld (Hrsg.): Hinterpommersches Wörterbuch. Die Mundart von Gross Garde (Kreis Stolp) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe IV: Quellen zur pommerschen Geschichte. Band11). Böhlau, Köln / Weimar / Wien 1994, ISBN 978-3-412-05993-4.
Ewa Rzetelska-Feleszko: Das Elb- und Ostseeslavische. In: Peter Rehder (Hrsg.): Einführung in die slavischen Sprachen. 3., verbesserte und erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998, ISBN 3-534-13647-0, S.165–170.
Ewa Rzetelska-Feleszko: Slowinzisch. In: Miloš Okuka (Hrsg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens (= Wieser Enzyklopädie des europäischen Osten). Band10. Wieser, Klagenfurt 2002, ISBN 3-85129-510-2, S.509–512 ([1] [PDF]).
↑Friedrich Lorentz: Slovinzische Grammatik. Изданіе Второго Отдѣленія Императогской Академіи Наукъ, St. Petersburg 1903, S.1 (Digitalisat).
↑Diese Lautschrift, die vor allem die kurze/sehr kurze/lange oder überlange und die offene/geschlossene Aussprache von Vokalen und von Diphthongen mit ihren Teilen genau wiedergeben und erhalten soll und die daneben einige Lautsymbole verwendet, die auch das heutige IPA kennt, erklärt Lorentz in: „Slowinzische Grammatik“, S. 13–16 (scan 40–43). Auf den folgenden Seiten wird die Lautlehre des Slowinzischen mit Schreibung vorgestellt.
↑Karte entworfen nach: F. Lorentz: Gramatyka Pomorska. Poznań 1927, Faltkarte in der hinteren Umschlagseite (digitalisiertes Bild 78). Braun sind dort die slowinzischen, rot die niederkaschubischen, grün die mittelkaschubischen, violett die oberkaschubischen Varietäten. Die Karte zeigt nicht die Verbreitung im Erscheinungsjahr, wie die russische Karte meint, sondern alle erforschten Varietäten seit Mitte 19. Jh.
↑ abcdefghijklmFriedrich Lorentz: Slovinzische Grammatik. Изданіе Второго Отдѣленія Императогской Академіи Наукъ, St. Petersburg 1903, S.3 (Digitalisat).
↑ abcdefghijkFriedrich Lorentz: Slovinzische Grammatik. Изданіе Второго Отдѣленія Императогской Академіи Наукъ, St. Petersburg 1903, S.4 (Digitalisat).
↑Friedrich Lorentz: Slovinzische Texte. Изданіе Второго Отдѣленія Императогской Академіи Наукъ, St. Petersburg 1903, S.47, Nummer 54 (Digitalisat).
↑Friedrich Lorentz: Slovinzische Texte. Изданіе Второго Отдѣленія Императогской Академіи Наукъ, St. Petersburg 1903, S.134, Nummer 115 (Digitalisat).