Geboren als Sohn eines Gutsbesitzers, sah er 1945 als neunjähriger Junge, versteckt im Feld die Stadt Demmin niederbrennen.[1] Nach der Enteignung des Gutes 1947 lebte er fünf Jahre lang in Rostock, wo sein Vater einen Fotoladen übernahm[2]. So kam Syberberg in die Nähe zur Fotografie und von dort dann zum Film. 1952/53 entstanden erste 8-mm-Filme von der Theaterprobebühne des Brechtschen Berliner Ensembles. 1953 flüchtete er in die Bundesrepublik,[3] wo er 1956 bis 1957 Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte studierte. Er promovierte in München über „Das Absurde bei Dürrenmatt“. 1963 drehte Syberberg Kulturberichte für die Münchener Abendschau des Bayerischen Rundfunks, unter anderem über Fritz Kortner und Romy Schneider.
Syberberg lebt in München und Nossendorf bei Demmin, wo er im Jahre 2000 das völlig heruntergekommene Anwesen der Familie zurückkaufte und sein Geburtshaus vor dem Abriss rettete. Er rekonstruierte die alte Aufteilung des Gutshauses, befreite den Garten von Schutt und Trümmern, pflanzte Bäume und legte die alten Wege wieder an.[4] Für die Renovierung seines Elternhauses aus eigener Kraft erhielt er im Jahr 2010 den Friedrich-Lisch-Denkmalpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern, der mit 4.500 € dotiert ist.
Für Syberberg stellt das Kino eine vitale Passion dar, ein „Gesamtkunstwerk“. Sein kinematographisches Werk ist durch eine Fusion zweier ursprünglich entgegengesetzter Pole der deutschen Kulturgeschichte geprägt – vom Rationalismus des 18. Jahrhunderts und dem Romantizismus des 19.
Sein fünfstündiger und nur aus einem einzigen Interview bestehender Film Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried 1914–1975 (1975) deckte die Freundschaft des Bayreuther Clans mit Adolf Hitler auf und wurde deshalb von den Wagners erbittert bekämpft.[4] Aufgrund dieses und seines umstrittenen Werkes Hitler, ein Film aus Deutschland, eines Interviews mit André Müller (1988)[5] sowie seines Buches Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege (1990) wurde ihm eine Verharmlosung des Nationalsozialismus vorgeworfen.[6] Syberberg ist diesbezüglich der Überzeugung, dass Trauerarbeit nur geschehen kann, wenn man sich der Faszinationskraft des Dritten Reiches stellt und den „Hitler in uns“ erkundet.[7]
Ab 1980 war Syberberg mit der Kolumne Syberbergs Notizen der erste Kolumnist der neugegründeten Zeitung taz.[8]
Syberberg arbeitet an Projekten über seine Heimatorte Nossendorf und Demmin.[9] So ließ er 2017 das in den letzten Kriegstagen 1945 ausgebrannte und restlos vernichtete Gebäude des Café Zilms am Marktplatz in Demmin für zwei Wochen in Originalgröße als auf Stoff bedruckte Fassade wieder aufleben.[10] Eine vorläufige, dreieinhalbstündige Fassung seines Films Demminer Gesänge wurde 2023 von der Sektion Forum der Berlinale abgelehnt.[11]
1970: Nach meinem letzten Umzug. Erste Veröffentlichung des 1953 im Berliner Ensemble auf 8 mm aufgenommenen Materials mit Inszenierungen Bertolt Brechts (siehe auch 1993)
1989: Die Marquise von O. – Regie, WDR/ORF, 224 Minuten
1993: Syberberg filmt bei Brecht. Herr Puntila und sein Knecht Matti – Urfaust – Die Mutter. Neubearbeitung des 1953 aufgenommenen 8-mm-Materials (siehe oben, 1970)
1994: Ein Traum, was sonst? – Regie, ORF-Koproduktion, 130 Minuten
Interpretationen zum Drama Friedrich Dürrenmatts: Zwei Modellinterpretationen zur Wesensdeutung des modernen Dramas. Uni-Druck, München 1965.
Fotografie der 30er Jahre: Eine Anthologie. Schirmer-Mosel Verlag, München 1977, ISBN 978-3-921375-14-3.
Filmbuch – Filmästhetik – 10 Jahre Filmalltag. Meine Trauerarbeit für Bayreuth – Wörterbuch des deutschen Filmkritikers. Fischer Taschenbuch, 1979, ISBN 3-596-23650-9.
Die freudlose Gesellschaft. Notizen aus dem letzten Jahr. Hanser Verlag, München 1981, ISBN 3-446-13351-8.
Parsifal. Ein Filmessay. Heyne Verlag, München 1982, ISBN 3-453-01626-2.
Der Wald steht schwarz und schweiget. Neue Notizen aus Deutschland. Diogenes Verlag AG, Zürich 1984, ISBN 3-257-01662-X.
Hans-Joachim Hahn: Syberberg-Debatte. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Transcript, Bielefeld 2007, ISBN 978-3-89942-773-8, S. 216 f.
Roger Hillman: A Wagnerian German Requiem: Syberberg’s Hitler (1977). In: Roger Hillman: Unsettling Scores: German Film, Music, and Ideology. Indiana University Press, Bloomington 2005.
Gerald Matt, Hans Jürgen Syberberg, Boris Groys u. a.: Syberberg – Film nach dem Film. Hrsg. Hans-Jürgen Syberberg, Ursula Blickle Stiftung, Gerald Matt für die Kunsthalle Wien, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2008, ISBN 978-3-940748-12-6.
Nina Noeske: Mit Wagner über Wagner hinaus: Hans-Jürgen Syberbergs Parsifal-Film (1982). In: Jürgen Kühnel, Siegrid Schmidt (Hrsg.): Parsifals Rituale. Religiöse Präfigurationen und ästhetische Transformationen. Beiträge der Ostersymposion Salzburg 2013. Müller-Speiser, Anif/Salzburg 2014 (= Wort und Musik. Band 77), S. 110–124.
Petrus H. Nouwens: Hans Jürgen Syberberg und das Modell Nossendorf. Räume und Figuren ohne Ort und Zeit. Shaker Verlag, Aachen 2018, ISBN 978-3-8440-5867-3.
C. Bernd Sucher (Hrsg.): Theaterlexikon. Autoren, Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kritiker. Von Christine Dössel und Marietta Piekenbrock unter Mitwirkung von Jean-Claude Kuner und C. Bernd Sucher. 2. Auflage. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1999, ISBN 3-423-03322-3, S. 694.
Kay Weniger: Das große Personenlexikon des Films. Die Schauspieler, Regisseure, Kameraleute, Produzenten, Komponisten, Drehbuchautoren, Filmarchitekten, Ausstatter, Kostümbildner, Cutter, Tontechniker, Maskenbildner und Special Effects Designer des 20. Jahrhunderts. Band 7: R – T. Robert Ryan – Lily Tomlin. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2001, ISBN 3-89602-340-3, S. 572 ff.
Syberbergs Homepage mit legalen Downloads zweier seiner Filme, Hitler, ein Film aus Deutschland (vier Teile, 1977–1980, deutsch und englisch) und Nietzsche – Ecce homo (2000)
↑Jan Brachmann: Hans-Jürgen Syberberg zeigt seinen Film Demmier Gesänge in Demmin. In: FAZ.NET. 21. Juni 2023, ISSN0174-4909 (faz.net [abgerufen am 24. August 2023]).
↑Simon Strauß: Syberberg im Interview: Was ist los mit diesem Land? In: FAZ.NET. ISSN0174-4909 (faz.net [abgerufen am 16. November 2021]).
↑ abKatja Nicodemus: Hans-Jürgen Syberberg: Ein König im Widerstand. In: Die Zeit. 29. August 2013, ISSN0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 10. Dezember 2019]).
↑Katja Nicodemus: Hans-Jürgen Syberberg: Ein König im Widerstand. In: Die Zeit. 15. September 2013, ISSN0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 30. September 2017]).
↑Unterm Strich. In: Die Tageszeitung: taz. 8. Dezember 1995, ISSN0931-9085, S.12 (taz.de [abgerufen am 3. Juli 2020]).
↑Jan Brachmann: Singen statt schweigen. Hans-Jürgen Syberbergs Film „Demminer Gesänge“ dokumentiert Versuche einer Stadt, sich aus ihrer Lähmung zu befreien. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. März 2023, S. 11.