Childe wurde am 14. April 1892 im Pfarrhaus der St.-Thomas-Kirche in Sydney, New South Wales, geboren. Seine Eltern waren der Pfarrer Stephen Henry Childe (1844–1928) und dessen zweite Frau, Harriet Eliza (1853–1910), die Tochter des Notars Alexander Gordon. Childe besuchte das anglikanische Gymnasium in Sydney, wo er unter anderem Latein lernte. Ab 1911 studierte er an der Universität Sydney vorwiegend alte Sprachen und Philosophie. Er schloss sein Studium 1914 mit Auszeichnung ab.[2]
Ab dem Wintersemester 1915 studierte er mit einem 'Cooper Graduate Scholarship in Classics' am Queens College an der University of Oxford[3]. Unter dem Einfluss des Historikers John Linton Myres wandte er sich von der Altphilologie immer mehr der Archäologie zu, wobei er in Bezug auf die Kultur- und Zivilisationsgeschichte der Menschheit diffusionistische Positionen vertrat.[4] 1916 schloss er den BLitt ab; seine Dissertation trug den Titel The influence of Indo-Europeans in prehistoric Greece; Betreuer waren Arthur Evans und John Myres. 1917 beendete er die literae humaniores (Greats) mit Auszeichnung.[5]
Daneben hatte Childe sich der Arbeiterbewegung angeschlossen und war zeitweise Mitglied der Industrial Workers of the World. 1919 kehrte er nach Australien zurück und war drei Jahre Privatsekretär des Labour-Ministerpräsidenten von New South Wales, was er in seiner den Parlamentarismus kritisierenden Studie How Labour Governs 1923 bilanzierte. 1925 wurde er auf Grund seiner vorgeschichtlichen Studien als Bibliothekar an das Royal Archaeological Institute in London berufen. Von 1927 bis 1946 hatte Childe den nach seinem Stifter John Abercromby (1841–1924) benannten Lehrstuhl für Prähistorische Archäologie an der Universität Edinburgh inne.[6] Politisch engagierte er sich gegen den Nationalsozialismus. Er kritisierte nach einem Besuch 1935 die Sowjetunion als totalitären Staat und den dortigen Wissenschaftsbetrieb als „Perversion des Marxismus“. Im Jahre 1946 wurde er als Professor an das Institute of Archaeology in London berufen (heute Teil des University College London). 1957 kam er bei Forschungen am Govetts Leap in den Blue Mountains (New South Wales, Australien) ums Leben, vermutlich durch Suizid.[7]
Childe kann als gemäßigter Vertreter und einer der Erneuerer des Diffusionismus angesehen werden. Im Unterschied zu den extremen Vorstellungen vieler Diffusionisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts billigte er auch der inneren Entwicklung der frühen Gesellschaften eine wichtige Rolle im Prozess der Zivilisation zu. Entwicklungsstufen der menschlichen Kultur waren für ihn keine dinglichen Realitäten, sondern geistige Sinnzusammenhänge oder Ordnungsstrukturen, deren Essentials man erfassen muss.[12] Childe prägte den Begriff der Kurgankultur und entwickelte die Theorie, der zufolge die Arier als Proto-Indoeuropäer anzusehen seien.[13]
Er entwickelte im Rahmen seiner marxistischen Geschichtsinterpretation den Begriff der neolithischen Revolution für den Beginn der bäuerlichen Lebensweise im Mittleren Osten[14] nach dem Vorbild des Begriffs Industrielle Revolution sowie den Begriff „Urbane Revolution“ für die Herausbildung der städtischen Gesellschaften der Bronzezeit[15]. Mit dieser Begriffswahl grenzte er sich von der latent rassistischen Diffusions- und Evolutionstheorie Gustaf Kossinnas ab, die ihn in den 1920ern beeinflusst hatte.[16]
Nach dem Tod wurde Childe von seinem Kollegen Stuart Piggott als „the greatest prehistorian in Britain and probably the world“ beschrieben.[17]
Childes Interpretationen von bestimmten Entwicklungsphasen und Phänomenen in der Menschheitsgeschichte werden von verschiedenen Archäologen kritisiert, da der Begriff „Revolution“ eine kurze Umbruchphase suggeriere. Tatsächlich aber handle es sich um langfristige Entwicklungen und Übergangsphasen, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten stattfanden.[18]
In Deutschland wurde Childe vor allem durch Günter Smolla eingeführt.[19]
Der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow berufen sich bei ihrem Buch Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit auch ausdrücklich auf Childe[20]:
„Schon im Jahr 1936 schrieb der Vorgeschichtler Vere Gordon Childe (1892-1957) ein Buch mit dem Titel Der Mensch schafft sich selbst, dessen Geist wir heraufbeschwören wollen. Wir Menschen sind Projekte kollektiver Selbsterschaffung. Wie wäre es, wenn wir auch die Menschheitsgeschichte mit dieser Prämisse angehen würden? Wie wäre es, wenn wir die Menschen ab dem Beginn ihrer Geschichte als phantasievolle, intelligente, spielerische Wesen behandeln würden, die es verdienen als solche verstanden zu werden? […]“
Skara Brae. His Majesty's Stationery Office, Edinburgh 1983, ISBN 0-11-491755-8.
Thomas Carl Patterson; Charles E. Orser (Hrsg.): Foundations of social archaeology: selected writings of V. Gordon Childe. AltaMira Press, Walnut Creek 2004, ISBN 0-7591-0592-8.
Delaporte, Louis Joseph: Mesopotamia, etc. Kegan Paul & Co., London 1925.
Alexandre Moret und Georges Davy: From Tribe to Empire: social organization among primitives and in the ancient East. Kegan Paul & Co., London 1926; Nachdruck bei Routledge, London 1996, ISBN 0-415-15565-7.
Borovka, Grigory Iosifovich: Scythian Art. Ernest Benn, London 1928.
Grahame Clark (Hrsg.): Contributions to prehistoric archaeology, offered to Professor V. Gordon Childe in honour of his sixty-fifth birthday. Museum of archaeology and erhnology, Cambridge 1956.
Peter Gathercole: Childe, (Vere) Gordon (1892–1957). Oxford Dictionary of National Biography, Oxford University Press, 2004.
Peter Gathercole, Terence H. Irving, Gregory Melleuish (Hrsg.): Childe and Australia. Archaeology, politics and ideas. University Press, London 1995, ISBN 0-7022-2613-0.
Sally Green: Prehistorian. A biography of V. Gordon Childe. Moonraker Press, Bradford-on-Avon 1989, ISBN 0-239-00206-7.
David R. Harris (Hrsg.): The archaeology of V. Gordon Childe. Contemporary perspectives. Proceedings of the V. Gordon Childe Centennial Conference held at the Institute of Archaeology, University College London, 8-9 May 1992 under the auspices of the Institute of Archaeology and the Prehistoric Society. UCL Press, London 1994, ISBN 1-85728-220-5.
Barbara McNairn: The method and theory of V. Gordon Childe. Economic, social and cultural interpretations of prehistory. University Press, Edinburgh 1989, ISBN 0-85224-389-8.
Linda Manzanilla (Hrsg.): Estudios sobre las revoluciones neolítica y urbana. University Press, Mexiko-Stadt 1988, ISBN 968-36-0693-8 (spanisch).
Derek J. Mulvaney: V. G. Childe. 1892–1957. S. 93–94 (Sonderdruck)
Ulrich Veit: Gustaf Kossina und V. Gordon Childe: Ansätze zu einer theoretischen Grundlegung der Vorgeschichte. In: Saeculum 45, 3/4, 1984, S. 326–363.
Bernard Wailes (Hrsg.): Craft specialization and social evolution. In memory of V. Gordon Childe. University Press, Philadelphia 1996, ISBN 0-924171-43-X.
David Graeber und David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2022, ISBN 978-3-608-98508-5.
Victoria Immervoll und Peter Rohrbacher: Diffusionismus trifft Prähistorie. Vere Gordon Childe (1892–1957) und sein archäologisches und ethnologisches Netzwerk in Wien.[1] In: Archaeologia Austriaca 107 (2023), pp. 241–276. doi:10.1553/archaeologia107s241
↑Ralf Gleser, Zur Idee von Vor- und Frühgeschichte als historischer Wissenschaft. Forschungsmagazin der Universität des Saarlands, Heft 2, 2007, S. 42 ff.
↑Bruce Trigger: Gordon Childe: Revolutions in Archaeology.
↑Kenneth Maddock: Prehistory, Power and Pessimism. In: Peter Gathercole, T. H. Irving, Gregory Melleuish (Hrsg.): Childe and Australia: Archaeology, Politics and Ideas. University of Queensland Press, St Lucia 1995, ISBN 978-0-7022-2613-7, S. 107–117.
↑Günter Smolla: Neolithische Kulturerscheinungen, Studien zur Frage ihrer Herausbildung. Antiquitas Reihe 2, Abhandlungen aus dem Gebiete der Vor- und Frühgeschichte Band 3, Bonn, Habelt 1960.
↑vgl. Graeber und Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2022, ISBN 978-3-608-98508-5: Childe wird etwa auf S. 21 u. 39 erwähnt.