Georges I. Gurdjieff (russisch Георгий Иванович Гюрджиев, Transkription Georgi Iwanowitsch Gjurdschijew, wiss. Transliteration Georgij Ivanovič Gjurdžiev; vermutlich * 1866[1] in Alexandropol, Russisches Kaiserreich; † 29. Oktober 1949 in Paris) war ein griechisch-armenischer Esoteriker, Schriftsteller, Choreograph und Komponist, der zunächst in Russland und später in Frankreich wirkte. Bekannt wurde er als Lehrer des sog. Vierten Weges und Begründer einer weltweiten und verzweigten Anhängerschaft.
Gurdjieff kam im griechischen Viertel der zum zaristischen Russland gehörigen Stadt Alexandropol (heute Gjumri, Armenien) zur Welt. Die in seinen Pässen aufgeführten Geburtsdaten reichen vom 1. Januar 1864 bis zum 28. Dezember 1877.[2] Sein Vater, Ioannis Georgiadis (griechisch Ιωάννης Γεωργιάδης) war ein wohlhabender Viehbesitzer und wirkte als Aschoch[3] (Barde), seine Mutter war Armenierin. Der Familienname wurde im Armenischen als Gjurdschjan (Գյուրջյան) wiedergegeben, woraus im Russischen Gjurdschijew (französisch transkribiert Gurdjieff) wurde. Nachdem die Herden der Familie an einer Seuche verendet waren (vermutlich 1872/73), eröffnete der verarmte Vater einen Holzhandel, der jedoch 1877 scheiterte. Er wurde daraufhin Tischler und zog 1878 mit Georg(ios) und dessen vier jüngeren Geschwistern in das gerade vom Zarenreich eroberte Kars in der heutigen Türkei.
1883 zog Gurdjieff nach Tiflis. Auf der Suche nach Orten verborgener esoterischer Traditionen, deren Spuren er seit seiner frühen Jugend meinte erkennen zu können, reiste er jahrzehntelang durch Zentralasien, Nordafrika und Europa. In seinem teils autobiographischen, teils wohl allegorischen Werk Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen beschreibt er die Erfahrungen, die er und eine Gruppe Gleichgesinnter, die „Sucher der Wahrheit“, dabei angeblich machten. 1908 ließ er sich in Taschkent nieder, wo er begann, in der Öffentlichkeit zu wirken. Ab 1912 leitete er in Moskau und Sankt Petersburg Studiengruppen, deren Teilnehmer in täglichen Übungen ein umfangreiches esoterisches Wissen anwenden sollten, um so zu einer „voll- und eigenständigen Entwicklung ihres menschlichen Potenzials“ zu gelangen. 1915 stieß sein bekanntester Schüler P. D. Ouspensky zu ihm, der bald darauf als Erster über Gurdjieffs System zu publizieren begann.
Um der Oktoberrevolution und deren Folgen zu entkommen, zogen Gurdjieff und seine Studenten über den Kaukasus nach Tiflis, wo er im September 1919 ein erstes Institut eröffnete. Aufgrund der Situation in Tiflis hatte dieses nur sieben Monate Bestand, und eine deutlich verkleinerte Gruppe folgte Gurdjieff 1920 nach Konstantinopel. Im Dezember 1920 erhielt Gurdjieff eine Einladung von Émile Jaques-Dalcroze, sich in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden niederzulassen, wo dieser eine Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik betrieb. Gurdjieff nahm das Angebot an und machte sich 1921 auf den Weg nach Deutschland. Er fuhr mit einer kleinen Gruppe Vertrauter mit der Eisenbahn nach Berlin und ließ sich Ende August zunächst im heutigen Berliner Ortsteil Schmargendorf nieder. Im November des gleichen Jahres hielt er erste Lesungen in Berlin. Allerdings scheiterte das Vorhaben, ein Institut in Hellerau zu eröffnen, nach langwierigen Verhandlungen mit einer Zivilklage, die Gurdjieff im Juni 1922 verlor.
Nach weiteren kurzen Stationen in London und Südengland ging Gurdjieff nach Frankreich und eröffnete am 1. Oktober 1922 das Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen im Schloss Prieuré des Basses Loges bei Paris. Dort zog er schnell eine illustre Schülerschaft internationaler Künstler und Intellektueller an (darunter Frank Lloyd Wright, Katherine Mansfield und Alfred Richard Orage) und lehrte, unter anderem, seine 'Heiligen Tänze‘ oder ‚Movements‘. Zu gewissen Anlässen ließ er diese öffentlich aufführen, so in der Prieuré, 1923 im Théâtre des Champs-Elysées in Paris sowie bei einer ersten Reise nach Amerika im Frühjahr 1924. Bis 1939 folgten sieben weitere Amerika-Reisen, eine letzte im Winter 1948/1949.
Da das Institut in einem großen Wald lag, wurde vom Boulevard, der die schillernden Geschichten um seine Bewohner und Studenten aufgriff, der Ausdruck Waldphilosophen geprägt.
Nach der Rückkehr von der ersten Amerika-Reise war Gurdjieff im Sommer 1924 an einem schweren Verkehrsunfall beteiligt, der nach Ansicht vieler sein weiteres Leben und Wirken veränderte. Dennoch setzte er, nachdem 1933 die Prieuré geschlossen worden war, die Arbeit mit seinen Schülern in einer Wohnung in der Rue des Colonels-Renard N° 6[4] in Paris fort, auch während der deutschen Besatzung. Angeblich soll er alle seine jüdischen Schüler geschützt und noch rechtzeitig vor der Deportation der Pariser Juden am 16. Juli 1942 in Sicherheit gebracht haben.
Gurdjieff genoss auch nach dem Krieg eine zunehmende internationale Publizität, und es kamen, neben vielen Neugierigen und Schaulustigen, immer wieder neue Schüler zu ihm, darunter auch eine Gruppe junger, vor allem amerikanischer, zumeist lesbischer Künstlerinnen um Solita Solano, Kathryn Hulme, Jane Heap und Margaret Anderson, genannt The Rope. Nicht zuletzt seine „Toasts to the Idiots“ markieren in dieser Zeit eine veränderte und für manchen früheren Schüler wie P. D. Ouspensky fragwürdige methodische Lehrpraxis. Seltene Filmdokumente zeigen Momentaufnahmen dieser letzten Periode Gurdjieffs in Frankreich.
Gurdjieffs Tochter Lida heiratete 1947 den englischen Gartengestalter Russell Page, einen Anhänger Gurdjieffs;[5] die Ehe wurde 1954 geschieden.
Georges I. Gurdjieff starb nach einem Zusammenbruch während des Movement-Unterrichts am 29. Oktober 1949 im amerikanischen Krankenhaus von Neuilly. Sein Leichnam wurde in einer russisch-orthodoxen Begräbniszeremonie auf dem Friedhof von Avon beigesetzt.
Ausgehend von seiner fundamentalen Kritik am modernen Menschen, dessen fragmentiertem Ich und unterentwickeltem Sein, präsentierte Gurdjieff ein System für eine ganzheitliche menschliche Entwicklung, das er „esoterisches Christentum“ nannte: „We can only strive to be able to be Christians“.[6] Ihm zufolge kann der Mensch sich der göttlichen Wahrheit bzw. einem bewussten Sein nur nähern, wenn alle Teile oder „Zentren“, die laut Gurdjieff den Menschen ausmachen, harmonisch entwickelt und integriert werden: das Denken, das Fühlen und die Bewegungen des Körpers.
Ein wesentliches Symbol für diesen transformatorischen Prozess wurde von Gurdjieff im Enneagramm dargestellt, das Einzug und mehr oder weniger willkürlichen Gebrauch im weiten Spektrum des sogenannten New Age fand.
Gurdjieff spricht von einem Vierten Weg als Synthese und Weiterentwicklung der drei traditionellen Wege zur Evolution des Denkens (Yogi), des Fühlens (Mönch) und des Körpers (Fakir). Demnach verläuft der Vierte Weg im täglichen Leben – nicht etwa hinter Klostermauern oder im fernen Himalaya – und in drei idealerweise synchronen Linien unter der Führung eines erfahrenen Lehrers:
Wesentliche Elemente dieser Arbeit sind:
Der vierte Weg zeigt also auf verschiedene Weise, wie im menschlichen Leben eine beständige Aufmerksamkeit bzw. Achtsamkeit erhöht und Tagträumerei sowie Zerstreutheit mit ihren negativen Auswirkungen minimiert werden können. Laut Gurdjieff ist eine solche innere Entwicklung der Beginn eines weiteren Veränderungsprozesses mit dem Ziel, den Menschen zu seinem vollständigen Potential zu entwickeln.
Gurdjieff's Movements sind eine Reihe heiliger Tänze, die von ihm im Zuge seiner Reisen gesammelt oder selbst choreographiert wurden. Gurdjieff unterrichtete die Tänze im Rahmen der inneren Arbeit. Sie besitzen zentralen Stellenwert in der Lehre des Vierten Weges. Schätzungen zufolge sind ca. 250 Movements bis zum heutigen Tag erhalten geblieben.[7]
Gurdjieff selbst äußerte sich zu den Bewegungen wie folgt: „Jeder Körperhaltung entspricht ein bestimmter innerer Zustand, und umgekehrt entspricht jedem inneren Zustand eine bestimmte Haltung. Jeder Mensch besitzt eine Anzahl gewohnheitsmäßiger Haltungen, und er geht von der einen zur anderen über, ohne jemals bei den dazwischenliegenden Handlungen anzuhalten. Das Einnehmen neuer, ungewohnter Stellungen gibt Ihnen die Möglichkeit, sich innerlich auf eine andere Weise zu beobachten, als Sie es unter gewöhnlichen Umständen tun.“[8]
Neben vielen unbekannten Quellen enthält Gurdjieffs System Elemente des Sufismus (islamische Mystik), gewisser buddhistischer und hinduistischer Traditionen sowie essenisch-christlicher Mystik. Es gibt auch Anhaltspunkte für einen nicht unbedeutenden pythagoräischen Einfluss, betrachtet man etwa die deutliche Affinität bei den mathematisch-systemischen Lehren wie z. B. dem Gesetz der Oktave sowie den musikalischen Werken Gurdjieffs.
Zu seinen wichtigsten Schülern zählen P. D. Ouspensky, Jeanne de Salzmann, Alfred Richard Orage (der die ersten amerikanischen Gruppen leitete), John G. Bennett, Maurice Nicoll und der Pianist Thomas de Hartmann. Mit diesem komponierte er gemeinsam über 300 Stücke sogenannter „Sacred Music“, die zum Beispiel auch von Keith Jarrett gespielt und publiziert wurden. Darüber hinaus hinterließ Gurdjieff eine Reihe streng choreografierter Movements, darunter die als zentral gewertete Serie der 39.
Als literarisches Opus Magnum gilt die dreibändige Schrift Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel – Eine objektiv unparteiische Kritik des Lebens des Menschen. In einer Art kosmologischer Science-Fiction erzählt darin Beelzebub, Bewohner einer weit entfernten und harmonischen Welt, seinem Enkel Hassin die lange und lehrreiche Geschichte seiner Abenteuer, Erfahrungen und Begegnungen, die er im Verlauf mehrerer Aufenthalte auf der Erde erlebte. Beelzebubs Erzählungen wurden als erster Teil der Serie All und Alles veröffentlicht, deren zweiten und dritten Teil die postum publizierten Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen und Das Leben ist nur wirklich, wenn „ich bin“ bilden.
Nach seinem Tod wurde in den 50er Jahren die Gurdjieff-Stiftung (Gurdjieff Foundation) durch Jeanne de Salzmann in Kooperation mit anderen Schülern Gurdjieffs gegründet und von Jeanne de Salzmann bis zu ihrem Tod 1990 geleitet. Danach wurde die Stiftung von Michel de Salzmann bis zu seinem Tod im Jahr 2001 geleitet. Heute werden diese und weitere weltweite Stiftungen unter der International Association of the Gurdjieff Foundations zusammengefasst und von Alexandre de Salzmann – Sohn von Michel de Salzmann – geleitet.[9][10]
Gurdjieffs Bedeutung ist umstritten. Entweder wird er als charismatischer Meister angesehen, der fundamental neues Wissen in den westlichen Kulturraum brachte – oder als wirrer Scharlatan mit großem Ego und Selbstdarstellungstrieb. Anekdoten aus seiner Biografie und seinem Werk bieten je nach Perspektive genug Stoff für beide Einordnungen.
Die radikale Kritik Gurdjieffs am „modernen Menschen“ und dessen psychischer Verfassung stellt scheinbar mitleidlos das bisherige Selbstbild auf irritierende Weise in Frage. So bezeichnet Gurdjieff uns zum Beispiel als willenlose Geschöpfe, die in schlafähnlichem Unverstand den wechselnden Einflusssphären des Universums ausgesetzt sind. Gurdjieff-Anhänger deuten eine Ablehnung seines Systems als motiviert durch ein Übergewicht solcher Kränkungen gegenüber dem Wunsch für einen Zugang zu den methodischen Inhalten und deren lebendiger Praxis.
Gurdjieffs heutige Anhängerschaft weist Brüche und unterschiedlichste Verzweigungen auf, die zum Teil schon vor seinem Tod zu beobachten waren. So haben sich neben den Gurdjieff-Stiftungen weltweit zahlreiche Gruppierungen gebildet, die Fragmente der Gurdjieff-Lehre adaptiert haben. Einige bezogen sich z. B. sehr spezifisch auf die Movements, andere bildeten theoretisierende Debattierclubs.
Ungeachtet dessen hat seine Lehre nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Allein in Nordamerika schätzt man zwischen 5.000 und 15.000 Anhänger. Folgende Gruppen wurden von Schülern Gurdjieffs gegründet:
Personendaten | |
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NAME | Gurdjieff, Georges I. |
ALTERNATIVNAMEN | Гюрджиев, Георгий Иванович (russisch); Gjurdschijew, Georgi Iwanowitsch; Gjurdžiev, Georgij Ivanovič; Georgiadis, Georgios (griechisch); Gjurdschjan, Georgi (armenisch) |
KURZBESCHREIBUNG | armenisch-russischer Esoteriker, Schriftsteller, Choreograph, Komponist, Lehrer |
GEBURTSDATUM | unsicher: 1866 |
GEBURTSORT | Alexandropol |
STERBEDATUM | 29. Oktober 1949 |
STERBEORT | Paris |