Wissenschaft und Technik in der Sowjetunion waren formal durch die marxistisch-leninistische Weltanschauung geprägt. Einerseits erzielten die sowjetischen Wissenschaftler und Ingenieure Spitzenleistungen im naturwissenschaftlich-technischen Bereich, andererseits waren speziell die Geistes- und Sozialwissenschaften in der Sowjetunion einer Reihe von politischen Tabus unterworfen und unterlagen der Zensur. Dies betraf auch die Biologie und Physik.[1]
Nach 1917 beschleunigte sich die wissenschaftlich-technische und wirtschaftliche Entwicklung Sowjetrusslands und verstärkten sich Industrialisierung, Technisierung und Alphabetisierung des zuvor vorwiegend bäuerlich geprägten zaristischen Landes in allen Sowjetrepubliken.
„Kommunismus gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung“, dieser bekannte Ausspruch von Lenin brachte die Ziele der nächsten Jahre zum Ausdruck, die einhergingen mit einem Fortschritt in allen Bereichen der sowjetischen Wissenschaften und Technik, deren Leistungen und Ergebnisse am wenigsten noch durch die Elektrifizierung des 230 Millionen-Staates charakterisiert wurden.
Ungeachtet starker Hemmnisse, wie Bürgerkrieg, Dürrekatastrophen und der ausländischen Militärinterventionen in den 1920er Jahren mit Millionen Opfern, des Stalinismus in den 1930er Jahren, unter dem viele Wissenschaftler zum Beispiel durch Haft in Sondergefängnissen leiden mussten, konnte die UdSSR aufgrund ihrer industriell-technischen Entwicklung innerhalb weniger Jahre wirtschaftlich und militärisch zu einer mit Deutschland und den Vereinigten Staaten vergleichbaren Weltmacht aufsteigen. Auch im und nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Sowjetunion bis zu ihrer Auflösung 1991 eine wissenschaftlich-technische Großmacht.
Militärtechnisch war die Nachkriegszeit durch das Wettrüsten mit den Vereinigten Staaten geprägt, die atomare, biologische, chemische und konventionelle Aufrüstung, die Wasserstoffbombe und die Atom-U-Boote.
In der Raumfahrttechnik war die Sowjetunion zwischen 1957 und etwa 1968 weltweit führend und erbrachte zahlreiche historische Pionierleistungen:
Diese Erfolge wurden im Kalten Krieg – wesentlich intensiver als jene der USA – auch als Propagandaerfolg ausgeschlachtet und teilweise auf wichtige Staatsbesuche hin terminisiert. Häufig waren die Erfolge auch Ausdruck einer unter Zeitdruck stehenden Aufholjagd, wie etwa der Bau des ersten, später als Leninski Komsomol bekannt gewordenen sowjetischen Atom-U-Bootes, das seinem amerikanischen Gegenstück hinterherhinkte.
Nach dem Tode Stalins (1953) durften auch bislang tabuisierte Forschungsgebiete wie die Mendel'sche Vererbungslehre, die Soziologietheorien von M. N. Petrowskij oder der sprachwissenschaftliche Strukturalismus wieder behandelt werden. Dennoch galt es für sowjetische Wissenschaftler als gefährlich, westliche Forscher offiziell zu zitieren. Auch die Geschichtsforschung wurde bis 1991 mit historischen Tabus belegt, die sowohl die frühmittelalterliche Geschichte Russlands (Waräger) als auch die jüngere Zeitgeschichte (Massaker von Katyn) betrafen.
Ganze Städte mit Wissenschaftlern und Technikern entstanden, wie das Kernforschungszentrum Dubna, das Sternenstädtchen, Akademgorodok in Sibirien und das Wissenschaftszentrum in Tschernogolowka bei Moskau mit dem Landau-Institut für Theoretische Physik. Solche Wissenschaftsstädte galten teilweise als Sperrgebiet.
Entgegen der gelegentlich gehörten Meinung waren in der UdSSR und DDR weder die Kybernetik noch die Evolutionstheorie verboten.
Zahlreichen sowjetischen Wissenschaftlern wurde neben anderen internationalen Preisen der Nobelpreis zuerkannt, wie zum Beispiel:
Weitere Nobelpreise
Dem Kampfbegriff Bourgeoise Pseudowissenschaft wurden unter anderem und in verschiedenem Grad Genetik, Kybernetik, Soziologie, Semiotik und Vergleichende Sprachwissenschaft untergeordnet. Diese Wissenschaftsgebiete oder gewisse Interpretationen davon wurden als mit dem Sozialismus unvereinbar angesehen und ihre Erforschung durch die KPdSU unterdrückt. Darüber hinaus war die Regimetreue der Forscher eine Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Karriere.
Unter Historizismus versteht der Philosoph Karl Popper die sozialistische Theorie, dass die Gesellschaft sich zwangsläufig ändern wird, jedoch entlang eines vorgegebenen Pfades, der nicht geändert werden kann, diktiert von unabwendbaren Notwendigkeit. „Gesellschaftsformation“ ist der hierfür in der marxistischen Theorie verwendete zentrale Begriff.[5] Diese philosophische Theorie der Geschichte prägte die sowjetische Geschichtswissenschaft und erschwerte so unvoreingenommene historische Forschung.
Im Stalinismus wurde die Geschichte der Russischen Revolution verfälscht. Stalin autorisierte das Werk 'Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)' von 1938 als historische Wahrheit: keine sowjetische Veröffentlichung durfte von dem hierin gezeichneten Bild abweichen. Der Zugang zu sowjetischen Archiven wurde allgemein stark eingeschränkt und missliebige Fakten, beispielsweise über das Geheime Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Pakts 1939 und über das Massaker von Katyn 1940, geheim gehalten.[6][7]
Trofim Lyssenko propagierte den Lyssenkoismus, das ist die pseudowissenschaftliche lamarckistische Idee, Tiere und Pflanzen könnten erworbenen Eigenschaften an ihre Nachkommen über veränderte Erbanlagen weiterreichen. Diese These wurde unter anderem von Stalin begrüßt.[8] Im Gegenzug wurde die klassische Genetik und die Mendelsche Vererbungslehre als „konterrevolutionär“ abgelehnt und die Forschung an Fruchtfliegen oder anderen Modellorganismen als sinnlos oder sogar umtriebig abgetan.
Lyssenkos Konkurrent, der Genetiker Nikolai I. Wawilow, wurde auf Lyssenkos Anregung zuerst in Gewahrsam genommen und dann nach Sibirien deportiert, wo er 1943 starb.
Die von Trotzki befürwortete Psychoanalyse geriet mit seinem Ausschluss aus dem inneren Zirkel der KPdSU immer mehr in die Kritik. Der „bourgeoise Individualismus“ sowie die wesentliche Bedeutung der Sexualität in Freuds Theorien wurden mit der sozialistischen Lehre als unvereinbar empfunden, sozialistische „Freudomarxisten“ wurden marginalisiert und das Staatliche Institut für Psychoanalyse 1925 geschlossen. Die pawlowsche Reflexpsychologie wurde mit der Etablierung des Stalinismus als einzige „politisch-korrekte“ Unterart der Psychologie etabliert. 1936 verbot Stalin die Verbreitung und das Zitieren aus den Werken Freuds vollends.[9] Erst 1979 organisierte die Georgische Akademie der Wissenschaften 1979 in Tiflis ein Symposium über das Unbewusste, an dem sowjetische Wissenschaftler und westliche Psychoanalytiker, Philosophen und Linguisten teilnahmen. Die Perestroika in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begünstigte das Wiederaufleben der psychoanalytischen Bewegung. 1989 wurden alle Werke Freuds neu übersetzt und veröffentlicht,[10]
In der frühen Sowjetunion der 1920er Jahre befasste sich die staatlich geförderte Wissenschaft der Pädologie unter anderem mit der Zusammensetzung der Schulklassen und mit geistig behinderten und schwer erziehbaren Kindern. Dabei ging es um medizinische Entwicklungsprobleme, die heute in der Jugendpsychiatrie behandelt werden. Die Defektologie untersuchte anfangs noch soziale Ursachen von Behinderungen, ab der Stalinzeit wurde Behinderung nur noch medizinisch aufgefasst.
Die Quantenmechanik und Relativitätstheorie in der Theoretischen Physik wurden von Stalin persönlich abgelehnt, da sie möglicherweise die marxistisch-leninistische materialistische Erkenntnistheorie untergraben könnten. Andererseits waren diese Erkenntnisse auch unverzichtbar für den theoretischen Hintergrund der Fertigung von Atomwaffen, die die Sowjetunion dringend benötigte.[11]
Sowjetische Kybernetiker strebten danach, diverse kybernetische Theorien, die im Westen ausgearbeitet worden waren, zu vereinheitlichen – Kontrolltheorie, Informationstheorie, Automatentheorie und weitere – in einem einzigen übergreifenden konzeptionellen Rahmen, der als Grundlage für eine allgemeine Methodik für eine breite Palette von sozialen Anwendungen der Kybernetik dienen würde.
In den frühen 1950er Jahren, im Zuge einer Welle der stalinistischen ideologischen Kampagnen gegen westlichen Einfluss in der sowjetischen Wissenschaft, wurde die Kybernetik als „modische Pseudowissenschaft“ und „eine reaktionäre imperialistische Utopie“ gebrandmarkt.[11]
Seit 1985 Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wurde, flossen geringere Staatsmittel in die Rüstungsindustrie. Betroffen davon war auch die Wissenschaft. Viele fast fertige Großprojekte und noch mehr Kleinprojekte wurden eingestellt oder eingeschränkt, viele Projekte nicht begonnen.
Im Raumfahrtbereich wurde die einmal unbemannt erfolgreich geflogene und gelandete, wiederverwendbare Raumfähre Buran aufgegeben; ebenso wie die stärkste bisher (Stand 2016) gebaute Trägerrakete Energija. Es wurde der Ausbau der Raumstation MIR eingeschränkt, die Station später gezielt zum Absturz gebracht und durch die Arbeiten an der ISS ersetzt.
Bei der Atomtechnik strich man neue leistungsfähige Teilchenbeschleuniger und stellte die Arbeit an Kernfusionsexperimenten ein.
Bei der Armee wurde die Modernisierung und Wartung der Militärtechnik eingeschränkt. So führen amerikanische Untersuchungen den Untergang des Atom-U-Boots Kursk darauf zurück.
Viele sowjetische Wissenschaftler verließen seit etwa 1989 das Land und versuchten in Forschungseinrichtungen anderer Industriestaaten ein Auskommen zu finden.