Zigeuner ist ein im deutschen Sprachraum umstrittener Ausdruck für ethnische Gruppen wie Roma und Sinti und teilweise weitere Gruppen, die damit assoziiert werden („fahrendes Volk“). Viele Roma und Sinti sowie Jenische weisen den Ausdruck als diskriminierend zurück. Eine Minderheit verwendet ihn hingegen für sich selbst oder lehnt ihn zumindest nicht ab.[1]
Heutzutage gilt der Ausdruck als großteils veraltet und vorbelastet.[2] Zum einen, weil es sich um eine Fremdbezeichnung handelt, und weil es auch mit der jahrhundertelangen Verfolgung der so Bezeichneten zu tun hat. Dies bezieht sich auf den Porajmos – die Verfolgung und Ermordung im Nationalsozialismus – und die Unterdrückung danach.
Der Name „Zigeuner“ ist aus italienisch zingaro und ungarisch czigány ins Deutsche entlehnt. Er ist in den europäischen Sprachen weit verbreitet (vergleiche etwa französisch tziganes), aber seine Herkunft ist unklar.[4]
Möglicherweise ist er eine Variante der griechischen Bezeichnung der Sekte der Athingani[5] oder Athinganen (griechisch Ἀθίγγανοι Athínganoi „die Unberührbaren“, mittelgriechische Aussprache etwa [ ], mit – im Mittelgriechischen regelhafter – Prokope [ ]), die im 9. Jahrhundert im früheren Phrygien lebten. Im Jahr 803 wurden sie dort in Amorion erstmals als „Zauberer, Wahrsager und arge Ketzer“ beschrieben.[6] Caspar Peucer ging 1553 davon aus, dass die Zigeuner die Nachkommen der Athinganen seien.[7] Sie galten als unter die Paulikianer zu subsumierende Häretiker. Aus atsínganos (ἀτσίγγανος) ging das mittelgriechische Wort tsínganos (τσίγγανος) hervor, das wahrscheinlich zu Mittellatein acinganus wurde.[8]
Cornerus behauptete im frühen 15. Jahrhundert, sie würden sich selbst als Secani bezeichnen;[9] dies ist eine latinisierte Variante von Cigani. Eine weitere überlieferte Schreibweise ist Cingari.[10] Ableitungen mit Herkunft aus dem 19. Jahrhundert beziehen sich auf eine „verstoßene“ Bevölkerungsgruppe namens Cangar (Tschangar) im heutigen Punjab (Indien), die eine „sanskritische Tochtersprache Sindhi“ gesprochen habe.[11] Diese Cangar nannte Rienzi 1832 „Cingari“ oder „Tzengari“.[12] Da es neben einer lautlichen Gemeinsamkeit der Gruppenbezeichnungen keine Kontinuitätsbelege für eine Herkunftsgeschichte der mit „Zigeuner“ Belegten von dieser indischen Gruppe gibt, handelt es sich um reine Vermutungen. Das gilt in gleicher Weise mangels schriftlicher Quellen über Jahrhunderte hinweg für die Konstruktion „Sindhi“ als eines Vorläufers von „Sinti“.
Daneben gibt es eine Herleitung von alttürkisch čïγay mit den Varianten čïγan und čïγany mit der Bedeutung „arm, elend“, vermittelt über das ungarische Wort cigány.[13] Laut Elmar Seebold ist diese Herleitung, die von Stanisław Stachowski vertreten wird, „semantisch ansprechend, formal problematisch“.[4] Gemeinsam ist sowohl dem einen wie dem anderen sprachlichen Ableitungsversuch, dass deren Vertreter der Gruppe eine gesellschaftliche Außenseiterposition zuordnen.
Im Deutschen stammt das Wort aus mittelhochdeutsch Cigäwnär, das erstmals 1422 als handschriftliche Notiz im – allerdings vorwiegend lateinisch geschriebenen – Tagebuch des Andreas von Regensburg auftauchte: „Ein gewisser Stamm der Cingari, gewöhnlich Cigäwnär genannt“ (lateinisch quaedam Cingarorum vulgariter Cigäwnär vocitata).[14][10] „Im Volk wurde jedoch gesagt, dass sie heimliche Kundschafter im Lande seien.“[14] Mindestens seit Anfang des 15. Jahrhunderts leben im deutschsprachigen Raum als „Tataren“ oder „Zigeuner“ – in Schreibvarianten wie Zeyginer, Zigeiner, Ziginer und ähnlichen Ausdrücken – bezeichnete Angehörige der Sinti-Minderheit.[15]
Der Schweizer Chronist Johannes Stumpf berichtete, dass die „Zyginer“ aus Helvetien erstmals 1418 in die Schweiz kamen und über „Gold und Silber“ verfügten.[16]
Volksetymologisch wird Zigeuner mitunter irrtümlich als „Zieh-Gäuner“, also „(umher-)ziehende Gauner“, gedeutet.[17][18]
Zigeuner ist eine im deutschen Sprachraum mutmaßlich auf das byzantinische Griechisch zurückgehende Fremdbezeichnung für Bevölkerungsgruppen, denen in Stereotypen ausgeprägte, jeweils auffällige, von der Mehrheitsbevölkerung abweichende Eigenschaften zugeordnet werden. Zwei wesentliche Beschreibungsweisen lassen sich unterscheiden, die in Mischungen auftreten können:
Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelte sich eine Perspektive im Sinne von „Volk“ und „Rasse“, die sich im 19. Jahrhundert zunehmend verfestigte. Zugleich mit einer diskriminierenden kam eine ebenfalls abgrenzende romantisierende Sichtweise auf, die negative Stereotype positiv umwertete.
Die gewichtigeren nationalen und internationalen Interessenvertretungen der Roma lehnen die Anwendung des Begriffs auf Roma wegen der stigmatisierenden und rassistischen Konnotationen ab. Sie sehen das Wort im Kontext einer langen Verfolgungsgeschichte, die im nationalsozialistischen Genozid kulminierte.
Aus dem Sprachgebrauch deutschsprachiger staatlicher und nichtstaatlicher Verwaltung, der Justiz, großer gesellschaftlicher Institutionen wie der Gewerkschaften oder der Kirchen, internationaler Behörden und der Politik ist der Begriff „Zigeuner“ inzwischen verschwunden. Er wird auch in den Medien kaum noch gebraucht. Eigenbezeichnungen in Romani wie Roma oder Sinti haben andere Bedeutungen und andere Konnotationen als die Fremdbezeichnung. Sie lassen sich daher nicht mit ihr gleichsetzen, sondern lösen sie mit eigenständigen Inhalten ab.
Für eine Auseinandersetzung mit historischen Quellen oder Diskriminierungstatbeständen, die die Fremdbezeichnung verwenden, gibt es den Vorschlag, den diskriminierenden Begriff durchgestrichen, also Zigeuner, zu schreiben.[19][20][21][22] Die durchgestrichene Schreibweise erfolgt mit Bezug auf den Philosophen Jacques Derrida, der in seiner Grammatologie das Durchstreichen eines Begriffs vorschlägt, um eine gleichzeitige Verwendung und Ablehnung zu ermöglichen, wobei die geschichtlichen und semantischen Bedeutungszuschreibungen sichtbar und in Erinnerung bleiben, ihre Geltung jedoch verneint wird.[22] Für die durchgestrichene Schreibweise anstatt des in Analogie zu N-Wort gebildeten Begriffs Z-Wort wurde plädiert, da der Anfangsbuchstabe an den nationalsozialistischen Sprachduktus erinnere.[19]
Bei dem Wort Zigeuner handelt es sich um eine Fremdbezeichnung, die in ähnlicher Form in vielen europäischen Sprachen vorkommt. Einer der ältesten lateinischen Belege in Mitteleuropa lautet secanus als Latinisierung des Namens einer Gruppe, die 1417 in Lübeck Aufsehen erregte (Sec(h)anos se nuncupantes)[9] und sich angeblich selbst als Secaner bezeichnete; dies ist – in latinisierter Form – aus dem Zeitraum ihrer Einwanderung der einzige Beleg für eine angebliche Selbstbezeichnung als Zigeuner.[10] Die Form „Zigeuner“ ist dann erstmals 1418 in München nachweisbar.[23]
Auch in der jüngeren Literatur findet sich die Hypothese einer Herkunft von der mittelgriechischen Bezeichnung athingany, das die Anhänger einer gnostischen Sekte bezeichnete, die vor allem in Phrygien, einer Landschaft im westlichen Anatolien, beheimatet gewesen und auf die Bevölkerungsgruppe der Roma übernommen worden sei.[24] Laut einer Legende in der Lebensbeschreibung des „heiligen Georgios von Athos“ vom Beginn des 12. Jahrhunderts hätten „Samaritaner, Abkömmlinge des Simon Magus, welche Adsinganer genannt werden“, 1054 die Jagdgehege des byzantinischen Kaisers durch einen Abwehrzauber von eingedrungenen wilden Tieren befreit.[25]
Die Bezeichnung Athinganoi im Sinne des späteren „Zigeuner“ tritt seit dem 12. oder 13. Jahrhundert auf, zuerst mit noch unsicherem Bezug bei Theodoros Balsamon († nach 1195) für Schlangenbeschwörer und Wahrsager,[26] und dann mit klarem Bezug (o toùs kaì Aìgyptíous kaì Athingánous) bei Gregorios II. Kyprios (1283–1289 Patriarch von Konstantinopel).[27] Ob auch die Belege des 11. und 12. Jahrhunderts schon die Anwesenheit von Roma in Byzanz bezeugen oder aber auf Wahrsager anderer Provenienz zu beziehen sind, wird dabei in der Forschung diskutiert.
Alternativ wurden auch Herleitungen von persisch Ciganch (Musiker, Tänzer), von persisch asinkan (Schmiede) oder von alttürkisch čïgāń „arm, mittellos“[28] vorgeschlagen.
Obwohl die überwiegende Mehrheit der Roma seit vielen Generationen, in Südosteuropa seit Jahrhunderten und in Mitteleuropa spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ortsfest lebt, gilt Nomadentum weiterhin mehrheitlich als „zigeunerische Lebensform“. Abweichende Lebensformen einer Minderheit innerhalb der Roma werden in dieser Vorstellung nicht nur fälschlich auf die Gruppe insgesamt verallgemeinert, sondern ihr zudem als biologische oder kulturelle Konstante zugeschrieben.[29]
Tatsächlich fanden und finden sich örtlich nicht gebundene Erwerbs- und Lebensweisen quer durch die Jahrhunderte in den unterschiedlichsten Varianten weltweit und innerhalb vieler ansonsten sesshafter Ethnien.[30] Ungeachtet ethnischer, kultureller und sozialer Unterschiedlichkeiten dieser Gruppen wird gelegentlich „ziganische Völker“ als ein Oberbegriff zu „Zigeuner“ verwendet, wobei zugleich Roma kollektiv auf eine mobile minderheitliche Teilgruppe reduziert werden.
Die Literatur spricht vor diesem Hintergrund von einem „doppelten Zigeunerbegriff“. Er ist uneindeutig und widersprüchlich. Mit „Roma“ lässt sich „Zigeuner“ nicht übersetzen, denn die soziografische Begriffsbestimmung schließt diejenigen Roma aus, die die zugeschriebene Lebensweise real nicht praktizieren, während die ethnische Begriffsbestimmung jene Menschen aus dem „Zigeunertum“ ausschließt, die als Nicht-Roma die zugeschriebene „zigeunerische“ Lebensweise ebenfalls aufweisen.
Es wäre auch deshalb problematisch, die Eigenbezeichnungen nur als eine Art wortwörtlicher Übersetzung der Fremdbezeichnungen zu verstehen und einzusetzen, weil so die der Kategorie „Zigeuner“ implementierten Inhalte in einem neuen Gewand fortlebten.[31]
Ein weiterer gesamteuropäischer Gruppenname wird von Ägypten als Herkunftsland hergeleitet. Er wird überwiegend als Ableitung aus dem Ortsnamen Gyp(p)e, Berg auf dem Peloponnes, gedeutet, der seit den 1480er Jahren in mehreren Reiseberichten bezeugt ist. Es habe demnach dort vor der Stadt Modon (heute: Methoni) eine Siedlung namens „klein Egypten“ gegeben. Sie sei von „Egyptianern genant Heyden“ bzw. von „Suyginern“ bewohnt gewesen.[32]
In der ersten Periode ihres Auftretens in Europa bezogen Romagruppen sich auf diesen Herkunftsmythos und bezeichneten sich als ägyptische Pilger. Als solche erhielten sie Almosen und Schutzbriefe.[33] „Ägypter“ wurde zu einer europaweiten mehrheitsgesellschaftlichen Bezeichnung: so spanisch Gitano, französisch Gitan, englisch Gypsy, griechisch γύφτος (gyftos), serbisch cipside, türkisch çingene.[34] Der Artikel „Ziegeuner“ in Johann Heinrich Zedlers Universallexicon – der einflussreichsten deutschsprachigen Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts – bezeichnet „Egyptier“ als den am häufigsten („vornehmlich“) im Deutschen auftretenden Gruppennamen.[3]
Sowohl in Norddeutschland als auch in skandinavischen Sprachen und in dem früheren rumänischen Sprachraum findet sich die Bezeichnung Tatern oder tattare (rum. tărtari oder tătăraşi), die eigentlich die Tataren meint. Im Englischen hat das ursprüngliche Ethnonym tatters seinen originären Sinngehalt völlig verloren und ist heute eines der Worte für „Lumpen“.
Auch der Begriff Heidenen oder Heider (also „Heiden“) wurde historisch verwendet.[35] In Theodor Storms Werk Der Schimmelreiter wurden „Zigeuner“, die von den einheimischen Nordfriesen geopfert werden sollten, als Slowaken bezeichnet.
Französische und spanische mehrheitsgesellschaftliche Bezeichnungen sind auch bohémiens bzw. bohemios („Böhmen, Böhmische“). Ihre Bedeutung hat sich auf die Angehörigen eines Künstlertums, die bohème, ausgeweitet, das als abseits bürgerlicher Ordnungsvorstellungen lebend imaginiert wird.
Angesichts der Diskreditierung der von den Ordnungsinstanzen geübten Kategorisierungs- und Erfassungspraxis durch den Nationalsozialismus gingen die bundesrepublikanischen Polizeibehörden zu unauffällig wirkenden verhüllenden Ersatzbezeichnungen für „Zigeuner“ über. So zu „Landfahrer“: Der 1899 in München eingerichtete zentrale Zigeunernachrichtendienst („Zigeunerzentrale“, im Nationalsozialismus „Zigeunerpolizeileitstelle“) etwa wurde über den Nationalsozialismus hinaus aufrechterhalten, nun jedoch unter dem neuen Namen „Landfahrerstelle“.[36][37] Eine weitere Tarnbezeichnung ist „mobile ethnische Minderheit“. Sie dient dazu, das der Polizei auferlegte Verbot zu umgehen, die Zugehörigkeit von Verdächtigen zur Minderheit in öffentlichen Erklärungen bekanntzugeben.[38]
Entgegen einer verbreiteten Ansicht[39] sind die Eigenbezeichnungen im deutschsprachigen Raum seit Langem auch in der Mehrheitsgesellschaft bekannt, ohne jedoch bis in die 1980er Jahre hinein je in eine nennenswerte Konkurrenz zu Zigeuner getreten zu sein. Sie haben stets eine unbedeutende Randposition gehabt. 1793 stellte ein Autor fest, es sei „die Frage, wie nennt ein Volk sich selbst, bei historisch-etymologischen Untersuchungen wichtig. Wie also nennen sich die Zigeuner? Mit Recht antwortet man: Roma oder Romma in der mehreren Zahl, Rom in der einfachen.“[40] Auch „Sinte“ ist ihm geläufig. „Romni“ ist im regionalen Dialekt belegt.[41] Der scharf antisemitische und antiziganistische hessische Heimatschriftsteller Rudolf Oeser verwendete die Eigenbezeichnungen.[42] Gustav Freytag erklärte, die Zigeuner nennten „sich noch heute Sinte“ und mit der „romany tschib“ verfüge „der Rom, wie er sich selbst nennt“ über eine eigene Sprache.[43]
Zumindest im französischsprachigen Raum hatten demgegenüber die Subjektbegriffe auch vor dem Paradigmenwechsel der 1980er Jahre einen festen Platz wenigstens in der fachlichen und in der Heimatliteratur.[44]
Die Semantik von Zigeuner bewegte sich lange zwischen einem kulturalistisch oder biologisch bestimmten völkischen und einem soziografischen Inhalt. Im zweiten Fall konnten auch Nicht-Roma gemeint sein: So wurde seit dem 19. Jahrhundert gelegentlich das Etikett „weiße Zigeuner“ auf die aus mehrheitsgesellschaftlicher Sicht „nach Zigeunerart lebenden Landfahrer“ und seit etwa 1900 das der „Kulturzigeuner“ auf mehrheitsgesellschaftliche nonkonformistische Künstler („Bohemiens“)[45] angewendet. Die soziografische Zuschreibung beinhaltete gleichwohl nicht anders als die ethnische die Typisierung der Betroffenen als „gemeinschaftsschädlich“ und als „entartet“.
Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde der Begriff systematisch „wissenschaftlich“ rassifiziert und im weiteren Verlauf ein Kategoriensystem von „stammechten Zigeunern“, „Zigeunermischlingen“ nach unterschiedlichen Graden der „Blutsmischung“ und „Nichtzigeunern“ nach dem Konzept der Nürnberger Gesetze konstruiert. Zigeuner war damit spätestens seit den ausgehenden 1930er Jahren eine von der Rassenforschung und den polizeilichen und sonstigen Verfolgungseinrichtungen ausschließlich ethnisch-biologisch gemeinte Kategorisierung, auf der eine Vielzahl von Ausschließungsvorschriften bis hin zu den Deportationslisten für Auschwitz basierten. Deshalb gilt der Begriff heute in weiten Teilen des gesellschaftlichen Diskurses als kontaminiert. Vor allem die Angehörigen der Minderheit selbst verstehen das Wort gleichsam als Überschrift über eine lange Verfolgungsgeschichte mit dem schließlichen Genozid (Porajmos).[46] Das Engelwerk, eine geistliche Bewegung, schrieb in seinem 1961 erschienenen offiziellen Handbuch „Zigeunern“ zu, für Dämonen besonders empfänglich zu sein.[47][48]
Wenn die Eigenbezeichnungen an die Stelle von Zigeuner traten, so geht dies vor allem auf die Anstrengungen der sich seit den 1970er Jahren organisierenden Roma und Jenischen und ihrer mehrheitsgesellschaftlichen Unterstützer zurück. Die Bürgerrechtsbewegung konfrontierte die Mehrheitsgesellschaft mit den für sie ungewohnten Begriffen, um die gewohnte Sichtweise auf die Minderheit zu verändern. Die Eigenbezeichnungen symbolisieren den Bruch mit der überkommenen mehrheitsgesellschaftlichen Perspektive und für die Anerkennung der Minderheit als einer eigenständigen und sich selbst definierenden Größe. Sie fordern eine nichtdiskriminierende Blickweise von der Mehrheitsgesellschaft ein.[49]
Bis etwa 1980 wird in Text und Titel deutschsprachiger Publikationen zum Thema fast ausnahmslos das Wort „Zigeuner“ benutzt. Exemplarisch für die einsetzende Abwendung von der Fremdbezeichnung und für die enge Verbindung von Bürgerrechtsbewegung und Benennungsdiskurs sind das von Tilman Zülch von der Gesellschaft für bedrohte Völker im Jahr 1979 herausgegebene Buch In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt – zur Situation der Roma (Zigeuner) in Europa und ein 1980 von der Friedrich-Naumann-Stiftung Bremen herausgegebener Tagungsband Sinti in der Bundesrepublik – zur Rechtlosigkeit verurteilt?
Bereits 1978 stellte Vincent Rose, Vorsitzender des damaligen Verbandes der Cinti Deutschlands, anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes fest, dass es „einzig richtig sei, ihn ‚Cinto‘ zu nennen“, da „Zigeuner“ diskriminierend sei.[50] Die in den 1980er Jahren begründeten Interessenvertretungen wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, die Rom und Cinti Union (Hamburg) und die Roma-Union (Frankfurt am Main) oder der jüngere Verband Amaro Drom (Berlin) lehnen die Fremdbezeichnung als rassistisch ab und verweisen dabei auf deren Geschichte.[51] So auch der in Köln ansässige, aber weit darüber hinaus anerkannte von Nichtroma getragene Rom e. V.[52]
Die Sinti Allianz Deutschland – ein Zusammenschluss von Familien aus den Teilgruppen der Sinti und der Lovara – akzeptiert die Bezeichnung, obwohl sie sie in ihrem Eigennamen vermeidet. Sie bemisst ihre Verwendbarkeit nach der privaten Sprecherabsicht. Die Mitteilung der Gruppennamen wird von manchen traditionalistischen Sinti – hier ordnet sich die Sinti-Allianz ein – auch als Verstoß gegen das Verbot betrachtet, mit und vor Nichtroma auf Romanes zu kommunizieren, so dass Sprecher es dann vorziehen, auf „Zigeuner“ auszuweichen. Zwischenzeitlich revidierte die Sinti-Allianz ihre Selbstbeschreibung und sprach von sich statt als von einem „Zusammenschluss deutscher Zigeuner“ nunmehr ausschließlich von „Sinti“, „Lovara“, „Roma“ (2013).[53] Eine erneute Revision machte das rückgängig. 2020 heißt es nun wieder, „eine Zensur oder Ächtung des Begriffs Zigeuner, durch wen auch immer, sollte und darf es nicht geben“.[54]
Zur alltäglichen Sprachpraxis stellte eine Ende der 1970er /Anfang der 1980er Jahre entstandene Untersuchung zum rheinischen Schaustellermilieu, in dem vor allem Sinti traditionell eine gewichtige Rolle spielen, fest, dass „von den Zigeunern selbst … das Wort kaum akzeptiert“ werde. „Vielmehr bezeichnen sich die … Vaganten selbst je nach Sippenzugehörigkeit als ròm ‚Mann, Zigeunermensch‘ … oder als sinte ‚Zigeuner‘“.[55]
Im Rahmen einer Untersuchung zur aktuellen Bildungssituation deutscher Roma, die zwischen 2007 und 2011 durchgeführt wurde und im Umfeld des Zentralrats entstand, wurde auch nach dem Gebrauch der Gruppenbezeichnungen durch Angehörige der Minderheit gefragt. Thematisiert wurden gemäß dem Selbstverständnis des Zentralrats allein die beiden Eigenbezeichnungen Roma und Sinti, ferner die Fremdbezeichnung Zigeuner. Nicht ganz 95 % der Befragten verwendeten die Eigenbezeichnungen, für 57,5 % war der Fremdbegriff „immer ein Problem“, 14,9 % hatten „kein Problem mit der Verwendung des Zigeuner-Begriffs durch andere“ und weitere 25,7 % fanden, „dass es darauf ankommt, ob dieser Begriff abwertend oder gar als Schimpfwort benutzt wird“. 6,9 % wandten den Zigeunerterminus auf sich selbst an, z. T. neben Roma oder Sinti.[56] Der Kölner Musiker Markus Reinhardt, Großneffe von Django Reinhardt, bezeichnet sich selbst als „deutschen Zigeuner“, und die Begriffe „Sinti und Roma“ hält er für politisch überkorrekt.[57] „Es gibt viel mehr Stämme als nur die Sinti und die Roma – wo bleiben die Kalderasch, die Manouche? Zigeuner ist für mich ein Überbegriff für alle.“[58]
Die von Jenischen dominierte und 1975 gegründete Schweizer Radgenossenschaft der Landstraße verwendete in den ersten beiden Jahrzehnten ihrer Aktivität „Zigeuner“ als Selbstbezeichnung für die Angehörigen „ein[er] gemischte[n] Gemeinschaft von Sinti, Romani und Jenischen“, diese von den „übrigen Fahrenden in der Schweiz, Schausteller[n], Jahrmarkthändler[n], Chilbi[= Kirmes/Kirtag]- und Zirkusleute[n]“ abgrenzend.[59] 1993 verlangte eine von der Radgenossenschaft initiierte Petition, „die schweizerische Zigeunerische Minderheit offiziell zu [sic] anerkennen“.[60] Dies wenige Jahre nach der Aufdeckung und Beendigung der Aktion Kinder der Landstrasse, welche diese Gruppe von Menschen Vaganten und Asoziale genannt und der moralischen Idiotie beschuldigt hatte.[61]
Seit etwa der Mitte der 1990er Jahre verzichtet die Radgenossenschaft zunehmend sowohl auf das Wort „Zigeuner“ wie auch auf den Ausdruck „Fahrende“ und verlangt die Benennung und Anerkennung gemäß der Selbstbezeichnung „Jenische“. Bereits seit der Mitte der 1980er Jahre zieht sie eine ethnisch definierte Trennlinie zu den Gruppen der Roma und erklärt die jenische Bevölkerungsgruppe zu einem separaten „jenischen Volk“,[62] das als nationale Minderheit 2016 unter der Bezeichnung Jenische von den staatlichen Behörden anerkannt worden ist. Weiterhin aktiv mit dem Label Zigeuner tritt das Fahrende Zigeuner-Kultur-Zentrum, eine jenische Genossenschaft, mit dem Kulturprogramm Zigeuner-Kultur-Tage auf.[63] Verwendet wird der Ausdruck als Selbstbezeichnung im Sachbuch Zigeunerhäuptling von Willi Wottreng über den jenischen Präsidenten der Radgenossenschaft, das von der Radgenossenschaft zur Lektüre empfohlen wird,[64] und in der Familiengeschichte mit dem Titel Zigeuner von Isabella Huser.[65]
Nicht zuletzt durch die Initiative des „Zentralrates Deutscher Sinti und Roma“ besteht heute im gesellschaftlich-politischen Diskurs ein Bewusstsein für die negative Bedeutung des Begriffes „Zigeuner“ bis hin zu Diskussionen über die Verwendung von Ausdrücken wie „Zigeunersauce“. Andererseits findet der Begriff immer noch Verwendung, nicht nur im negativen Sinne. So gibt es eine Reihe von Sinti, die daran als positive Selbstbezeichnung festhalten und ihr Selbstverständnis als „stolze Zigeuner“ betonen. Erst in den 1980er Jahren wurde – vor allem durch die entsprechenden Aktivitäten des „Zentralrates Deutscher Sinti und Roma“ – der Begriff „Zigeuner“ durch „Roma“ und „Sinti“ ersetzt. So stieß zum Beispiel auch die frühere Bezeichnung „Katholische Zigeuner- und Nomadenseelsorge in der Bundesrepublik und in West-Berlin“ im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz auf Kritik. An dieser Bezeichnung hielt der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, der sich an der weltkirchlichen Bezeichnung orientierte, trotz Kritik der Öffentlichkeit sowie der Dienststelle selbst, lange fest. Erst unter Reinhard Kardinal Marx wurde 2014 entsprechend der spezifischen deutschen Situation und den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragend, die Dienststelle in die „Katholische Seelsorge für Roma, Sinti und verwandte Gruppen“ umbenannt, deren besonderes Anliegen heute ist, bei öffentlichen Veranstaltungen auf die negative Konnotation des Begriffes „Zigeuner“ hinzuweisen.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma kritisierte die Weiterverwendung der Bezeichnung wie die pauschale Darstellung der Roma als „Nomaden“. „Zigeuner“ schüre Vorurteile, weil es eine untrennbar mit rassistischen Zuschreibungen verknüpfe und von Vorurteilen überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft sei, die von den allermeisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend empfunden werde. „Nomaden“ spreche den Menschen ihre Heimatrechte ab. Die Zuschreibung suggeriere, „Zigeuner“ bildeten eine archaische „Stammesgesellschaft“, die in die moderne Umgebungsgesellschaft nicht integrierbar sei. Die Angehörigen der Minderheit seien aber realer Teil der Gesellschaft und nähmen als solche an ihrer Entwicklung teil.[66]
2010 beendete die Deutsche Bischofskonferenz ihre bisherige Praxis und änderte den Namen ihrer Einrichtung in „Katholische Seelsorge für Roma, Sinti und verwandte Gruppen“. Der bisherige Name stehe nicht mehr im Einklang mit dem üblichen Sprachgebrauch und werde von Betroffenen als missverständlich oder diskriminierend empfunden.[67]
Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für diesen Bereich waren:[68]
Hingegen bezeichnete die Katholische Pfadfinderschaft Europas den Begriff 2018 in ihrer Fördererzeitschrift Pfadfinder Mariens als „angeblich diskriminierend“.[69][70] Der Begriff „Zigeuner“ wurde noch 1998 von der Evangelische Informationsstelle Kirchen – Sekten – Religionen verwendet, 2001 von der Abendzeitung und 2009 von Spiegel Online.[71][72][73]
Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch tritt die Bezeichnung mitunter noch auf, wird aber regelmäßig in Anführungszeichen gesetzt oder doch mindestens mit dem Hinweis versehen, als Quellenbegriff, also nicht-affirmativ zitierend, eingesetzt zu werden. Unterschieden wird bei reflektiertem Gebrauch im Fachdiskurs zwischen dem „Begriff ‚Zigeuner‘ als Objekt-Begriff aus der Perspektive der Verfolgungsinstanzen“ und dem „Subjekt-Begriff der Betroffenen“ (2008).[74] Das Etikett „Zigeuner“ enthalte „ganz unabhängig von den Absichten eines individuellen Sprechers mindestens für den Adressaten eine deutliche Abwertung“. „Abwertung“ sei „der wesentliche Inhalt der Geschichte dieses Begriffs“. Die abwertende Semantik lasse sich nicht aus der Bezeichnung lösen, sie konserviere und tradiere sie (2007).[75]
Dem steht eine auch außerhalb des Wissenschaftsdiskurses (siehe oben) vertretene Auffassung gegenüber, die an der Fremdbezeichnung festhält und in ihren Kritikern „Zigeunerfans“, „Zigeunerfreunde“ oder „unrealistische Gutmenschen“ sieht. So noch 2004 Hermann Arnold, der im Jahr darauf verstorbene Erbhygieniker und „Zigeunerexperte“ in der Nachfolge des nationalsozialistischen Zigeunerforschers Robert Ritter.[76] Mit anderer Begründung äußerte sich 2005 der Zeithistoriker Eberhard Jäckel: Abwertend sei „Zigeuner“ – unbeachtlich von Wortgeschichte und semantischem Kontext – dann nicht, wenn es gut gemeint sei.[77]
Eine auffällige Ausnahme innerhalb des Fachdiskurses bildete bis 2012 die Leipziger Schule der Tsiganologie. Ihr bekanntester Sprecher, der Ethnologe Bernhard Streck, trug vor, das überkommene Gruppenetikett sei ein „altehrwürdiger Begriff“. Die von ihm vertretene „seriöse Tsiganologie“ habe daher den von ihm als „Umbenennung“ beschriebenen Sprachwandel „nicht mitgemacht.“[78] Gleichzeitig legte Streck Wert darauf, sich als „Tsiganologe“ statt als „Zigeunerforscher“ oder „Zigeunerkundler“ bezeichnen zu lassen. Diese Bezeichnungen seien durch die NS-Rassenforschung diskreditiert. Streck und seine Schule vertraten ein dezidiert soziografisches ethnienübergreifendes Zigeunerkonzept, das an den Konstrukten „Dissidenz“ und „Nomadismus“ ausgerichtet ist, sich der Definition verweigert[79] und als einzige Gemeinsamkeit von gleichermaßen als „Zigeuner“ bezeichneten
2012 stellte der Kreis um Streck seine Tätigkeit ein.[82] Seither wird an deutschen Hochschulen keine „Tsiganologie“ mehr unter diesem Namen betrieben.
In den deutschsprachigen Medien befindet sich der Begriff inzwischen in einer zunehmend minimalisierten Außenseiterposition. Exemplarisch ausgezählt ergab sich in der Zeit und der Tageszeitung bereits für den Zeitabschnitt von 1995/96 bis 2003:
Die Zählung in Die Zeit von 2003 ergab ferner, dass Zigeuner abgesehen von „zitierenden Verwendungen in Reflexionen über das Wort ‚Zigeuner‘“ und abgesehen von der historiografischen Zitierung des Quellenbegriffs überhaupt nur noch in romantisierenden, „positiven“ Verwendungsweisen (in Literatur und Musik) oder im übertragenen Sinn („Leben wie ein Zigeuner“) Verwendung fand.[83]
In den Jahren 1995 bis 2002 reichte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegen insgesamt 381 Zeitungsartikel Beschwerden beim Deutschen Presserat ein, weil allgemein Verdächtigte als „Zigeuner“, „Sinti/Roma“, „Landfahrer“ oder mit anderen synonym verwendeten Markierungen wie „MEM“ (für „mobile ethnische Minderheit“) belegt worden waren. 2003 waren es 51 und 2004 52 Zeitungsartikel.[84] 2007 erreichten den Presserat 39 Beschwerden.[85] Bei einem erheblichen Anteil der Zuschreibungen handelte es sich laut Presserat um in ein Medium von anderen Sprechern übernommene nichtaffirmativ gemeinte Zitierungen.[86] Wie oft dabei von „Zigeunern“ gesprochen wurde, ist nicht bekannt. Jährlich reicht der Zentralrat am 7. Dezember[87] beim Presserat Beschwerden wegen diskriminierender Darstellungen von Roma ein. 2009 hieß es, sie hätten in den letzten Jahren weiter abgenommen. Von der unerwünschten Verwendung von „Zigeuner“ war nicht mehr die Rede.[88]
Inzwischen (Stand 2013) ist die affirmative Verwendung von „Zigeuner“ in der Sprache der als seriös geltenden deutschen Medien nicht mehr nachweisbar. Für die Zeitung Die Welt ist „Zigeuner“ eine „frühere Bezeichnung“ (2010).[89] „Dieses Wort, ‚Zigeuner‘“, kommentierte der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht für die FAZ, „sollte man (wie seine Äquivalente in anderen Sprachen, ‚gypsy‘ zum Beispiel oder ‚gitano‘) aus guten Gründen vermeiden, soviel steht fest – und soviel an Respekt hat sich inzwischen auch eingespielt.“[90]
Der mitunter vorgetragenen Befürchtung, „Zigeuner“ scheine sich wieder einzubürgern,[91] widersprach 2013 der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, entschieden. Die Eigenbezeichnungen würden durchweg respektiert, so wie sein Verband nur noch ganz wenige Fälle antiziganistischer Berichterstattung dem Presserat melden müsse. Die gelegentliche „provokative“ Verwendung der Begrifflichkeit wie zum Beispiel 2013 in einem Buchtitel des Autors Rolf Bauerdick lasse sich nicht verallgemeinern.[92]
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (2006) und die Einrichtung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2006) haben Aufmerksamkeit und Sensibilität gerade für alltägliche Formen der Diskriminierung heraufsetzen können.[93] Rechtliche Regelungen ermutigen die Betroffenen, dagegen aufzutreten. So erstattete der Verband der Bad Hersfelder Sinti und Roma im Oktober 2009 Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Beleidigung gegen das waldhessische Anzeigenblatt „Klartext“. Der Deutsche Presserat unterstützte ihn mit der Feststellung, „Klartext“ verstoße gegen den Pressekodex. Für den Verband erklärte der studierte Theologe Samson Lind, „wir sind keine Zigeuner, sondern Sinti und Roma“.[94]
Eine ähnliche Funktion wie das AGG in Deutschland hat beim Umgang mit der Bezeichnung „Zigeuner“ und den damit verknüpften Inhalten in Österreich das mehrfach novellierte und EU-Richtlinien angepasste Bundes-Gleichbehandlungsgesetz (B-GBG) von 1993.[95] Ein Beispiel für die Anwendung des Gesetzes ist die Entscheidung der Gleichbehandlungskommission im Bundeskanzleramt 2005 gegen ein Schild „Kein Platz für Zigeuner“ eines privaten Campingplatzbetreibers. Sie kam zu dem Schluss, dass das Schild „sowohl diskriminierend als auch belästigend“ sei und dass „der Begriff 'Zigeuner' diskriminierend im Sinne des Gleichbehandlungsgesetzes“ sei.[96]
Auch der § 283 des österreichischen Strafgesetzbuchs zieht eine Grenze gegen Diskriminierungen. Wer öffentlich gegen Angehörige von Gruppen oder insgesamt gegen Gruppen „hetzt oder sie in einer die Menschenwürde verletzenden Weise beschimpft und dadurch verächtlich zu machen sucht“, die u. a. „nach den Kriterien der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, … der Staatsangehörigkeit, der Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft“ definiert werden, macht sich strafbar.[97]
Insgesamt ist „Zigeuner“ im öffentlichen Sprachgebrauch, wie Justiz, staatliche und nichtstaatliche Verwaltung, die großen gesellschaftlichen Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen, die nationale Politik oder die Verlautbarungen der internationalen Institutionen ihn repräsentieren, heute nicht mehr nachweisbar (Stand: 2010).[98] Exemplarisch ist eine jüngere Aussage der Europäischen Kommission, nach der es den Gepflogenheiten bei EU-Strategiepapieren und Diskussionen entspreche, den Ausdruck „Roma“ selbst auf Fälle anzuwenden, in denen es Roma sind, die von „Zigeunern“ (bzw. mit deren nichtdeutschen Pendants von „Gypsies“, „Gitanos“, „Gitans“ usw.) sprechen.[99]
Die Abwendung von „Zigeuner“ im politischen und medialen Raum hat eine Ausnahme: Organisationen und Medien am rechten Rand bevorzugen nach wie vor „Zigeuner“ und sehen den Begriff als die politisch korrekte Bezeichnung.[100] Dabei werden der Minderheit die traditionellen angeblichen Hauptmerkmale „Delinquenz“ und „Nomadisieren“ zugeschrieben. Angewendet wird „Zigeuner“ vor allem auf südosteuropäische Roma, die abzuschieben seien. Dazu gehören auch Zusammensetzungen mit herabsetzender Konnotation wie „Zigeunerlobby“, „Zigeunersippe“ oder „Zigeunerhäuptling“. „Die Jahrhunderte alte Bezeichnung ‚Zigeuner‘“ sei nicht diskriminierend, so für Österreich auch unter Einschluss rechtspopulistischer Medien.[101]
Die Veränderungen der letzten Jahrzehnte sind jedoch selbst hier nicht ohne Auswirkung geblieben. Es ist durchaus gelegentlich auch in rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Medien von „Roma“ die Rede oder es wird „Zigeuner“ – „politische Korrektheit vortäuschend“ (so Der Standard zu einem Aufmacher von Die Weltwoche) – in Anführungszeichen gesetzt.[102]
In ganz Europa befinden sich die Fremdbezeichnungen auf dem Rückzug. Gründe dafür sind
Die Entwicklung verläuft indessen nicht gleichförmig, sondern entsprechend den unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. In Skandinavien sind die Fremdbezeichnungen inzwischen historisch.[103] In Rumänien bewirkte Druck von außen – durch die Gremien der EU – zwar eine Regierungszusage, die Fremdbezeichnung als diskriminierend aus dem offiziellen Sprachgebrauch zu streichen und künftig von „Roma“ zu sprechen, dies stieß aber auf erheblichen gesellschaftlichen Widerspruch. Rumänische Nationalisten eröffneten 2009 eine Kampagne für ein Gesetz zur Wiedereinführung von țigani und zur Beseitigung von roma.[104]
Vom öffentlichen ist der private Sprachgebrauch zu unterscheiden. Zwar gibt es keine Untersuchungen zum älteren und zum heutigen Stand von „Zigeuner“ in der privaten alltäglichen Kommunikation innerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Es darf aber davon ausgegangen werden, dass der Begriff mit den ihm anhängenden Konnotationen nach wie vor von Bedeutung ist:
Im Zuge der Antirassismusdebatte nach dem Tod des Schwarzen George Floyd erklärten im August 2020 zwei Lebensmittelhersteller in Österreich, Markennamen zu ändern: Der Knabbergebäckhersteller Kelly’s gab an, die nach 6-Speichen-Rädern geformten „Zigeunerräder“ in „Zirkusräder“ umbenennen zu wollen, ohne deren Geschmack zu ändern. Knorr (Mutterkonzern: Unilever) benannte die „Zigeunersauce“ neu „Paprikasauce Ungarische Art“.[111]
International sind die Fremdbezeichnungen ebenfalls auf dem Rückzug, so in den Niederlanden (niederländisch zigeuner), im englischen Sprachraum (englisch gypsy, gipsy), Italien (italienisch gitano, zingaro), im Französischen (französisch gitan, tsigane), in Spanien (spanisch gitano) oder in Portugal (portugiesisch cigano). Das Wort „gipsy“ oder „gypsy“ stammt vom mittelenglischen „gipcyan“, einer Abkürzung von „Egyptian“, eines ihrer angeblichen Herkunftsländer. Auch die neulateinischen Sprachen leiten es vom Herkunftshinweis „aus Ägypten“ (lateinisch egiptano, daraus auch egipciano) ab, so auch in Griechenland (griechisch Γύφτος, Gýftos oder griechisch τσιγγάνος, tsingános). Andere Sprachen benutzen „cigan“ oder ähnliche Formen (ungarisch czigány, tschechisch cigánu, rumänisch țigan).
An die Stelle dieser Bezeichnungen treten je nach Kontext zunehmend Eigenbezeichnungen wie Roma, Sinti, Calé und Manusch.