Eingeschworene Jungfrau

Junge eingeschworene Jungfrau aus Selca, Albanien, in Gesellschaft von Männern des Kelmendi-Stammes (dokumentiert von Edith Durham, 1908)

Als eingeschworene Jungfrau, auch geschworene Jungfrau, Schwurjungfrau, die Bleibenden oder albanische Mannfrau (albanisch burrnesha oder virgjinesha; englisch sworn virgin; serbokroatisch-kyrillisch ostajnica oder muskobanja)[1] wird auf dem Balkan eine Frau bezeichnet, die in ihrer Familie und in der Gesellschaft die Rolle eines Mannes übernimmt und dabei in aller Regel völlig auf sexuelle Beziehungen, Ehe und Kinder verzichtet. Die Frau legt vor den Ältesten der Gemeinde oder des Stammes einen Schwur ab und wird fortan als Mann behandelt. Sie trägt Männerkleidung und Waffen und kann die Position des Familienoberhaupts übernehmen. Auch kann sie männlich konnotierte Berufe wie Militärdienst oder Tätigkeiten auf dem Bau ergreifen und gegen häusliche Gewalt vorgehen. Hauptursachen für die Entscheidung als Mann zu leben sind die Vermeidung einer ungewollten Ehe oder das Fehlen eines männlichen Familienoberhaupts sowie der Wunsch nach einem freien Leben mit mehr Möglichkeiten.[2]

Um 2010 lebten noch einige Dutzend eingeschworene Jungfrauen in Albanien, die alle aus dem traditionalistischen Norden des Landes stammen. In den letzten Jahren ist ihre besondere Lebensweise in den Fokus der wissenschaftlichen Forschung und der Medien geraten. Im Jahr 2017 identifizierte eine Forscherin in Tropoja, Shkodra und Tirana noch 24 „Schwurjungfrauen“.[3]

Eine 47-jährige eingeschwo­rene Jungfrau in Rapsha auf Hoti-Gebiet, Albanien (dokumentiert von Edith Durham, 1908)

Über die Existenz der eingeschworenen Jungfrauen berichteten westeuropäische Reisende und Forscher zum ersten Mal an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich einst neben dem Norden Albaniens auch über Montenegro, den Kosovo, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien und Teile Westserbiens.[4][5] Ihre Lebensweise kommt bei Albanern, Südslawen und Roma sowie selten auch bei Aromunen und Griechen vor und ist nicht an eine bestimmte Konfession gebunden. Sie ist auf abgelegene ländliche Regionen beschränkt, wo die Menschen in archaischen Stammes- und Familienstrukturen leben. Während dieses Verhalten bis in das 20. Jahrhundert hinein bei diesen Völkern noch weit verbreitet war, sorgte die gesellschaftliche Modernisierung in den letzten Jahrzehnten für ein weitgehendes Aussterben der Lebensform. In Albanien leben noch (älteren) Schätzungen zufolge 40 eingeschworene Jungfrauen.[6][7][8]

Eine ähnliche Rolle des Geschlechtertausches findet sich in Afghanistan bei den Batscha Poschi („die, welche wie Jungen angezogen sind“): Töchter, die einen fehlenden Mann und Ernährer im Haushalt zu ersetzen haben und in männlicher Aufmachung auch arbeiten gehen können, was für Frauen unerwünscht ist.[9]

Für den symbolischen Übertritt zum männlichen Geschlecht gab es mehrere Gründe. Nur dadurch konnte eine Frau in den Stammesgesellschaften Südosteuropas einer arrangierten Verheiratung entgehen. Indem sie fortan als Mann lebte, ersparte sie sich und ihrer Familie die Entehrung, die sonst durch den Bruch eines Eheversprechens unweigerlich eingetreten wäre. Ein zweiter Grund für das Leben als eingeschworene Jungfrau war das Fehlen eines männlichen Familienoberhaupts, wodurch die Frauen der Familie schutzlos waren und die betreffende Familie auch keinen Sitz im Rat der Gemeinde oder des Stammes hatte. Wenn kein Sohn die Nachfolge übernehmen konnte, trat eine ledige Tochter an diese Stelle, lebte als Mann und war Familienoberhaupt. Indem eine eingeschworene Jungfrau an die Spitze der Familie trat, konnte das Problem zumindest für eine Generation gelöst werden. Weitere Gründe waren der individuelle Wunsch, als Mann zu leben, die in den Kanun–Gesetzessammlungen festgelegte schlechte Stellung der Frau in der Gesellschaft, der man als eingeschworene Jungfrau entkommen konnte, sowie die Notwendigkeit, in einer Blutfehde einen Rächer zu haben, wenn alle männlichen Familienmitglieder tot waren.[10]

Rechtliche Grundlagen

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«Kanuni i Malevet të Shypnís shliron e perjashton: „VIII. Virginat (fêmnat, qi veshen si burrë): S’ veçohen prej grásh tjera, posë qi jânë të lira me nðêjë nðer burra, porsè pá tager zânit e kuvenðit.»

„Das Gesetz der albanischen Berge befreit und nimmt aus: „8. die Jungfrauen (sogenannte virgjinat, das sind Mädchen, die Männerkleidung tragen). Sie werden von den anderen Frauen nicht gesondert behandelt, nur sind sie frei, sich unter den Männern aufzuhalten, aber ohne Stimme (wenn auch Sitz) im Rate.“

Kanun: 12. Buch: Befreiung und Ausnahmen, 1. Kapitel: Teilhaber der Ausnahmen[11]

Die Frau trat vor ein Gremium, dem die zwölf wichtigsten Männer des Dorfes angehörten, und gelobte sexuelle Enthaltsamkeit. Danach konnte sie Waffen tragen und die Führung der Familie übernehmen. In dieser Rolle wurde sie in der von Männern dominierten Gesellschaft als vollwertiges Mitglied anerkannt und respektiert. Wenngleich die Übernahme der männlichen Rolle formal freiwillig zu erfolgen hatte, spielte häufig der Druck durch die Clanmitglieder eine entscheidende Rolle.[12] Für Nordalbanien werden die Rechte der eingeschworenen Jungfrauen im Gewohnheitsrecht, dem Kanun, geregelt. Sie dürfen sich unter Männern aufhalten und haben einen Sitz im Rat (allerdings ohne Stimmrecht). Außerdem waren sie erbberechtigt.[13] Die Übernahme der männlichen Rechte und Pflichten bedeutete auch, dass die eingeschworenen Jungfrauen die Blutfehden ihrer Verwandten fortführen mussten.

Geschlechtsidentität

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Die eingeschworenen Jungfrauen übernehmen weitgehend die männlichen Verhaltensweisen: Sie kleiden sich wie Männer, tragen Waffen, gehen auf die Jagd und dürfen verschiedene Männern vorbehaltene Privilegien wie beispielsweise Tabak- und Alkoholkonsum in Anspruch nehmen. Die Frage „A je burrnesh?“ (albanisch für „Bist du so stark wie ein Mann?“) war in den 1990er Jahren eine übliche Begrüßung in Nordalbanien.[14] Eingeschworene Jungfrauen nehmen in den meisten Fällen vollständig die soziale Rolle eines Mannes an. Die Selbstwahrnehmung der betreffenden Personen ist davon jedoch zunächst einmal grundsätzlich unabhängig. Predrag Šarčević argumentiert, dass eingeschworene Jungfrauen generell außer ihrer sozialen Rolle als Frauen gesehen werden müssten.[15] Allerdings ist die Selbstdarstellung und -wahrnehmung der Betroffenen selbst keinwegs einheitlich. Manche eingeschworenen Jungfrauen sprechen von sich selbst in der weiblichen, andere in der männlichen Form. Außerdem gibt es Ausnahmen, in denen Betroffene ihren Status als eingeschworene Jungfrau ablegten und danach heirateten und Kinder bekamen.[16] Ebenso ambivalent gestaltet sich die Frage nach dem sexuellen Begehren: Trotz des geleisteten Schwurs gibt es einige Fälle, in denen eingeschworene Jungfrauen ihr Interesse an Männern und/oder Frauen mehr oder weniger explizit artikulierten.[16] Darüber hinaus sind auch zwei Fälle bekannt, in denen eingeschworene Jungfrauen mit anderen Frauen intime Beziehungen geführt haben sollen und deshalb als Lesben bezeichnet wurden.[17]

Inwiefern das Leben als eingeschworene Jungfrau auch als eine Form der Transgeschlechtlichkeit verstanden werden kann, ist ebenfalls umstritten. Zweifelsohne lässt sich feststellen, dass ein Großteil der eingeschworenen Jungfrauen mit ihrer männlichen Identität sehr glücklich ist.[18] Viele Betroffene tun dabei einiges dafür, dass Außenstehende sie nicht für Frauen halten: Neben Crossdressing soll z. B. auch das Abbinden der Brüste praktiziert worden sein.[19] Nichtsdestotrotz gehen (wie oben bereits angedeutet) bei weitem nicht alle eingeschworenen Jungfrauen vollkommen in einer männlichen Identität auf und kehren in einzelnen Fällen sogar zu einem Leben als Frau zurück.

Die Frage, inwieweit eingeschworene Jungfrauen also Männer, Frauen oder doch eher eine dritte Geschlechtskategorie sind, ist letztlich kaum allgemeingültig zu beantworten. Die individuellen Fälle mit ihren jeweiligen ganz eigenen Motiven und Verhaltensweisen sind schlicht zu verschieden, als dass ein Urteil, das auf die meisten Betroffenen zutreffen würde, gefällt werden könnte.

  • Robert Elsie: Sworn Virgin. In: Historical dictionary of Albania (= European historical dictionaries. Band 42). Lanham 2004, ISBN 0-8108-4872-4, S. 405–406 (englisch).
  • Pepa Hristova (Fotos), Sophia Greiff, Danail Yannick (Text): Sworn Virgins / Pepa Hristova. Hrsg.: F. C. Gundlach. Kehrer, Heidelberg 2013, ISBN 978-3-86828-347-1 (englisch, Leseprobe auf pepahristova.com – Bildband Porträt- und Landschaftsfotografie).
  • René Grémaux: Woman Becomes Man in the Balkans. In: Gilbert Herdt (Hrsg.): Third Sex Third Gender: Beyond Sexual Dimorphism in Culture and History. Zone Books, New York 1996, ISBN 0-942299-82-5 (englisch).
  • Alice Munro: The Albanian Virgin. In: Open Secrets. 1994, ISBN 0-679-43575-1 (Belletristik; deutsch: Offene Geheimnisse. ISBN 3-608-93371-9).
  • Susan E. Pritchett Post: The Myth of the Burrnesh. Centre for South East European Studies, London 1999 (englisch).
  • Ellen (Elena) Robertson Martinez: Social Representations and Women Who Live as Men in Northern Albania. Universität Cambridge 2020 (englisch; Doktorarbeit; Volltext: doi:10.17863/CAM.72219)
  • Susanne Schröter: FeMale: Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2002, ISBN 3-596-15716-1.
  • Antonia Young: Women Who Become Men: Albanian Sworn Virgins. Berg, Oxford 2000, ISBN 1-85973-335-2 (englisch; Besprechung von Karl Kaser).
  • 2006: Elvira Dones: Sworn Virgins (englisch), Spielfilm.[20]
  • 2016: Fathia Bazi: Wild Flower (albanisch mit englischen Untertiteln), Dokumentarfilm, Bluetone Stories.
  • 2019: Filmkantine: Frei um jeden Preis. Albaniens Schwurjungfrauen, Dokumentarfilm im Auftrag des ZDF.[21]

Einzelnachweise

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  1. René Grémaux: Mannish women of the Balkan mountains: preliminary notes on the “sworn virgins” in male disguise, with special reference to their sexuality and gender-identity. London 1989, S. 143–172, hier S. 146 (englisch).
  2. Die Burneshas: Die Mann-Frauen Albaniens. In: Maria Haas. Abgerufen am 7. August 2023.
  3. Ellen (Elena) Robertson Martinez: Social Representations and Women Who Live as Men in Northern Albania. Hrsg.: University of Cambridge. Cambridge 1. Januar 2020, S. 66 ff., doi:10.17863/CAM.72219 (cam.ac.uk [abgerufen am 11. Oktober 2021]).
  4. Marijana Gušič: Ostajnica, in: Glasnik Muzeja Kosova i Metohije; VI. Pristina 1961, S. 86–99 (serbisch).
  5. Mirko Barjaktarovič: Prilog proucavanju tobelja (zavetovanih devojaka), in: Zbornik Filozofskog fakulteta Univerziteta u Beogradu, 1. 1948, S. 343 (serbisch).
  6. Dan Bilefsky: Jungfrauen, die Männer wurden In: Welt am Sonntag. 29. Juni 2008, abgerufen am 12. Oktober 2019.
  7. Dan Bilefsky: Albanian Custom Fades: Woman as Family Man. In: The New York Times. 25. Juni 2008 (englisch), abgerufen am 12. Oktober 2019.
  8. Für immer männlich (über die Fotoserie „Sworn Virgins“ der Fotografin Pepa Hristova). In: L-Mag Januar/Februar 2019, S. 41–45 (PDF, 11,1MB (Memento des Originals vom 22. September 2020 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.l-mag.de).
  9. Anna Fischhaber: „bacha posh“ in Afghanistan: Ein falscher Sohn ist besser als keiner. In: Süddeutsche Zeitung. 12. März 2015, abgerufen am 15. März 2020.
    Video von faz: „Batscha Poschi“ in Afghanistan: Wenn Töchter Söhne werden müssen auf YouTube, 23. April 2018, abgerufen am 15. März 2020 (1:14 Minuten).
  10. Armela Xhaho: Sworn virgins, male and female berdaches: A comparative approach to the so-called ‘third gender’ people. In: Central European University (Hrsg.): Gender Questions. Volume 1, Nr. 1. Unisa Press, 2013, ISSN 2309-9704, S. 113 (upjournals.co.za [PDF; abgerufen am 11. Oktober 2021]).
  11. Original nach Shtjefën Gjeçov: Kanuni i Lekë Dukagjinit – The Code of Lekë Dukagjini. Hrsg.: Leonard Fox. Gjonlekaj Publishing Company, New York 1989, ISBN 0-9622141-0-8, S. 215.; Übersetzung nach Robert Elsie (Hrsg.): Der Kanun. Dukagjini Publishing House, Peja 2001, S. 261/262.
  12. Programmtext: Der Kanun lebt. In: oe1.orf.at. 8. April 2017, abgerufen am 12. Oktober 2019.
  13. Robert Elsie (Hrsg.): Der Kanun des Lekë Dukagjini. Dukagjini Publishing House, Peja 2001, „12. Buch, 1. Kapitel, Absatz 8: Mädchen, die Männerkleidung tragen“, S. 206.
  14. Susan E. Pritchett Post: Women in Modern Albania: Firsthand Accounts of Culture and Conditions from Over 200 Interviews. McFarland, Jefferson NC 1998, ISBN 0-7864-0468-X, S. 57.
  15. Predrag Šarčević: Sex and Gender Identity of ‚Sworn Virgins‘ in the Balkans, In: Miroslav Jovanović und Slobodan Naumović (Hrsg.): Gender Relations in South Eastern Europe: Historical Perspectives on Womanhood and Manhood in 19th and 20th Century. Wien: Lit Verlag 2002, S. 125–142.
  16. a b René Grémaux: Mannish women of the Balkan mountains: preliminary notes on the “sworn virgins” in male disguise, with special reference to their sexuality and gender-identity. London 1989, S. 143–172 (englisch).
  17. René Grémaux: Woman becomes man in the Balkans, in: Gilbert Herdt (Hrsg.): Third sex, third gender: Beyond sexual dimorphism in culture and history. New York: Zone Books 1994, S. 241–81, hier S. 273.
  18. Mildred Dickemann: The Balkan Sworn Virgins. A Cross-Gendered Female Role, in: Stephen O. Murray und Will Roscoe. Islamic Homosexualities: Culture, History, and Literature. New York: New York University Press 1997, S. 197–203, hier S. 201.
  19. René Grémaux: Mannish women of the Balkan mountains: preliminary notes on the “sworn virgins” in male disguise, with special reference to their sexuality and gender-identity. London 1989, S. 143–172, hier S. 147 (englisch).
  20. Rahne Alexander: Albania – Film on Historical Custom of Sworn Virgin Oath for Male Rights – Kanun Patriarchal Code. In: Womans UN Report Network (WUNRN). 25. Dezember 2007, abgerufen am 12. Oktober 2019 (englisch).
  21. Frei um jeden Preis. Albaniens Schwurjungfrauen, Begleittext auf der Website von ARTE, Internet Archive vom 11. Oktober 2019. Abgerufen am 15. Oktober 2019.