Die mathematische Stabilitätstheorie beschäftigt sich mit der Entwicklung von Störungen, die als Abweichung von bestimmten Zuständen dynamischer Systeme auftreten. Ein solcher Zustand kann etwa eine Ruhelage oder ein bestimmter Orbit sein, z. B. ein periodischer Orbit. Ein System ist instabil, wenn eine kleine Störung zu großen und aufklingenden Abweichungen führt.
Für die Charakterisierung der Stabilität der Ruhelage eines dynamischen Systems existieren mehrere Stabilitätsbegriffe mit jeweils etwas unterschiedlicher Aussage:
Eine Ruhelage heißt Ljapunow-stabil, wenn eine hinreichend kleine Störung auch stets klein bleibt. Präziser formuliert: Für jedes existiert ein derart, dass für alle Zeiten und alle Trajektorien mit gilt: .
Eine Ruhelage heißt attraktiv, wenn es ein derart gibt, dass jede Trajektorie mit für alle existiert und die folgende Grenzwertbedingung erfüllt:
Eine Ruhelage heißt asymptotisch stabil, wenn sie Ljapunow-stabil und attraktiv ist.
Eine Ruhelage heißt neutral stabil oder marginal stabil, wenn sie stabil, aber nicht asymptotisch stabil ist.
Für den Fall diskreter Systeme, die durch Differenzengleichungen beschrieben werden, ist die Ruhelage gleichzeitig Fixpunkt der Rekursionsgleichung und es sind ähnliche Stabilitätsdefinitionen üblich.
Bei zeitkontinuierlichen linearen zeitinvarianten Systemen kann die Stabilität an der Übertragungsfunktion durch die Lage der Pole in der s-Ebene (Nennerpolynom der Laplace Übertragungsfunktion) abgelesen werden:
Asymptotische Stabilität: wenn sämtliche Pole in der linken s-Halbebene liegen,
Grenzstabilität: wenn kein Pol in der rechten s-Halbebene liegt und mindestens ein einfacher Pol, aber kein mehrfacher Pol, auf der imaginären Achse der s-Halbebene liegt,
Instabilität: sonst (wenn mindestens ein Pol in der rechten s-Halbebene liegt oder wenn mindestens ein mehrfacher Pol auf der imaginären Achse der s-Ebene liegt).
Asymptotische Stabilität: wenn sämtliche Pole im Einheitskreis liegen,
Grenzstabilität: wenn mindestens ein Pol auf dem Einheitskreis liegt und alle anderen innerhalb,
Instabilität: sonst (wenn mindestens ein Pol außerhalb des Einheitskreises in der z-Ebene liegt).
Achtung: der Begriff grenzstabil führt leicht zu Missverständnissen, da die Polstellenlage tatsächlich nach den meisten Stabilitätsdefinitionen instabile Systeme kennzeichnet.
Direkte Methode von Ljapunow und Ljapunow-Funktion
Ljapunow entwickelte 1883
die sogenannte Direkte oder Zweite Methode (die Erste Methode war die Linearisierung, siehe unten), um die oben genannten Stabilitätseigenschaften an konkreten Systemen zu überprüfen. Hierzu definiert man zunächst zu einem dynamischen System der Form und einer reellwertigen differenzierbaren Funktion die orbitale Ableitung durch das Skalarprodukt
.
Eine reellwertige differenzierbare Funktion heißt Ljapunow-Funktion (für das Vektorfeld ), wenn für alle Punkte aus dem Phasenraum gilt. Eine Ljapunow-Funktion ist ein ziemlich starkes Hilfsmittel für einen Stabilitätsbeweis, wie die folgenden beiden Kriterien zeigen:
Erstes Kriterium von Ljapunow: Gegeben sei ein dynamisches System . Gelten die Bedingungen
ist eine Ruhelage des Systems,
ist eine Ljapunow-Funktion für ,
besitzt an der Stelle ein striktes lokales Minimum,
dann ist die Ruhelage stabil.
Zweites Kriterium von Ljapunow: Gilt zusätzlich zu den Voraussetzungen des ersten Kriteriums noch
4. für in einer Umgebung der Ruhelage gilt ,
dann ist die Ruhelage asymptotisch stabil.
Die Verwendung einer Ljapunow-Funktion nennt man Direkte Methode, weil sich damit direkt aus dem Vektorfeld ohne Kenntnis der Trajektorien (also ohne, dass man die Differentialgleichung lösen müsste) Aussagen über die Stabilität einer Ruhelage gewinnen lassen.
Für den Fall linearer Systeme kann zum Beispiel immer eine positiv definite quadratische Form als Ljapunow-Funktion Verwendung finden. Sie erfüllt offensichtlich die obigen Bedingungen (1) und (2). Bedingung (3) führt auf die Ljapunow-Gleichung
,
welche eine spezielle Form der Sylvester-Gleichung ist.
Falls positiv definit ist, so ist eine Ljapunow-Funktion. Für stabile lineare Systeme lässt sich eine solche Funktion immer finden.
Stabilitätsanalyse linearer und nichtlinearer Systeme
sonst, d. h. falls nicht für alle Eigenwerte mit verschwindendem Realteil die algebraische Vielfachheit gleich der geometrischen Vielfachheit ist: Instabilität der Ruhelage.
Bei nichtlinearen Systemen, die nur um die Ruhelage linearisiert wurden, kann die Stabilität in diesem dritten Fall auch noch von Termen höherer Ordnung in der Taylorentwicklung bestimmt werden. In diesem Fall vermag die lineare Stabilitätstheorie keine Aussage zu machen.
Im Bauwesen müssen druckbeanspruchte Stäbe auf Stabilitätsgefährdung (i. d. R. Knicken) geprüft werden und gegebenenfalls nach Theorie II. Ordnung nachgewiesen werden. Man braucht die Theorie II. Ordnung um Stabilitätsgefährdung beschreiben zu können. Im Stahlbau, im (Stahl-)Betonbau als auch im Holzbau sind laut aktueller Normung stabilitätsgefährdete Stäbe auf Knicken nachzuweisen.
Ein untersuchter Verformungszustand der Festigkeitslehre oder ein Bewegungszustand der Dynamik können ab einer zu bestimmenden Stabilitätsgrenze in einen anderen Zustand wechseln. Damit verbunden sind in der Regel nichtlinear ansteigende Verformungen oder Bewegungen, die zur Zerstörung von Tragwerken führen können. Um diese zu vermeiden, ist die Kenntnis der Stabilitätsgrenze ein wichtiges Kriterium zur Bemessung von Bauteilen.