Eine Vivisektion (als Bezeichnung für „Zergliederungen an lebenden Menschen und Tieren“ von lateinischvivus‚lebendig‘ und sectio‚Schnitt‘) ist ein operativer Eingriff am lebenden Organismus (zu Forschungszwecken), das heißt beispielsweise am Tier[1] wie auch am lebenden Menschen – im Gegensatz zur Nekropsie bzw. Autopsie.
Die Vivisektion wird zur Erprobung von Operationsmethoden durchgeführt – auch zu Lehrzwecken – und erfolgt heute in der Regel unter Narkose oder zumindest unter Lokalanästhesie. Vivisektionen sind aus Gründen des Tierschutzes umstritten; sie dürfen meist nur unter Auflagen des Tierschutzgesetzes durchgeführt werden. Seit Beginn der Veröffentlichungen bestanden Zweifel am wissenschaftlichen Sinn von Vivisektionen. Weltweit engagieren sich zahlreiche Organisationen gegen Vivisektionen, darunter die europäische Stop Vivisection[2], die American Anti-Vivisection Society (AAVS)[3] und die Israeli Society for the Abolition of Vivisection.[4]
Der Begriff Vivisektion, im 19. Jahrhundert umgangssprachlich auch alle Arten von Tierexperiment bezeichnend, wurde bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein von Wissenschaftlern, vor allem aber von Vivisektionsgegnern, umgangssprachlich für alle nicht-therapeutischen Eingriffe an lebenden Tieren benutzt. Dementsprechend hat die ursprüngliche lateinische Bedeutung des Begriffes Vivisektion im Laufe der Zeit eine Erweiterung erfahren und sich in Wörterbüchern international als Synonym für alle Arten des Tierversuchs durchgesetzt wie auch der Begriff Antivivisektionisten[5] für Tierversuchsgegner:
Das Wort „Vivisection“ stand für jede Art von Tierversuch, ob die Tiere nun seziert werden oder nicht. (Encyclopaedia Americana)[6]
Eingriff am lebenden Tier zu wissenschaftlichen Versuchszwecken. (Duden).[7]
Spätestens Ende des 20. Jahrhunderts war der Begriff Vivisektion im deutschen Sprachraum weitgehend verdrängt worden durch den Begriff Tierversuch als grundlegende Bezeichnung für den experimentellen Einsatz von lebenden Tieren in Pharmakologie, Physiologie und anderen Disziplinen.[8]
Der Begriff wird auch im übertragenen Sinne benutzt, um eine gegenüber einem Untersuchungsgegenstand respektlose oder gefährliche Vorgehensweise zu bezeichnen.
Über den Sinn der Vivisektion am Menschen wurde schon in der Antike heftig diskutiert, wie der um 50 n. Chr. gestorbene römische Enzyklopädist Celsus (De medicina, prooemium 23–26, 40–44, 74)[9] berichtet, wobei er auf die an der medizinischen Hochschule zu Alexandrien angeblich üblichen Vivisektionen von zum Tode Verurteilten Bezug nimmt.[10] Wissenschaftsmethodische und ethische Argumente stehen bei den beiden Schulen der Theoretiker und der Empiriker gegenüber. Die Theoretiker sehen es für notwendig an, die Ursachen von Krankheiten zu kennen, und fordern dafür die mitunter nur durch Vivisektion zu gewinnende, präzise Kenntnis der inneren Organe ein. Dagegen wenden die Empiriker ein, dass sich bei der Vivisektion die inneren Organe veränderten und dadurch die Befunde nicht verwertbar seien; außerdem seien durch die Behandlung Kranker und durch Leichenöffnung die gewünschten Erkenntnisse zwar langsamer, dafür aber weitaus schonender und ohne Grausamkeiten zu gewinnen. In der medizinischen Praxis der Antike wurde die Vivisektion von Menschen nur in seltensten Fällen vorgenommen.
W. Deuse: Celsus im Proömium von ‚De medicina‘: Römische Aneignung griechischer Wissenschaft. In: ANRW II,27.1 (1993), S. 819–841, bes. 831–841.
Andreas-Holger Maehle: Vivisektion. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1451 f.
Nicolas Perthes / Birgit Grieseck / Marcus Krause / Katja Sabisch (Hg.): “Menschenversuche”. Eine Anthologie. 1750–2000. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008 (779 S.).
J. Pigeaud: Un médecin humaniste: Celse. Notes sur le ‘prooemium’ du ‘De Medicina’. In: Les Études Classiques 40 (1972), S. 302–310, bes. 304ff.
Christian Schulze: Celsus. Hildesheim: Olms / Darmstadt: WBG 2001, S. 34f., dort 145 Lit.verz.!
Theodor Meyer-Steineg: Die Vivisektion in der antiken Medizin. In: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 6, 1912, S. 1491–1512.
Wolfgang Zapfe: Antike Medizin im Unterricht. Am Beispiel des Themas ‚Forschen, Helfen, Verdienen‘ (Consilia – Lehrerkommentare 4). Göttingen: V&R 1982, bes. S. 17–20.
Wolfgang Zapfe: Forschen, Helfen, Verdienen. Der Arzt in der Antike. Ein Kurs für den Lateinunterricht der 10.–12. Jahrgangsstufe. Texte mit Erläuterungen. Arbeitsaufträge und Begleittexte (Exempla 4). Göttingen: V&R (1982) 2. Aufl. 1994, S. 16–19 (Text). 39f. (Arbeitsaufträge).
↑Ulrich Tröhler, Holger Maehle: Anti-Vivisection in Nineteenth-Century Germany and Switzerland: Motives and Methods. In: Nicolaas A. Rupke (Hrsg.): Vivisection in Historical Perspective. 2. Auflage. London 1990, S. 149–187.
↑ abPietro Croce: Tierversuch oder Wissenschaft: Eine Wahl. Buchverlag CIVIS Publications, Massagno, September 1988, ISBN 3-905280-05-7, S. 21.
↑Duden – Band 1: Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Dudenverlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2006, ISBN 978-3-411-04014-8, S. 1089.
↑Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 255. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin, New York 1986, ISBN 3-11-007916-X, S. 1672
↑Deutsche Übersetzung in: Aulus Cornelius Celsus, Über die Arzneiwissenschaft in acht Büchern. Übersetzt und erklärt von Eduard Scheller. 2. Auflage. Braunschweig 1906 (Nachdruck: Darmstadt: WBG, 1967), S. 24 [prooem. 23–26]. 27 f. [prooem. 40–44]. 33 [prooem. 74].
↑Vgl. auch Jutta Kollesch, Diethard Nickel: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer. Philipp Reclam jun., Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek. Band 771); 6. Auflage ebenda 1989, ISBN 3-379-00411-1, S. 27 f., 84 (Aulus Cornelius Celsus, Die Medizin, Buch 1, aus dem Vorwort) und dazu S. 187, Anm. 1 („Ob der vorliegende Bericht über die Vivisektionen den historischen Tatsachen entspricht, ist unsicher“.)
↑Nicholas D. Kristof: Unmasking Horror -- A special report.; Japan Confronting Gruesome War Atrocity. In: The New York Times. 17. März 1995, ISSN0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 23. Februar 2023]).