Claudio Magris (* 10. April 1939 in Triest) ist ein italienischer Schriftsteller, Germanist und Übersetzer. Von 1978 bis zu seiner Emeritierung 2006[1] war er Professor für moderne deutschsprachige Literatur an der Universität Triest.
Claudio Magris studierte an den Universitäten Turin und Freiburg im Breisgau Germanistik. Er ist Essayist und Kolumnist für die italienische Tageszeitung Corriere della Sera und andere europäische Zeitungen. Durch seine zahlreichen Studien zur mitteleuropäischen Kultur gilt er als deren größter Förderer in Italien.
Claudio Magris lebt in Triest und spricht seinen fast als eigene Sprache bezeichneten Triestiner Dialekt.[2] Das bekannte Retro-Kaffeehaus Caffè San Marco dort, eröffnet am 3. Januar 1914 vom Istrianer Marco Lovrinovich mit seiner erhaltenen, der Republik Venedig verbundenen Atmosphäre, gilt als sein Wohn- und Arbeitszimmer. Und auf seinem dortigen Stammtisch verfasst er seine zahlreichen, auch vom bunten Publikum der Triestiner Kaffeehäuser beeinflussten Essays und Romane.
Magris veröffentlichte als Triestiner Jung-Germanist mit 24 Jahren seine auf Italienisch geschriebene Doktorarbeit (auf Deutsch 1966: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur). Diese enthält die bis heute wichtigste und einflussreichste Theorie, die bislang zur modernen österreichischen Literatur entwickelt wurde. Den „habsburgischen Mythos“ konstituieren nach Magris grundsätzlich drei Elemente: Als ersten Teil sieht er die religiös aufgeladene Vorstellung eines im Zeichen einer höheren Idee gegründeten Reiches mit der Überlebenstaktik des defensiven Hinausschiebens und Sichtotlaufenlassens des Konfliktes („Das Fortwursteln, um einen Vielvölkerstaat zusammenzuhalten“). Das weitere Element bezeichnet die positive bürokratische Mentalität und Qualität der Monarchie. Magris greift dabei auf Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil und Franz Werfel beziehungsweise auf das Leitmotiv des „theresianischen Menschen“ zurück und sieht die Donaumonarchie von einer „wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Bürokratie“ verwaltet und bezeichnet als dessen verkörperte unbestechliche Dienstpragmatik den „Workaholic“ Kaiser Franz Joseph. Als drittes Grundmotiv ortet Magris den Hedonismus der habsburgischen Untertanen zwischen Oper, Theater, Tanzsälen, Wirts- und Kaffeehäusern mit der musikalischen Grundstimmung der Fledermaus. Der Habsburg-Diagnostiker Magris hat mit dem u. a. Grillparzer, Hofmannsthal, Musil, Bernhard, Werfel, Zweig, Roth, Bachmann oder auch die Menasses beeinflussenden „Mythos“ der österreichischen Literatur ein Eigenrecht (weg vom alpenländisch-exotischen Anhängseldenken) in der deutschen Literatur zugebilligt und gegeben.
Er schrieb Essays über E. T. A. Hoffmann, Joseph Roth, Henrik Ibsen, Italo Svevo, Robert Musil, Hermann Hesse und Jorge Luis Borges. Der literarische Durchbruch gelang Magris 1986 mit seinem bislang bekanntesten Werk, Danubio (Donau), einer literarischen Reise entlang des Flusses von der Quelle bis zur Mündung, in deren Vordergrund die multikulturelle Vergangenheit des Donauraumes steht. Seine Vision eines von Stacheldraht und Mauer freien und ungeteilten Mitteleuropas, die er in diesem Werk entwarf, wurde nur wenige Jahre nach dieser Veröffentlichung Realität. Diese oft falsch verstandene (Wieder-)Entdeckung Mitteleuropas bzw. der Donaumonarchie und die mehrfache zukünftige Brisanz seiner orakelhaft aufgegriffenen Themen hat ihm die Bezeichnung „Kolumbus von Triest“ gebracht.[3]
Ähnlich der Realität gewordenen Osteuropa-Vision Magris’ wurde sein schon 1963 zum „habsburgischen Mythos“ erfühltes bzw. diagnostiziertes habsburgisch-bürokratisches Wesen viel diskutiert und 2011 wissenschaftlich-statistisch nachgewiesen. Dabei verwandelt sich der „habsburgische Mythos“ zum Habsburgereffekt. Dieser bezeichnet kurz zusammengefasst, dass ehemalige Institutionen noch nach mehreren Generationen durch kulturelle Normen fortwirken, insbesondere dass Menschen, die auf ehemaligem habsburgischem Gebiet leben, messbar mehr Vertrauen in lokale Gerichte und Polizei haben und wahrscheinlich weniger Bestechungsgelder für öffentliche Dienste zahlen.[4] Claudio Magris hat das Fortwirken des „habsburgischen Mythos“ in den Machtstrukturen des heutigen Europas gezeigt.[5]
In seinem Werk Verfahren eingestellt von 2015 rekonstruiert Magris die nach 1945 verdrängten Verbrechen und die Geschichte der Stadt Triest von den Habsburgern bis zur deutschen Besatzung. Seine Spurensuche nach Lüge und Wahrheit, Schlussstrich und Wiederaufnahme des Verfahrens führt ihn über Europa hinaus, angefangen von Italien und Deutschland über Prag und Russland bis hin zu Amerika, Bolivien und Paraguay.[6]
Magris ist Mitglied vieler europäischer Akademien und war von 1994 bis 1996 für die italienischen Linken Senator im italienischen Senat. 1987 wurde er mit einem Antonio-Feltrinelli-Preis ausgezeichnet.
Zunehmend warnt er vor der Gegenwart des Krieges und betätigt sich als paneuropäischer Friedensstifter im Sinne Kants.[7] Er sieht sich selbst als einen der letzten Triestiner Kaffeehausliteraten, deren Tradition aussterben wird – dies jedoch nicht lähmend wehmütig, sondern als Chance für Neues.[8]
Personendaten | |
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NAME | Magris, Claudio |
KURZBESCHREIBUNG | italienischer Schriftsteller, Germanist und Übersetzer |
GEBURTSDATUM | 10. April 1939 |
GEBURTSORT | Triest |