Mivarts Bemühungen, die katholische Lehre mit den Naturwissenschaften auszusöhnen, fanden bei der römisch-katholischen Kirche zunächst hohe Anerkennung. Später geriet er mit seinen naturphilosophischen Ansichten immer mehr in Widerspruch zu den Dogmen der Kirche. Drei seiner Schriften wurden auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Mivart selbst wurde kurz vor seinem Tod exkommuniziert.
George Mivart war der dritte Sohn von James Edward Mivart (1781–1856), der seit 1812 Inhaber des Hotel Mivart’s am Grosvenor Square in London war.[1] Er begann seine Ausbildung an der Clapham Grammar School und setzte sie an der Harrow School und dem King’s College London fort. Mivart interessierte sich für Architektur und besuchte mit 16 Jahren verschiedene von Augustus Welby Northmore Pugin entworfene Kirchen. In Birmingham traf er in der St. Chad’s Cathedral den späteren Präsidenten des Oscott College, John Moore (1807–1856), unter dessen Einfluss Mivart 1844 zum Glauben der römisch-katholischen Kirche konvertierte. Vom 21. Oktober 1844 bis 1846 setzte er seine Ausbildung am Oscott College fort. Dort wurde er am 11. Mai 1845 von Bischof Nicholas Wisemangefirmt.
Nach der Veröffentlichung von Huxleys Evidence as to Man's Place in Nature (1863) begann Mivart, Affen und Lemuren zu untersuchen. Seine erste zoologische Veröffentlichung stammt von 1864 und beschäftigt sich mit dem Schädel und dem Gebiss der Gewöhnlichen Makis. Die Feuchtnasenaffen bildeten bis 1869 den Schwerpunkt seiner anatomischen Untersuchungen.
Mit Huxleys Unterstützung wurde Mivart am 3. Juni 1867 in die Royal Society aufgenommen. 1869 trat er der Zoological Society of London bei, für die er von 1869 bis 1882 als Vizepräsident wirkte. 1868 regte er eine populäre biologische Artikelserie an, die in der Popular Science Review erschien und für die er selbst Beiträge (beispielsweise über Hummer, Sepien und Seeigel) verfasste. Unter dem Einfluss von Huxleys Vorlesungen entwickelte sich Mivart zu einem Anhänger des Evolutionsgedankens. In seinem ersten, 1871 erschienenen Buch On the Genesis of Species bestritt er jedoch mit zahlreichen Einwänden die Wirksamkeit des von Charles Darwin in On the Origin of Species beschriebenen Mechanismus der natürlichen Selektion. Im zwei Jahre später veröffentlichten Buch Man and Apes bestand er auf einer kreationistischen Ausnahmestellung des Menschen.
Mivart, der weiterhin zoologische Werke über katzenartige und bärenartige (Arctoidea) Raubtiere, Hunde und Lories veröffentlichte, wandte sich mehr und mehr naturphilosophischen Fragestellungen zu. Dabei versuchte er, seine Evolutionstheorie mit seinem katholischen Glauben in Einklang zu bringen, und kämpfte gleichzeitig gegen den weit verbreiteten Agnostizismus an. 1874 wurde Mivart Mitglied der Metaphysical Society und im selben Jahr auch Professor für Biologie am Catholic University College Kensington, an dem er bis 1877 lehrte. Für seine Bemühungen, die katholische Lehre mit den Naturwissenschaften auszusöhnen, verlieh ihm Papst Pius IX. 1876 den Doktortitel für Philosophie. 1884 folgte ein Doktorat für Medizin der katholischen Universität Löwen, an der er später – von 1890 bis 1893 – als Professor für Philosophie der Naturgeschichte unterrichtete.
Eine Folge von drei Artikeln mit dem Titel The Happiness in Hell, die er Ende 1892 und Anfang 1893 in The Nineteenth Century Magazine veröffentlichte, wurde am 19. Juli 1893 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt.[3][4] Darin vertrat er die Ansicht, dass die Hölle kein Ort der Pein sei, sondern ein Platz zur Erlangung der natürlichen Glückseligkeit, und dass diese Auffassung kein Widerspruch zum katholischen Glauben sei. Als er Anfang Januar 1900 in zwei Artikeln seine Ansichten über die Hölle erneut äußerte und einen Gott, der einen solchen Ort der Qualen erschaffen hätte, als einen schlechten Gott bezeichnete, wurde er, während der Amtszeit von Papst Leo XIII., nach einer kurzen Kontroverse mit Kardinal Herbert Vaughan am 18. Januar 1900 exkommuniziert.[5]
Bereits wenige Wochen später starb Mivart. Ein kirchliches Begräbnis wurde ihm zunächst verwehrt. Erst am 18. Januar 1904 wurde er auf dem katholischen Friedhof von Kensal Green bestattet.
Der Arzt Frederick St. George Mivart (1855–1925) war sein Sohn.
Mivart lernte Charles Darwin durch Thomas Henry Huxley kennen. Im Juni 1867, kurz nach seiner Aufnahme in die Royal Society, kündigte Mivart Huxley an, dass er seine Einwände gegen Darwins Auffassungen veröffentlichen wolle.[6] Unter dem Titel Difficulties of the Theory of Natural Selection erschien in der von den Jesuiten herausgegebenen Zeitschrift The Month eine anonym veröffentlichte Folge von Artikeln, die von Mivart stammten und die Grundlage für sein Werk On the Genesis of Species bildeten. Mivart hatte den Titel mit Bedacht in Anlehnung an Darwins On the Origin of Species gewählt.[7] Im Januar 1871 erhielt Darwin ein Exemplar von On the Genesis of Species von Mivart,[8] kurz nachdem er die letzten Korrekturen an Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl erledigt hatte.
Mivart fasste seine Einwände in On the Genesis of Species[9] gegen Darwins Theorie folgendermaßen zusammen:
Dass “Natürliche Selektion” unfähig ist, beginnende Stufen nützlicher Strukturen zu erklären.
Dass sie nicht mit der Koexistenz von gleichartigen Strukturen unterschiedlichen Ursprungs harmoniert.
Dass es Gründe für die Annahme gibt, dass sich Artunterschiede plötzlich anstatt graduell entwickelt haben.
Dass die Ansicht, dass Arten feste, obgleich sehr unterschiedliche Grenzen ihrer Variabilität haben, haltbar ist.
Dass bestimmte fossile Übergangsformen fehlen, von denen man erwarten würde, dass sie vorhanden sind.
Dass einige Fakten der geographischen Verteilung zu anderen Schwierigkeiten beitragen.
Dass der vom physiologischen Unterschied zwischen “Art” und “Rasse” abgeleitete Einwand noch unwiderlegt ist.
Dass es viele bemerkenswerte Phänomene bei den organischen Formen gibt, die die “Natürliche Selektion” nicht erhellt.
Sein Hauptaugenmerk richtete Mivart dabei auf konvergente Entwicklungen und auf die nicht vorhandenen Zwischenstufen im Ablauf der Evolution. Seiner Meinung nach konnte die Selektion weder die Konvergenz zwischen dem Hund und dem australischen Beutelwolf noch einen „beginnenden Flügel“ erklären. Er untermauerte seine Behauptungen mit zahlreichen anatomischen Beispielen. Gleichzeitig vertrat er die Auffassung, dass die Evolution auf ein Ziel gerichtet sei und den Menschen nicht einschlösse.
Darwin nahm Mivarts Einwände sehr ernst. Er unterbrach seine Arbeit am fast fertigen Werk Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren und wandte sich einer weiteren Auflage von On the Origin of Species (6. Auflage, 1872) zu. Unter dem Titel Miscellaneous Objections to the Theory of Natural Selection (Kapitel 7: Verschiedene Einwände gegen die Theorie der Natürlichen Selektion) fügte er seinem Werk ein umfangreiches Kapitel hinzu, in dem er sich mit Mivarts Argumenten auseinandersetzte und diese widerlegte.
In seinen Briefen versuchte Mivart, Darwin zu beschwichtigen:
„Das Bekenntnis zu Ihren Auffassungen bedeutet für viele die Aufgabe des Glaubens an Gott und an die Unsterblichkeit der Seele sowie an zukünftige Belohnungen und Strafen […] Ich meine, daß die Zerstörung dieser Glaubensüberzeugungen äußerst gravierend für das irdische Glück der Menschheit ist […]“
– Briefe von Mivart an Darwin vom 22. und 24. Januar 1871[10]
„Während ich (wie mich die Pflicht zu tun zwingt) Standpunkte angreife, die Sie einnehmen, greife ich weniger Sie an als andere, deren Auffassungen sich auf Ihre Forschungsarbeit stützen“
– Brief von Mivart an Darwin vom 23. April 1871[11]
Unerwartete Unterstützung bekam Darwin vom US-Amerikaner Chauncey Wright, einem Studenten Asa Grays, der ihm seine Analyse von Mivarts „Genesis“ zuschickte, die im Juli 1871 in der Zeitschrift North American Review erscheinen sollte.[12] Darwin war von diesem Beitrag so angetan, dass er Wrights Artikel im September auf eigene Kosten bei John Murray nachdrucken ließ und sogar den von Wright vorgeschlagenen geänderten Titel Darwinism: An Examination of Mr. St. George Mivart’s ‚Genesis of species‘ übernahm.[13]
Im Juli 1871 erschien in der Quarterly Review Mivarts Besprechung von The Descent of Man[14], von dem Mivart Anfang 1871 ein Vorausexemplar erhalten hatte[15], die Darwins Beziehung zu Mivart zusätzlich verschärfte. Huxley schrieb eine Erwiderung auf Mivarts Besprechung[16] und griff den sich zur Evolution bekennenden Katholiken heftig an: „Wenn Suárez die katholische Lehre richtig wiedergegeben hat, dann ist Evolution die schlimmste Ketzerei.“[17] und warf ihm vor, er könne nicht „gleichzeitig ein treuer Sohn der Kirche und ein loyaler Soldat der Wissenschaft“[18] sein. Im Januar 1872 beendeten Darwin und Mivart im gegenseitigen Einvernehmen ihre wissenschaftliche Korrespondenz.
Als Darwins Sohn George 1873 den Aufsatz „Wünschenswerte Einschränkungen der Eheschließung“[19] veröffentlichte, brach der Konflikt mit Mivart erneut aus. In Primitive Man griff Mivart George Darwin an und unterstellte ihm, „um einer Verbesserung der Rasse willen die Bande der Ehe“[20] lockern zu wollen; dabei hatte George Darwin lediglich vorgeschlagen, in Fällen von „Kriminalität oder Lasterhaftigkeit“ eine Scheidung zu ermöglichen. Der empörte Darwin setzte seinen Verleger John Murray, der gleichzeitig Herausgeber der Zeitschrift Contemporary Review war, unter Druck, damit in der nächsten Ausgabe eine Erwiderung seines Sohnes erscheinen konnte.[21] Die gleichzeitig abgedruckte Entschuldigung Mivarts reichte Huxley und anderen Mitgliedern des X-Clubs nicht und kränkte Darwin nur noch mehr. Am 12. Januar 1875 verfasste Darwin einen letzten Brief an Mivart und teilte ihm mit, dass er nie mehr ein Wort mit ihm wechseln werde.[22]
On the Genesis of Species. London 1871; online (1. Auflage)
Lessons in Elementary Anatomy. London 1873; online (Auflage von 1889)
Man and Apes: an Exposition of Structural Resemblances and Differences Bearing upon Questions of Affinity and Origin. Robert Hardwicke, London 1873 – mit 41 Tafeln; online
Introduction to the Elements of Science. London 1894
Henry Standon, Or Love's Debt to Duty. London 1894, 3 Bände – unter dem Pseudonym D’Arcy Drew; 1900 in London als Castle and Manor: A Tale of Our Time erschienen
The Helpful Science. London, New York 1895; online
The Groundwork of Science: A Study of Epistemology. London 1898; online
Notes on the Crania and Dentition of the Lemuridae. In: Proceedings of the Zoological Society of London. London 1864, S. 611–648
Contribution toward a More Complete Knowledge of the Axial Skeleton in the Primates. In: Proceedings of the Zoological Society of London. London 1865, 545–592
Observations on the Anatomy of Nycticebus tardigradus. In: Proceedings of the Zoological Society of London. London 1865, 240–256 – mit James Murie
On some Points in the Anatomy of Echidna hystrix. In: Transactions of the Linnean Society of London. Band 25, S. 379–403
On the Appendicular Skeleton of the Primates. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Band 157, 1867, S. 299–429; online
Herbert Spencer. In: Quarterly Review. Band 135, 1873, S. 509–539
Examination of Mr. Spencer's Psychology. In: Dublin Review. Band 23–32, 1874–1879
Herbert Spencer's System of Philosophy. In: Dublin Review. Band 34, 1880, S. 26–73
Modern Catholics and Scientific Freedom. In: The Nineteenth Century Magazine. Juli 1885; online
Bishop Temple's Lectures on Religion and Science. In: Edinburgh Review. Band 162, 1885, S. 204–233
The Catholic Church and Biblical Criticism. In: The Nineteenth Century Magazine. Juli 1887
Catholicity and Reason. In: The Nineteenth Century Magazine. December 1887
The Life and Letters of Charles Darwin. In: Edinburgh Review. Band 167, 1888, 407–447
Happiness in Hell. In: The Nineteenth Century Magazine. Band 32, S. 899–919, Dezember 1892
The Happiness in Hell: a Rejoinder. In: The Nineteenth Century Magazine. Band 33, S. 320–338, Februar 1893
Last words on the Happiness in Hell. A Rejoinder. In: The Nineteenth Century Magazine. Band 33, S. 637–651, April 1893
The Continuity of Catholicism. In: The Nineteenth Century Magazine. Band 47, S. 51–72, Januar 1900
Some Recent Apologists. In: Fortnightly Review. Band 67, S. 24–72, Januar 1900
Under the Ban: A Correspondence between Dr. St. George Mivart and Herbert Cardinal Vaughan, Archbishop of Westminster; Accompanied by Two Articles by Dr. Mivart on "Some recent Catholic apologists" and "The continuity of Catholicism". London 1900, online
Frederic Boase: Modern English Biography: Containing Many Thousand Concise Memoirs of Persons who Have Died Since the Year 1850, with an Index of the most Interesting Matter. Netherton & Worth, Truro 1892–1921 – 6 Bände
Adrian Desmond, James Moore: Darwin. List Verlag, München Leipzig 1991, ISBN 3-471-77338-X
David G. Schultenover: A View from Rome: On the Eve of the Modernist Crisis. Fordham Univ. Press, 1993, ISBN 0-8232-1359-5, S. 131–138
John M. Lynch: Mivart, St. George Jackson. In: B. Lightman (Hrsg.): The Dictionary of Nineteenth Century British Scientists. Thoemmes Press, Bristol 2004, S. 1411–1415; online
Bertram Coghill Alan Windle: Who's Who of the Oxford Movement. Century, New York 1926
Proceedings of the Royal Society of London: Containing Obituaries of Deceased Fellows, Chiefly for the Period 1898–1904. With a General Index to Previous Obituary Notices. Band 75, Harrison, London, 1905
↑On the Genesis of Species. 1. Auflage, London 1871, S. 24 f.: “That “Natural Selection” is incompetent to account for the incipient stages of useful structures. That it does not harmonize with the co-existence of closely similar structures of diverse origin. That there are grounds for thinking that specific differences may be developed suddenly instead of gradually. That the opinion that species have definite though very different limits to their variability is still tenable. That certain fossil transitional forms are absent, which might have been expected to be present. That some facts of geographical distribution supplement other difficulties. That the objection drawn from the physiological difference between “species” and “races” still exists unrefuted. That there are many remarkable phenomena in organic forms upon which "Natural Selection" throws no light whatever, but the explanations of which, if they could be attained, might throw light upon specific origination.”