Alfred Kerr (* 25. Dezember 1867 in Breslau; † 12. Oktober 1948 in Hamburg) war ein deutscher Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist. Sein Geburtsname war Alfred Kempner, er publizierte aber von Anfang an unter dem Namen Kerr, um nicht mit der (mit ihm nicht verwandten) Dichterin Friederike Kempner in Verbindung gebracht zu werden.[1][2][3] 1909 wurde sein Name gemäß Verfügung des Regierungspräsidenten zu Potsdam offiziell in Alfred Kerr geändert.[4]
Kerr war einer der einflussreichsten deutschen Kritiker in der Zeit vom Naturalismus bis 1933. Er veröffentlichte unter anderem in den Zeitungen und Zeitschriften Breslauer Zeitung, Der Tag, Neue Rundschau, Pan und Berliner Tageblatt. Kerr sah in der Kritik eine eigene Kunstform und schuf dafür einen treffenden, geistreich-ironischen und oft saloppen Stil.
Alfred Kempners Eltern waren der jüdische Weinhändler und Fabrikbesitzer Emanuel Kempner aus Vielin (1826–1900, Sohn des Weinhändlers Joachim Kempner und der Dorothea, geb. Sternberg) und Helene, geb. Calé (1835–1911). Alfred Kempner hatte eine Schwester, Anna Kempner. Seine Kindheit verbrachte er in Breslau.
Alfred Kempner begann in Breslau ein Studium der Geschichte, Philosophie und Germanistik, das er 1887 in Berlin fortsetzte. 1894 schloss er das Studium mit der Promotion zum Dr. phil. in Halle ab. 1898 wurde seine Dissertation über die Jugenddichtung Clemens Brentanos unter dem Titel Godwi. Ein Kapitel deutscher Romantik veröffentlicht.
Ab 1891, also schon während seines Studiums, schrieb er unter dem Namen Alfred Kerr Beiträge, meist Theaterkritiken, für das Magazin für Literatur, die Vossische Zeitung, die Neue Rundschau, ab 1895 für die Breslauer Zeitung („Berliner Briefe“) und ab 1897 für die Königsberger Allgemeine Zeitung.
Von 1900 bis 1919 arbeitete er als Theaterkritiker für die Berliner Zeitung Der Tag. Ab 1911 war Kerr zunächst Mit-, von 1912 bis 1915 alleiniger Herausgeber der 1910 von dem Verleger Paul Cassirer wiedergegründeten Kunst- und Literaturzeitschrift Pan. Hier veröffentlichte er auch zwei „unzüchtige“ Gedichte Klabunds. 1911 publizierte Kerr im Pan nach der Beschlagnahme eines Heftes einen Privatbrief des Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow an Cassirers Gattin Tilla Durieux und machte aus einer zivilen eine politische Angelegenheit, wobei er erstmals mit Karl Kraus aneinandergeriet.[5]
Zum 50. Todestag von Heinrich Heine initiierte er 1906 ein Denkmal für den Dichter, das von 1926 bis 1933 im Hamburger Stadtpark stand.[6]
Kerr förderte Robert Musil, Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann. Jahrzehntelang war er mit Walther Rathenau befreundet. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs schrieb er für das Sammelpseudonym „Gottlieb“ einige militaristische Gedichte gegen die kriegführenden Mächte der Entente, die in August Scherls Zeitung Der Tag veröffentlicht wurden.[7] Im Kriegsjahr 1917 erschien der Gedichtband Die Harfe, unter dem Titel Die Welt im Drama wurden in fünf Bänden 1917 seine gesammelten Kritiken ediert.
Im Juli 1918 heiratete Alfred Kerr Ingeborg Thormählen (* 1897 in Hamburg-Bahrenfeld), die bereits im Oktober 1918 an der Spanischen Grippe verstarb. 1920 heiratete er Julia Weismann (1898–1965). Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, Michael Kerr (1921–2002), der in England der erste nicht in England geborene Richter am High Court wurde, und die Schriftstellerin und Künstlerin Judith Kerr (1923–2019).
Von 1919 bis 1933 schrieb Kerr für das Berliner Tageblatt und für die Frankfurter Zeitung. 1920 erschienen zwei Bände seiner Werke unter dem Titel Die Welt im Licht, weitere Bände folgten in den Jahren von 1923 bis 1925 (New York und London, O Spanien!, Yankee-Land). 1926 wurde der Gedichtband Caprichos veröffentlicht. 1928 berichtete Kerr in dem von Joseph Chapiro herausgegebenen Band Für Alfred Kerr. Ein Buch der Freundschaft von seiner Kindheit und Jugend.
1925 solidarisierte sich Kerr wie auch Bertolt Brecht, Max Brod, Kurt Pinthus und Alfred Wolfenstein mit Johannes R. Becher, dessen Gedichtband Roter Marsch – Der Leichnam auf dem Thron – Die Bombenflieger beschlagnahmt worden und für den Becher vorübergehend in Haft gekommen war.[8]
1928 kam es erneut zu einem Konflikt mit Karl Kraus, der dem inzwischen demokratisch und pazifistisch engagierten Kerr seine Kriegsgedichte vorhielt, darunter das 1916 unter dem Sammelpseudonym „Gottlieb“ erschienene Rumänenlied.[9] Obwohl beide sich vor Gericht verglichen, veröffentlichte Kraus die „Akte Kerr“ wegen dessen angeblich inakzeptablen Verhaltens im Prozess in seiner Zeitschrift Die Fackel. Eine Entgegnung Kerrs wurde angekündigt, aber nie geschrieben.[10]
1929 wies Kerr zahlreiche Übernahmen aus Karl Ammers Übersetzungen von Texten François Villons in Brechts Dreigroschenoper nach.[11][12][13]
Bis zur Berufung des NS-Funktionärs Erich Scholz zum politischen Rundfunkkommissar des Reichsinnenministers und der Entlassung des Intendanten der Berliner Funkstunde Hans Flesch im Sommer 1932 nahm Kerr in seinen Glossen für den Berliner Rundfunk Stellung gegen die NSDAP.[14] Am 10. Mai 1933 wurden seine Werke Opfer der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten. Am 13. Mai 1933 wurde er vom Vorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler auf die Liste der Autoren gesetzt, deren Werke „für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten“ seien. In der ersten Liste des Börsenblatts der aus öffentlichen Bibliotheken auszusondernden Literatur wurden die gesamten Schriften Kerrs genannt. Mit dem Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, vom 14. Juli 1933, wurde er im August 1933 ausgebürgert und war auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs von 1933 aufgeführt.[15][16]
Kerr war am 15. Februar 1933 nach Prag geflohen, dann nach Lugano, wo seine Familie am 4. März eintraf. Dann ging die Familie nach Zürich, später nach Paris und schließlich 1935 nach London. Die Tochter Judith Kerr beschrieb später in ihren Büchern Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, Warten bis der Frieden kommt und Eine Art Familientreffen die Flucht aus Deutschland und das Leben im Exil.
Im Exil schrieb Alfred Kerr für die von den Exilanten neu gegründeten Zeitungen Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung sowie für Le Figaro, Le Temps und Les Nouvelles Littéraires, ab 1939 auch für die jüdische Wochenzeitung Aufbau in New York.
Von den polizeilichen Überwachungs- und Repressionsorganen in Berlin als gefährlicher Staatsfeind eingeschätzt, wurde Kerr im Frühjahr 1940 vom Reichssicherheitshauptamt auf die Sonderfahndungsliste G.B. gesetzt, ein Verzeichnis von Personen, die nach einer erfolgreichen Invasion und Besetzung der britischen Insel durch die deutsche Wehrmacht aufgrund ihrer besonderen Gefährlichkeit oder Verhasstheit in den Augen der SS- und Gestapoführung automatisch und vorrangig von Sonderkommandos ausfindig gemacht und verhaftet werden sollten.[17]
1938 wurde Kerr Mitbegründer des Freien Deutschen Kulturbundes. Von 1941 bis 1946 war er Präsident des Deutschen P.E.N.-Club im Exil in London, ab 1946 bis zu seinem Tode Ehrenpräsident. Von 1945 an arbeitete Kerr für die deutschen Tageszeitungen Die Welt und Die Neue Zeitung. 1947 wurde er britischer Staatsbürger.
1948 unternahm Kerr eine Vortragsreise durch Deutschland. Er kokettierte mit seinem fortgeschrittenen Alter: „Man stirbt einen Tod und weiß nicht welchen, vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen.“[18] Tatsächlich erlitt er während einer Theateraufführung einen Schlaganfall. Daraufhin beging er Suizid, indem er eine Überdosis Schlaftabletten einnahm. Alfred Kerr starb am 12. Oktober 1948 in Hamburg. Begraben wurde er auf dem Friedhof Ohlsdorf. Das Grab ist in der Lage „Z21-217“ zu finden. Seine Frau Julia starb am 3. Oktober 1965 in Berlin und liegt ebenfalls in diesem Grab.
Alfred Kerr verfasste seine Kritiken in einem eigenen Stil und in sehr eigensinniger Schreibweise. Sein Markenzeichen ist der „Blockstil“, also die römische Nummerierung seiner Texte in einzelne Absätze bzw. Blöcke, wobei die einzelnen Kapitel selten mehr als 4 bis 5 Zeilen umfassten. Damit ist er der Erfinder der publizistischen Prägnanz. In Die Welt im Drama heißt es dazu: „Aus einem Gedanken macht der Stückmacher ein Stück. Der Schriftsteller einen Aufsatz. Ich einen Satz.“[19][20]
Im Unterschied zu Maximilian Harden und Karl Kraus, die sich kategorisch der Phrase verweigerten, dominiert in den Kerrschen Essays – wie später bei Kurt Tucholsky – ein Nominalstil, zu dessen wichtigsten Merkmalen der knappe, auf viele konkrete Fälle anwendbare, also sentenzenhafte Sinnspruch bzw. die Verwendung einprägsamer Aperçus gehört. Er verwendete dialektale bzw. umgangssprachliche Formulierungen wie Berlinismen oder fremdsprachliche wie niederdeutsche Wendungen, prägte suggestive Formeln und näherte seine geschriebene der gesprochenen Rede an. Daneben dominieren Dialektismen, fremdsprachliche Redewendungen, Substantivierungen, Vergleiche, ein parataktischer Satzbau, Ellipsen, filmähnliche „Montagetechnik“,[21] fiktive Dialoge, die Anrede des Lesers, ja bisweilen gar die Anrede des Autors in einer Rezension. Das Resultat der komprimierten Verwendung all dieser Stilmittel ist eine Art Telegrammstil, weshalb Bernhard Diebold die Texte Kerrs auch als „literarische Stenogramme“ bezeichnete.[22]
Daneben ist Kerr ein Meister des Sarkasmus, wobei er in seinen Kritiken bisweilen gar Sprachfehler imitiert, um so die „Kinderplumpheiten“ eines Werkes zu unterstreichen. Zu Franz Werfels Bearbeitung von Euripides’ Werk Die Troerinnen etwa schrieb er boshaft: „Hier kann einer bloß ausrufen: O selig, ein Tind noch zu sein. Deht der Dichter ßpatzieren? Atta, atta!“[23] Auch Kerrs 1902 veröffentlichte Polemik Herr Sudermann, der Di…Di…Dichter basiert auf diesem Prinzip. Kerrs knappen und sarkastischen Witz bezeugt auch seine Rezension über das Erstlingswerk des sehr jungen Robert A. Stemmle, bestehend aus nur einem einzigen Satz: „Wacker, wacker, kleiner Kacker!“[24]
1990 wurde auf Initiative seiner Kinder in Berlin die Alfred-Kerr-Stiftung zur Förderung deutschsprachiger Nachwuchsschauspieler gegründet.
Mit dem Namen Alfred Kerr sind folgende Preise und Auszeichnungen verbunden:
Personendaten | |
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NAME | Kerr, Alfred |
ALTERNATIVNAMEN | Kempner, Alfred (Geburtsname) |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist |
GEBURTSDATUM | 25. Dezember 1867 |
GEBURTSORT | Breslau, Provinz Schlesien |
STERBEDATUM | 12. Oktober 1948 |
STERBEORT | Hamburg |