Die Sonette an Orpheus sind ein Gedichtzyklus von Rainer Maria Rilke. Er schrieb die 55 Sonette im Februar 1922 wie im „Diktat“[1] nieder, nachdem er die viele Jahre stockende Arbeit an den Duineser Elegien beendet hatte. Beide Gedichtbände stehen bereits für den Autor in engem Zusammenhang. Die Sonette sind in zwei Teile aufgeteilt, die Reihenfolge der Gedichte folgt jedoch nicht immer chronologisch der Reihenfolge der Entstehung.
Rilke bezeichnet sein Werk im Untertitel als „ein Grabmal für Wera Ouckama Knoop“. Bis auf zwei Sonette (I, 25. und II, 28.), die offensichtlich an die jung verstorbene Tänzerin (1900–1919; Tochter des Schriftstellers Gerhard Ouckama Knoop) gerichtet sind, lassen sich jedoch nur schwer Bezüge zur früh Verstorbenen finden, mit deren Mutter Rilke in gutem Verhältnis stand. Auch der Mythos des Orpheus, an den die Gedichte gerichtet sind, wird zwar immer wieder in Anspielungen aufgerufen und liegt den Sonetten zu Grunde, spielt aber nicht die große Rolle, die der Titel erwarten lässt.
Ein Sonett besteht aus vier Strophen. Zwei Quartette werden gefolgt von zwei Terzetten. Die Sonett-Tradition ist in der deutschen Literatur nicht so ausgeprägt wie beispielsweise in der englischen und italienischen. Ein Vorbild Rilkes könnten Die Blumen des Bösen von Charles Baudelaire gewesen sein. Gedichte in ganze Zyklen zu kleiden, entsprach durchaus einer zeitgenössischen Erscheinung. Vergleichbar wären Werke Stefan Georges, Arthur Rimbauds und Stéphane Mallarmés. Rilke hält sich kaum an formale Kriterien, wie sie etwa August Wilhelm Schlegel formulierte. Die Reimstruktur wird, wie auch Metrik und Kadenzsystem, ständig variiert. Durch die häufige Verwendung von Enjambements durchbricht Rilke sogar die Versstruktur. Schwierigkeiten beim Verständnis des Textes bereiten Pronomina mit nicht immer klarem Bezug. So beginnt etwa das dritte Sonett im ersten Teil:
Ein Gott vermag’s. Wie aber sag mir, soll / ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier? / Sein Sinn ist Zwiespalt. An der Kreuzung zweier / Herzwege steht kein Tempel für Apoll.
Es bleibt der Interpretation überlassen, ob sich „sein Sinn“ auf den Gott oder den Mann bezieht.
Fundiert wird das Werk durch den Mythos um Orpheus und Eurydice. Als Quelle hierfür dienen vor allem die Metamorphosen des Ovid und in geringerem Maße Vergils Georgica. Das Prinzip der ovidischen Verwandlungen findet sich auch in und vor allem zwischen den Sonetten wieder. Während im ersten Sonett vom orphischen Gesang, dem Wald und den Tieren die Rede ist, „verwandelt“ sich dies im zweiten Sonett in ein Mädchen (Und fast ein Mädchen war’s und ging hervor / aus diesem einigen Glück von Sang und Leier). Im Verlaufe des zweiten Sonetts verschiebt sich der Fokus vom Mädchen auf die Welt (Sie schlief die Welt).
Indem Rilke sich auf den Ursänger- und -dichter Orpheus beruft, erfolgt zugleich eine poetologische Selbstreflexion. Häufig geht es um die Bedingungen des Dichtens, den Charakter der Kunst: Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes. / Wann aber sind wir? (I,3). Eine Lösung dieses Problems kann im fünften Sonett des ersten Teils gefunden werden, wo es heißt: Ein für alle Male ist’s Orpheus wenn es singt (I,5). Das heißt, die Dichtung besitzt immer göttlichen Charakter, da der Dichter in direkter Nachfolge des Göttersohnes steht.
Schon früh gab es Kritik an Rilkes Sonetten. So bezeichnet bereits 1927 Robert Musil Rilke als denjenigen Dichter, der „das deutsche Gedicht zum ersten Mal vollkommen gemacht hat“, beschränkt sich aber auf die Duineser Elegien als Gipfel des künstlerischen Schaffens Rilkes und konstatiert bezüglich der Sonette an Orpheus eine „Senkung […], die sein Werk […] erleidet“. Was Wolfram Groddeck in seinem Nachwort zur Reclam-Ausgabe als „Dilemma einer kritischen Lektüre“ bezeichnet, resultiert aus der Widerständigkeit des Textes, der sich einer einfachen Deutung verschließt. Gleichzeitig stellt die Qualität des lyrischen Ausdrucks unzweifelhaft einen Höhepunkt der deutschen Lyrikgeschichte dar. So schwankt die Kritik an den Sonetten oft zwischen der Unterstellung eines klanglichen Primats über die semantische Ebene und der bedingungslosen Affirmation des Zyklus.
I,1
Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!
O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!
Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung
ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.
Tiere aus Stille drangen aus dem klaren
gelösten Wald von Lager und Genist;
und da ergab sich, daß sie nicht aus List
und nicht aus Angst in sich so leise waren,
sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr
schien klein in ihren Herzen. Und wo eben
kaum eine Hütte war, dies zu empfangen,
ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen
mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, -
da schufst du ihnen Tempel im Gehör.
I, 5
Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose
nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.
Denn Orpheus ist’s. Seine Metamorphose
in dem und dem. Wir sollen uns nicht mühn
um andre Namen. Ein für alle Male
ist’s Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht.
Ist’s nicht schon viel, wenn er die Rosenschale
um ein paar Tage manchmal übersteht?
O wie er schwinden muß, daß ihr’s begrifft!
Und wenn ihm selbst auch bangte, daß er schwände.
Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,
ist er schon dort, wohin ihr’s nicht begleitet.
Der Leier Gitter zwingt ihm nicht die Hände.
Und er gehorcht, indem er überschreitet.