Verkehrspsychologie oder auch Psychologie des Verkehrswesens ist ein Gebiet der Psychologie bzw. der Verkehrswissenschaften mit einer langen wissenschaftlichen Tradition. Einige der ersten empirischen Studien der Psychologie befassten sich mit verkehrsbezogenen Fragestellungen, vor allem mit der auch als Mobilitätskompetenz bezeichneten Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen.
Im deutschsprachigen Raum liegt der Schwerpunkt verkehrspsychologischer Praxis seitdem in der verkehrspsychologischen Diagnostik und in der Beratung, Rehabilitation und Nachschulung auffälliger Kraftfahrer. In diesem Bereich hat sich in Deutschland mit den neuen Straßenverkehrsgesetzen seit 1999 eine Ausweitung der beruflichen Tätigkeitsfelder ergeben.
Verkehrspsychologen sind sowohl mit der Diagnostik (Medizinisch-Psychologische Untersuchung – MPU) als auch mit der Verbesserung („Nachschulung, Verkehrsrehabilitation, Driver Improvement“) der Fahreignung beschäftigt. Als kleinere, aber beständig wachsende Felder sind die ergonomische Verkehrspsychologie sowie die Mobilitätspsychologie hervorzuheben. Verkehrspädagogische Fragestellungen und Probleme werden im Wesentlichen von dafür ausgebildeten Verkehrspädagogen bearbeitet. Obwohl sich Verkehr auch in der Luft, auf Wasserwegen und Schienen abspielt, überwiegt die Betrachtung des motorisierten Individualverkehrs, also des Straßenverkehrs und des Autofahrens. Daher können psychologische Fragestellungen, etwa zum Verhalten von Fußgängern und Radfahrern, als eher randständige Themen bezeichnet werden.
Die Wurzeln der Verkehrspsychologie liegen in Deutschland. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts beschäftigten sich Verkehrspsychologen im Gefolge der zunehmenden Motorisierung mit der Auswahl von Straßenbahnfahrern und Lokomotivführern, ab 1915 auch systematisch mit anderen Fahrzeugführern (vgl. Hugo Münsterberg).
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag der Schwerpunkt zunächst in der Begutachtung von kriegsversehrten Kraftfahrern im Sinne einer Überprüfung von Leistungseinschränkungen und Kompensationsmöglichkeiten.
Zu Beginn der 1950er Jahre wurden die ersten 'Medizinisch-Psychologischen Institute' gegründet. In den Folgejahren verlagerte sich der Schwerpunkt mit beginnender Massenmotorisierung auf die Überprüfung von verhaltensbedingten und „charakterlichen“ Eignungszweifeln, etwa aufgrund von Verkehrsverstößen mit und ohne Alkohol.
Seit Mitte der 1970er Jahre etablierte sich als zusätzliches Arbeitsfeld die Nachschulung und Rehabilitation von Kraftfahrern, die im Straßenverkehr mit Alkohol auffällig wurden. Diese evaluierten Gruppenprogramme wurden mit Beginn der 1990er Jahre sukzessive erweitert und schließlich durch die 'verkehrspsychologische Therapie' ergänzt, die mit eher psychotherapeutischen Mitteln vor allem in Einzelgesprächen mit verkehrsauffälligen Kraftfahrern (z. T. auch Piloten) arbeitet.
Die Begutachtung der Fahreignung wie auch die gruppenbezogenen Maßnahmen zur Wiederherstellung der Fahreignung unterliegen seit dem Jahr 2000 einer regelmäßigen Überprüfung durch die Bundesanstalt für Straßenwesen.
Verkehrspsychologie kann als Querschnittsdisziplin der Allgemeinen und Angewandten Psychologie mit starkem Bezug zu Arbeits- und Ingenieurpsychologie verstanden werden. Ihr Erkenntnisinteresse ist grundlagen-, anwendungs- und damit auch praxisbezogen. Im Mittelpunkt steht das Erleben und Verhalten von Menschen in Verkehrs- und Transportsystemen und den ihnen zugrundeliegenden psychischen Prozessen. Es handelt sich um ein innovatives Forschungsfeld mit z. T. eigener Methodik und theoretischen Ansätzen. Sie ist seit Anbeginn stark interdisziplinär ausgerichtet und kooperiert mit Ingenieuren, Informatikern, Medizinern, Wirtschaftswissenschaftlern, Juristen, Verwaltung.
Folgende Gebiete der Verkehrspsychologie lassen sich im Überblick unterscheiden (vgl. Schlag, 1999).
Die Mehrzahl der Verkehrspsychologen befasst sich mit dem Verkehrsteilnehmer und der Beurteilung seiner Fahreignung: In Deutschland müssen sich jährlich knapp 100.000 Kraftfahrer einer medizinisch-psychologischen Begutachtung unterziehen, weil von Seiten der Verkehrsbehörden Bedenken gegen ihre Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bestehen. Dies betrifft angehende und junge Kraftfahrer ebenso wie erfahrene und ältere Autofahrer, die wegen der besonderen Art oder einer Häufung von Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung auffällig werden. Die Begutachtung soll die Frage beantworten, ob die Betroffenen in Zukunft bereit und in der Lage sind, sich an Gesetze und Vorschriften im Straßenverkehr zu halten (negative Auslese, z. B. Verkehrsdelikte, Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch, körperliche Defekte, Versagen bei der Führerscheinprüfung). Diese Gutachten auf Grundlage einer medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) werden von den amtlich anerkannten Begutachtungsstellen für Fahreignung erstellt. Eine positive Auslese wird z. B. bei der Auswahl von Berufsfahrern oder bei vorzeitiger Führerscheinerteilung getroffen. Dabei arbeitet der Verkehrspsychologe in einem Spannungsfeld: Er muss das gesamtgesellschaftliche Ziel zuverlässiger Verkehrssicherheit mit den individuellen Interessen nach uneingeschränkter Mobilität in Einklang bringen, da der Verlust der Fahrerlaubnis oft zu erheblichen Konsequenzen für Existenz und Lebensqualität führt.
Die sogenannten Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Schubert u. a., 2005) unterstützen das Handeln aller Stellen, die mit der Prüfung und Feststellung von Eignungsmängeln nach dem Fahrerlaubnisrecht befasst sind. Die aktuelle Auflage beschreibt 18 verschiedene Untersuchungsanlässe (u. a. organische und organisch-psychische Auffälligkeiten, Fahrgastbeförderung) und bietet anlassbezogene Kriterien für die Beurteilung. Diese sind in einem gesonderten Werk „Beurteilungskriterien: Urteilsbildung in der Fahreignungsdiagnostik“ (aktuell in 3. Auflage, DGVP/DGVM, 2013) spezifiziert und werden von einer „Ständigen Arbeitsgruppe DGVP und DGVM (s.u.) zur Weiterentwicklung der Beurteilungskriterien“ bearbeitet. Für den Betroffenen ist damit Transparenz gegeben, für die Akteure aus Verkehrspsychologie, Medizin, Justiz und Verwaltung stellen Leitlinien und Beurteilungskriterien die verbindliche Basis dar, die einheitliche Entscheidungen ermöglicht.
Verkehrssicherheit ist nicht allein durch Sanktionen zu erreichen. Zahlreiche Maßnahmen zielen deshalb auf eine Änderung der Einstellung (Driver Improvement). Sie richten sich an unterschiedliche Zielgruppen (Jugendliche, Fahranfänger, ältere Verkehrsteilnehmer) und thematisieren unterschiedliche Auffälligkeiten: Alkohol, Drogen oder Straffälligkeit z. B. durch Aggressionsdelikte. Die „Kurse mit Rechtsfolge“, auch § 70-Kurse genannt, werden solchen alkoholauffälligen Kraftfahrern angeboten, deren Mängel sich nach Einschätzung der Gutachter durch die Kursteilnahme beheben lassen. Danach wird die Fahrerlaubnis ohne erneute Begutachtung erteilt. Wer freiwillig an der verkehrspsychologischen Beratung teilnimmt, kann u. U. sein Punktekonto reduzieren. Rolle und Aufgabe des verkehrspsychologischen Beraters sind gesetzlich festgelegt. Pädagogisch ausgerichtete Maßnahmen problematisieren riskante Einstellungen und Verhaltensweisen. Sie sollen die Entwicklung neuer, angepasster Verhaltensweisen fördern und deren Integration in das Alltagshandeln unterstützen. Evaluationsstudien belegen die positive Wirkung dieser Maßnahmen.
Personen mit tief greifenden Eignungsmängeln (Alkohol, Verkehrsverstöße, Straffälligkeit) benötigen therapeutische, rehabilitativ ausgerichtete Maßnahmen. Dafür hat sich der Begriff der Verkehrstherapie durchgesetzt, in der die individuelle Problematik bearbeitet wird und alternative Einstellungs- und Bewältigungsmuster entwickelt werden. Die Rehabilitationsprogramme stützen sich zumeist auf kognitiv-verhaltenstherapeutische, aber auch auf individualpsychologische oder systemische Konzepte. Auch für diese Programme liegen Evaluationsuntersuchungen vor, die ihren Nutzen bestätigen. Dieses Arbeitsgebiet, das man auch als Klinische Verkehrspsychologie bezeichnen könnte, hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen.
Unfallforschung und Verbesserung der Verkehrssicherheit für verschiedene (Altersgruppen, Arten der Verkehrsbeteiligung), gleichzeitig mit Bezug zur Verkehrswege- und Fahrzeuggestaltung; Wahrnehmung, Kognition und Aufmerksamkeit beim Fahren, Risikobereitschaft und Fahrmotive, Interaktionen und Sozialpsychologie des Fahrens.
Verhaltensbeeinflussung durch rechtliche (enforcement), pädagogische (education), fahrzeug- und straßenseitige (engineering) Maßnahmen; schulische und außerschulische Verkehrserziehung, Fahrausbildung, Fahrlehrerausbildung, Verkehrsaufklärung, Kampagnengestaltung und Marketing (encouragement).
Fragen der räumlichen Mobilität und der Verkehrsplanung; Verkehrspolitik: Mobilitätsmanagement, Verkehrsmittelwahl, psychologische Aspekte der Gestaltung der Verkehrswege und der Verkehrsumwelt, Angebotsqualität und Qualitätsmanagement.
Fragen der Ergonomie, aber auch des Umgangs mit fahrzeugseitigen Angeboten (beispielsweise Risikokompensation), Analyse wesentlicher Fahraufgaben und der Voraussetzungen, die Kraftfahrer zu ihrer Bewältigung benötigen, Gestaltung und Design von Fahrzeugen (Fahrerassistenzsysteme), Akzeptanz technischer und organisatorischer Innovationen (zum Beispiel Road pricing, Maut). In der Verkehrsraumgestaltung (z. B. Verkehrsablauf, Bebauung, Signalisierung) geht es im Wesentlichen darum, verhaltens- und erlebensbezogene Entwurfskriterien für eine erwartungskongruente Straßenraumgestaltung zu entwickeln.
Obwohl es sich hier um Arbeitsfelder mit einer langen Tradition handelt, kann man sie – zumindest im deutschsprachigen Raum – als eher von der „normalen“ Verkehrspsychologie abgetrennte Bereiche auffassen. Vorherrschend sind Themen wie Personalauswahl, Mensch-Maschine-Interaktion, arbeitsorganisatorische und soziale Beziehungen am Arbeitsplatz, Aus- und Fortbildung, Durchführung von Unfallanalysen sowie Krisenintervention.
Als eigenständige Disziplin ist die Verkehrspsychologie auf Hochschulebene kaum vertreten. Es existiert aber eine Reihe von Möglichkeiten, enger mit verkehrspsychologischen Inhalten vertraut zu werden oder sogar eine Qualifikation in Verkehrspsychologie zu erhalten:
Seit 2013 existieren zwei neue (entweder Vollzeit oder berufsbegleitend) Studiengänge, die explizit einen Abschluss mit der Berufsbezeichnung Verkehrspsychologe vorsehen:
Die Zertifizierung bescheinigt profunde theoretische Kenntnisse auf dem neuesten Stand sowie vertiefte, reflektierte und überprüfte Berufserfahrungen, eine besondere Problemlösungskompetenz und die Fähigkeit zu selbständigem und verantwortungsvollem Handeln gegenüber Individuen und Organisationen in verkehrspsychologischen Arbeitsfeldern.[3]
Es existieren verschiedene nationale und internationale Kongressreihen, die in unterschiedlichem Turnus ausgerichtet werden.