Die Wirtschaftsgeschichte ist eine Brückendisziplin zwischen den Wirtschaftswissenschaften und der Geschichtswissenschaft. Je nach Betrachtungsweise können die Volks- und Betriebswirtschaftslehre sowie die Geschichtswissenschaft der Wirtschaftsgeschichte als Hilfswissenschaften dienen. Oder aber die Wirtschaftsgeschichte wird zur Hilfswissenschaft der erstgenannten Fächer, beispielsweise zur Untersuchung der epochenübergreifenden Gültigkeit von Theorien. Die Wirtschaftsgeschichte untersucht die Entwicklung, die Organisation und die Handlungslogiken von bzw. in Volkswirtschaften, Branchen, Unternehmen, Akteuren und Akteursgruppen in historischer Perspektive.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die methodisch-konzeptionelle Ausrichtung der Wirtschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum mehrfach verändert. Ab Ende der 1950er Jahre wurde sie zunächst – ausgehend von angelsächsischen Ländern – durch die Cliometrie in Richtung quantitativer Fragestellungen, makroökonomische Perspektiven und statistisch-mathematischer Methoden weiterentwickelt.[1] Seit den 1990er Jahren wurde der Anschluss an die Neue Institutionenökonomik, deren Impulse aus den Wirtschaftswissenschaften kamen, verwandte institutionelle Theorien und kulturwissenschaftliche Modelle der Geschichtswissenschaft gesucht.[2] Damit traten mehr und mehr qualitative Fragestellungen und Methoden sowie mikroökonomische Perspektiven in den Mittelpunkt aktueller Forschungsperspektiven. Zeitgleich ist auch eine Hinwendung zu verstärkt internationalen, länder- und kulturvergleichenden Themen und Fragestellungen zu erkennen. Während traditionell vor allem die Frage nach Ursachen und Faktoren des Übergangs in die moderne Wachstumswirtschaft (Industrielle Revolution) diskutiert wurde, interessiert sich die Wirtschaftsgeschichte mittlerweile für ein breites und vielfältiges Feld an Themen.
An den Universitäten werden Lehrstühle für Wirtschaftsgeschichte in der Regel entweder an geschichtswissenschaftlichen oder wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt. Öfters wird das Fach dabei mit verwandten Disziplinen wie der Sozial- oder Agrargeschichte gekoppelt.[3] In der deutschen Hochschulpolitik ist die Wirtschaftsgeschichte gemeinsam mit der Sozialgeschichte als Kleines Fach eingestuft.[4]
Quelle der Wirtschaftsgeschichte kann jede Art von Überlieferung sein, die Informationen über wirtschaftliche Umstände und Vorgänge in der Vergangenheit offenbart.
- veröffentlichte und archivalische, schriftliche serielle Quellen (zum Beispiel historische Bilanzen, Kurszettel, Preiscouranten, Rechnungen und Rechnungsbücher, Testamente, statistische Veröffentlichungen wie Zollregister)
- Quellen zur Wirtschaftsverfassung und zu wirtschaftlichen Handlungsweisen (zum Beispiel Protokolle, Verträge, Briefkopierbücher, Gesetze, Zunftordnungen etc.)
- Archäologische Quellen (zum Beispiel Münzen, Möbel, Werkzeuge, Fabriken, Werkstätten, Marktorte, Handelsstraßen)
- Geografische Befunde, Landkarten etc.
- Metaquellen, die der Wirtschaftshistoriker selbst aus vorgefundenen Quellen konstruiert, zum Beispiel genealogische Datenbanken, historische Datensammlungen (zum Beispiel Preisreihen, rekonstruierte Nationalproduktrechnungen etc.)
Als Brückendisziplin befindet sich die Wirtschaftsgeschichte zwischen den methodologischen Ansätzen der Geschichts- und der Wirtschaftswissenschaften.
Auf der einen Seite steht die eher qualitative, induktive historische Methode (zum Beispiel Hermeneutik), auf der anderen stehen die eher quantitativen, deduktiven, mathematisch-analytisch orientierten Theorien und Methoden der Wirtschaftswissenschaften. In gewisser Weise spiegelt sich hier der Methodenstreit der Nationalökonomie, der besonders im deutschsprachigen Raum um die Wende zum 20. Jahrhundert zwischen der Historischen Schule der Nationalökonomie und der neoklassischen Österreichischen Schule der Nationalökonomie ausgetragen wurde, wider. In Großbritannien und den USA dominiert die neoklassisch orientierte New Economic History die wirtschaftsgeschichtliche Forschung, während in anderen, vor allem europäischen Ländern verschiedenste, häufig stark mit der Sozialgeschichte verzahnte Ansätze (zum Beispiel Annales-Schule) von Bedeutung sind.
Die von verschiedenen Forschern verwendeten Methoden differieren demnach entsprechend ihrer Herangehensweise und ihrer Fragestellung. Häufig ist ein der Fragestellung angepasster Methodenpluralismus vorzufinden.
Teildisziplinen und Forschungsfelder der Wirtschaftsgeschichte befinden sich oft in engem Zusammenhang bzw. in Überlappung zu anderen Disziplinen. Einige wichtige Felder sind:
Veränderungen in den Häufigkeiten von Berufen und Erwerbszweigen, wie sie sich aus allen genealogischen Arbeiten belegen lassen, sind das wichtigste Begegnungsfeld zwischen den Disziplinen Wirtschaftsgeschichte und Genealogie für die vorstatistische Zeit vor 1850.
Weitere Überschneidungen finden im Bereich der Unternehmensgeschichte statt, die sich für Persönlichkeit und Familie des Gründers bzw. des Unternehmens oder seine Vermögensverhältnisse und Geldquellen interessiert, die oft aus verwandtschaftlichen Beziehungen zu Kaufmannsfamilien herrühren (siehe auch Gründerfamilie, Heiratskreis, soziale Mobilität).
Auch ein tieferes Verständnis handwerklicher Traditionen ist ohne Genealogie undenkbar.
Kommunikation war zu allen Zeiten Grundvoraussetzung für das Funktionieren wirtschaftlicher Prozesse, deshalb ist die Postgeschichte – die Post war lange Zeit nahezu alleiniger Vermittler von Nachrichten – unverzichtbar. Anstatt wie früher als Institutionengeschichte verstanden kann Postgeschichte zum Verständnis der kaufmännischen Entscheidungen beitragen. Zumal im 18. und 19. Jahrhundert wegen der komplexen Versandbedingungen die Kaufleute viel Zeit und Kosten aufwenden mussten, um ihre Nachrichten sicher und schnell abzusetzen. Ähnliches gilt für die Verkehrs- und die neuere Kommunikationsgeschichte.
International:
In Deutschland:
- Gerold Ambrosius, Dietmar Petzina, Werner Plumpe (Hrsg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte: Eine Einführung für Historiker und Ökonomen. 2., bearb. u. erw. Auflage. München 2006, ISBN 3-486-57878-2.
- Christoph Buchheim: Einführung in die Wirtschaftsgeschichte. München 1997, ISBN 3-406-41901-1.
- Ludwig Beutin, Hermann Kellenbenz: Grundlagen des Studiums der Wirtschaftsgeschichte. Köln u. a. 1973, ISBN 3-412-86373-4.
- Jan-Otmar Hesse, Wirtschaftsgeschichte. Entstehung und Wandel der modernen Wirtschaft. Frankfurt 2013, ISBN 978-3-593-39958-4.
- Jan-Otmar Hesse, Sebastian Teupe, Wirtschaftsgeschichte. Entstehung und Wandel der modernen Wirtschaft. 2., aktualisierte und erweiterte Ausgabe. Campus, Frankfurt am Main 2019, ISBN 978-3-593-51113-9.
- Mark Spoerer/Jochen Streb: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Oldenbourg, München 2013, ISBN 978-3-486-58392-2.
- Rolf Walter: Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 2. Auflage. UTB. Böhlau, Weimar 2008, ISBN 978-3-8252-3085-2.
- Clemens Wischermann/ Katja Patzel-Mattern/ Martin Lutz/ Thilo Jungkind (Hrsg.): Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Franz Steiner, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-515-11122-5.
- Wolfgang Zorn: Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Probleme und Methoden. 2. Auflage. München 1974, ISBN 3-406-05484-6.
- Wilhelm Abel: Neue Fragen an die Wirtschaftsgeschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (= Göttinger Universitätsreden. Heft 37).
- Moses Finley: The ancient economy. Berkeley 1973 Vollansicht
- Gerold Blümle: Wirtschaftsgeschichte und ökonomisches Denken. Ausgewählte Aufsätze. Metropolis, Marburg 2007, ISBN 978-3-89518-597-7.
- Timothy Earle: Bronze Age Economics: The First Political Economies. Westview Press, Boulder Colo 2002, ISBN 0-8133-3969-3.
- Marshall David Sahlins: Stone Age Economics. Aldine Atherton, Chicago 1972, ISBN 0-202-01098-8.
- Jörg Baten (Hrsg.): A History of the Global Economy: 1500 to the Present. Cambridge University Press 2016, ISBN 978-1-107-50718-0.
- Christian Marx: Wirtschaftliche Netzwerke. In: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2012 Zugriff am: 17. Dezember 2012
- Werner Plumpe (Hrsg.): Wirtschaftsgeschichte. Stuttgart 2008, ISBN 978-3-515-09064-3.
- Bertram Schefold: Beiträge zur ökonomischen Dogmengeschichte. Verlag Wirtschaft und Finanzen, Düsseldorf 2004, ISBN 3-87881-182-9.
- Günther Schulz, Christoph Buchheim, Gerhard Fouquet (Hrsg.): Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven. Franz Steiner, Wiesbaden 2004, ISBN 3-515-08771-0.
- Rolf Walter: Wirtschaftsgeschichte: vom Merkantilismus bis zur Gegenwart. 4. Auflage. Köln 2003, ISBN 3-412-11803-6.
- Rolf Walter: Geschichte der Weltwirtschaft. Eine Einführung. UTB. Böhlau, Weimar 2006, ISBN 3-8252-2724-3.
- Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus, Beck, München 2013. ISBN 978-3-406-65493-0
- Hugo Ott und Hermann Schäfer (Hrsg.): Wirtschafts-Ploetz. Die Wirtschaftsgeschichte zum Nachschlagen. Ploetz, Freiburg/ Würzburg 1984, ISBN 3-87640-073-2 (unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler, mit gut 100 grafischen und tabellarischen Übersichten)
- Kai Ruffing: Wirtschaft in der griechisch-römischen Antike. (Geschichte kompakt). Darmstadt 2012, ISBN 978-3-534-22836-2.
- Hans-Joachim Drexhage, Heinrich Konen, Kai Ruffing: Die Wirtschaft des Römischen Reiches (1.-3. Jahrhundert): Eine Einführung. Berlin 2002, ISBN 3-05-003430-0.
- Hans-Jörg Gilomen: Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters (= Beck’sche Reihe 2781). C.H. Beck, München 2014. ISBN 978-3-406-65484-8
- Werner Abelshauser, Dietmar Petzina (Hrsg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte im Industriezeitalter. Konjunktur, Krise, Wachstum. Königstein/Taunus 1981, ISBN 3-7610-7239-2. (mit einer nach Sachgebieten gegliederten Bibliografie)
- Friedrich-Wilhelm Henning: Das vorindustrielle Deutschland 800 bis 1800. Schöningh, Paderborn 1974, ISBN 3-506-99162-0.
- Friedrich-Wilhelm Henning: Das industrialisierte Deutschland 1914 bis 1976. 4. Auflage. Schöningh, Paderborn 1978, ISBN 3-506-99168-X.
- Hermann Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2 Bde. München 1977/1981, ISBN 3-406-06987-8, ISBN 3-406-06988-6.
- Hans-Heinrich Müller (Red.): Produktivkräfte in Deutschland 1870 bis 1917/18. Herausgegeben von Rudolf Berthold u. a., Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften Berlin. Akademie-Verlag, Berlin 1985.
- Michael North (Hrsg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick. C.H.Beck Verlag, München 2005, ISBN 3-406-50266-0.
- Mark Spoerer, Jochen Streb: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Oldenbourg Verlag, München 2013, ISBN 978-3-486-76656-1.
- Rosemary Thorp: Progress, Poverty and Exclusion. An Economic History of Latin America in the 20th Century. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1998, ISBN 1-886938-35-0.
- Rolf Walter: Wirtschaftsbeziehungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt. In: Europäische Geschichte Online. hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz). 2012, Zugriff am: 26. April 2012.
- Wolfram Weimer: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von der Währungsreform bis zum Euro. Hofmann&Campe, Hamburg 1999, ISBN 978-3-455-11229-0.
- ↑ Mark Spoerer, Jochen Streb: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 2013, S. 1–23.
- ↑ Vgl. Clemens Wischermann et al.: Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Stuttgart 2015.
- ↑ Beispielsweise an den Universitäten Münster, Regensburg und Hohenheim.
- ↑ siehe Fachstandorte der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Arbeitsstelle Kleine Fächer (Mainz), abgerufen am 6. Dezember 2015