Die Tschastuschka[1] (russisch Частушка, wiss. Transliteration Častuška, auch Chastushka; Pl. Tschastuschki / частушки / wiss. Transliteration Častuški / Chastushki) ist ein kurzes russisches Volksgedicht oder -lied in einer traditionell russischen poetischen Form, häufig ein augenzwinkernder Stegreifvierzeiler als Spott- oder Scherzlied (bzw. -gedicht). Als ihr Hauptzweck wurde die „Verbalisierung einer ausdrucksstarken Reaktion auf eine reale Alltagssituation“ bezeichnet.[2]
Die meist humorvollen, ironischen oder satirischen Tschastuschki wurden vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär und fanden eine große Verbreitung. Ursprünglich hatten sie hauptsächlich amourösen Inhalt, später waren sie oft humorvoll und satirisch, in der Sowjetzeit oft propagandistisch. Das Genre ist bis heute in verschiedenen Variationen beliebt. Die Tschastuschki zeichnen sich durch ein reiches Vokabular und große Ausdruckskraft aus, bisweilen mit einem saftigen und deftigen Vokabular, das oft von den Vorgaben der Literatursprache abweicht.[3]
Eine Tschastuschka besteht normalerweise aus vier Zeilen. Metrisch handelt es sich um einen einzelne Vierzeiler im trochaischen Tetrameter. Es hat in der Regel eine Reimstruktur ABAB, ABCB seltener AABB, womit es dem Limerick, einer vor allem in England beliebten poetischen Form, sehr nahe kommt (letzterer hat eine Reimstruktur von AABBA). Das Wort Tschastuschka leitet sich vom russischen Wort tschasty (russisch частый, wiss. Transliteration častyj) ab, was „häufig“ bedeutet, was wahrscheinlich darauf aufmerksam macht, dass sie oft gesungen wurde. Es ist aber auch möglich, dass es mit der zweiten Bedeutung des Wortes zusammenhängt, nämlich „schnell“ (частить), was sich auf den schnellen Gesang der Tschastuschka beziehen würde. In Liedform wird die Tschastuschka meist von einem Garmon (einem traditionellen russische Knopfakkordeon) oder einer Balalaika (einer russischen dreisaitigen Langhalslaute) begleitet, auf dem Land gelegentlich auch von einem Schlagbalken baraban.
Viele Tschastuschki dienten Komponisten als Vorlage für Vertonungen oder als Überschriften für (klassische) Kompositionen und Lieder.[4]
Dem Artikel von С. G. Lasutin[5] (1919–1993) in der Kurzen literarischen Enzyklopädie (KLE) – einem der besten Nachschlagewerke zur russischen Literatur aus der Spätzeit der Sowjetunion – zufolge erweckten die Tschastuschki gleich nach ihrem Erschienen das rege Interesse der literarischen Öffentlichkeit. Die demokratischen Schriftsteller der 1860er–1870er Jahre (N. W. Uspenski, A. I. Lewitow[6], F. M. Reschetnikow[7]) waren die ersten, die die Tschastuschki in ihren Werken wiedergaben und darin einen leuchtenden Ausdruck der nationalen Gefühle fanden. G. I. Uspenski widmete diesem Genre einen speziellen Artikel und führte den Begriff Tschastuschka in die Literatur ein. Meisterhaft verwendet wurden Tschastuschki in den Arbeiten von Alexander Blok und Sergei Jessenin. Bemerkenswerte Beispiele für die literarische Verarbeitung dieser Folkloregattung lieferten Demjan Bedny, Wladimir Majakowski, Alexander Twardowski, A. A. Prokofjew[8] und andere sowjetische Dichter.[9]
Die Autorin Tamara Ivanova hält fest:
„Ihren dörflichen Charakter, die Behandlung von Alltagsthemen bis hin zum Kritischen, ihr politisch-subversives Potential haben die Tschastuschki seitdem [d.h. seit Ende des 19. Jahrhunderts] beibehalten und [wurden] zu Zeiten der Sowjetdiktatur nicht selten auch in Richtung des Dissidenten, von der herrschenden Kultur Verfemten hin ausgebaut.[10]“
Es wurde bereits angemerkt, dass die „meist von ungezogenen russischen Jugendlichen“ aufgeführten Tschastuschki zu übersetzen ein schwieriger Balanceakt sei.[11]
In der Zeit der Samisdat-Literatur während des Zerfalls der Sowjetunion setzte man sich in der Form von Tschastuschki oft auf ätzende Weise mit den herrschenden Zuständen auseinander (weshalb einige markige Sammlungen bevorzugt im Ausland erschienen):
Der sowjetisch-israelische Autor Julius Telessin stellt vielen Abschnitten seiner berühmten politischen Witzesammlung 1001 anekdot[12] Tschastuschki voran.
Aus dem von W. Kabronskij erstellten Tschastuschki-Sammelband Nepodzensurnaja russkaja tschastuschka (Неподцензурная русская частушка)[13] stammt das von dem Literaturwissenschaftler Juri Malzew[14] in seiner Literaturgeschichte des Samisdats in der Sowjetunion angeführte Beispiel:
Rundum schön ist unser Banner:
Links die Sichel, rechts der Hammer.
Ob du erntest oder haust,
Es kommt eh bloß Scheißdreck raus.[15]
Igor Guberman liefert in einigen seiner an Tschastuschki angelehnten Dichtungen eine ungeschminkte Darstellung des sowjetischen Alltags.
Die Tschastuschka sind in Form und Inhalt den bayerisch-österreichischen Gstanzl ähnlich.
Es existiert eine nur schwer überschaubare große Anzahl von Tschastuschki-Sammlungen, wovon im Folgenden nur einige willkürlich herausgegriffene Beispiele genannt werden (zu den älteren, vgl. den Artikel Tschastuschka in der KLE).