Strukturformel | ||||||||||||||||||||||
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Allgemeines | ||||||||||||||||||||||
Freiname | Irinotecan | |||||||||||||||||||||
Andere Namen |
(S)-4,11-Diethyl-3,4,12,14-tetrahydro-4-hydroxy-3,14-dioxo-1H-pyrano[3′,4′:6,7]-indolizino[1,2-b]chinolin-9-yl-[1,4′-bipiperidin]-1′-carboxylat | |||||||||||||||||||||
Summenformel |
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Externe Identifikatoren/Datenbanken | ||||||||||||||||||||||
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Arzneistoffangaben | ||||||||||||||||||||||
ATC-Code | ||||||||||||||||||||||
Wirkstoffklasse | ||||||||||||||||||||||
Wirkmechanismus |
Topoisomerase I-Hemmer | |||||||||||||||||||||
Eigenschaften | ||||||||||||||||||||||
Molare Masse | ||||||||||||||||||||||
Schmelzpunkt | ||||||||||||||||||||||
Sicherheitshinweise | ||||||||||||||||||||||
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Toxikologische Daten | ||||||||||||||||||||||
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen (0 °C, 1000 hPa). |
Irinotecan ist ein Arzneistoff, der zur Behandlung bestimmter Krebserkrankungen eingesetzt wird. Pharmakologisch ist Irinotecan ein Zytostatikum aus der Gruppe der Topoisomerase-Hemmer, chemisch stellt es ein halbsynthetisches Derivat des natürlich vorkommenden Pflanzeninhaltsstoffes Camptothecin dar. Camptothecin ist ein Alkaloid, das aus der Pflanze Camptotheca acuminata gewonnen wird.
Irinotecan bewirkt einen „programmierten Zelltod“ (Apoptose). Es hemmt das Enzym DNA-Topoisomerase I, das die räumliche Anordnung der DNA reguliert und in vielen Tumoren gesteigert aktiv ist. Die krankhaft gesteigerte Zellteilung des entarteten Gewebes wird gebremst.
Irinotecan und sein aktiver Metabolit SN-38 lagern sich dem Komplex aus DNA-Topoisomerase I und DNA an und verhindern den Wiederverschluss des zuvor erfolgten DNA-Einzelstrangbruchs. Nach gegenwärtigem Wissensstand verursacht die Replikation von DNA durch die entsprechenden Enzyme wie DNA-Polymerasen bei Kontakt mit dem Komplex aus Irinotecan, DNA und DNA-Topoisomerase I einen Doppelstrangbruch der DNA und somit einen Abbruch der DNA-Replikation. Säugetierzellen besitzen keinen ausreichend wirksamen DNA-Reparaturmechanismus, um solche DNA-Doppelstrangbrüche zu reparieren.
Bemessen am Zellzyklus ist Irinotecan nur in der S-Phase des Zellzyklus (DNA-Synthese) wirksam. Ruhende Zellen (gesunde und krankhafte), welche keine DNA synthetisieren, sich also nicht in der S-Phase des Zellzyklus befinden, werden durch Irinotecan nicht beeinflusst.
Verwandte Substanzen mit gleichem Wirkungsmechanismus sind Topotecan und Camptothecin. Etoposid (VP16) und Teniposid (VM26) sind zwar auch Topoisomerase-Hemmer, sie hemmen aber die DNA-Topoisomerase II.
Irinotecan ist ein Prodrug. Es wird vor allem in der Leber durch eine Carboxyesterase vermittelte Spaltung der Carbamatgruppe zum Phenol in die aktive und lipophilere Form SN-38 überführt. SN-38 ist ein ca. 1000-fach stärkerer Hemmstoff der DNA-Topoisomerase I als Irinotecan selbst. Die Halbwertzeit von Irinotecan beträgt 14,2 (Spanne 6–12) Stunden. Die mittlere terminale Eliminationshalbwertszeit von SN-38 beträgt 10–20 Stunden. Irinotecan wird zu 50 % an Plasmaproteine gebunden, SN-38 zu 95 %. Die Zeit zum Erreichen der Spitzenkonzentration von Irinotecan im Plasma beträgt ein bis zwei Stunden.
Die Ausscheidung von Irinotecan erfolgt vorwiegend über eine Glucuronidierung des aktiven Metaboliten SN-38 zu SN-38-Glukuronid, welches um den Faktor 50–100 schwächer wirksam ist als unverändertes SN-38. Trotz Glukuronidierung erfolgt nur eine geringfügige Ausscheidung über den Urin von SN-38 (3 %). 11–20 % des Irinotecans werden unverändert im Urin ausgeschieden. Im Stuhlgang werden 63,7±6,8 % des Irinotecan und SN-38 ausgeschieden.
Sowohl Irinotecan als auch SN-38 liegen in einem pH-abhängigen Gleichgewicht zweier Zustandsformen vor: einer Lacton-Form und einer Hydroxy-Form. Ein sauerer pH bewirkt den verstärkten Übergang der Hydroxy-Form in eine Lacton-Form, ein basischer pH bewirkt das umgekehrte. Nur die Lacton-Form von Irinotecan und SN-38 haben eine Wirksamkeit gegen Zellen und sind somit aktiv. Die Hydroxy-Form hat keine Wirkung und ist somit inaktiv. Welchen Anteil SN-38 an der Anti-Tumor-Wirkung (antineoplastische Wirkung) von Irinotecan hat, ist gegenwärtig noch nicht zuverlässig geklärt.
Primärbehandlung (first line)
Irinotecan wird bei der primären Behandlung (first line-Therapie) des metastasierten Kolonkarzinoms (Dickdarmkrebs mit Fernabsiedlungen; Stadium IV nach Dukes) in Kombination mit 5-Fluoruracil (5-FU) und Folinsäure eingesetzt. Die bessere Wirksamkeit der Kombination Irinotecan, 5-FU und Folinsäure gegenüber 5-FU und Folinsäure allein wurde in zwei randomisierten, kontrollierten, multinationalen klinischen Phase III-Studien nachgewiesen.
Sekundärbehandlung (second line)
Irinotecan wird bei der sekundären Behandlung (second line-Therapie) des metastasierten Kolonkarzinoms eingesetzt, welches auf eine primäre Behandlung mit 5-FU und Folinsäure nicht oder nur unzureichend angesprochen hat (Beispiel: Wachstum des Tumors oder der Metastasen unter Therapie mit 5-FU und Folinsäure oder fehlender Rückgang des Tumors oder der Metastasen unter Therapie mit 5-FU und Folinsäure). Der Wirksamkeitsnachweis von Irinotecan beruht auf drei offenen klinischen multizentrischen Studien mit Irinotecan als einziger Substanz getestet gegen 5-FU Infusionen oder beste Supportivtherapie (keine Chemotherapie).
Irinotecan wird erprobt in der Therapie weiterer Tumorerkrankungen wie Zervixkarzinom (Gebärmutterhalskrebs), Ösophaguskarzinom (Speiseröhrenkrebs), Magenkarzinom (Magenkrebs), Lungenkarzinome (Lungenkrebs), Mesotheliom (Rippenfellkrebs), Pankreaskarzinom (Bauchspeicheldrüsenkrebs), Gallengangskarzinom; sowie bei Kindern und Jugendlichen zur Behandlung extrakranieller solider Tumoren (Ewing-Sarkom, Neuroblastom, Rhabdomyosarkom, PNET, Wilms-Tumor) oder bestimmter Hirntumoren (Ependymom, Medulloblastom, malignes Gliom, Glioblastom, PNET).
Irinotecan wird langsam intravenös (über 90 Minuten) infundiert. Sofern die Kombinationsbehandlung angezeigt ist, erfolgen unmittelbar danach zunächst die Folinsäure-Infusion und dann die 5-FU-Infusion.
Zur Verhinderung oder Abmilderung von unerwünschten Wirkungen von Irinotecan kann die prophylaktische Gabe von Atropin (Milderung oder Verhinderung eines cholinergen Syndroms) oder von Antiemetika (gegen Übelkeit und Erbrechen) angezeigt sein.
Irinotecan sollte bei
nur nach strikter Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt werden.
Da Irinotecan in die Muttermilch übergeht, darf unter der Behandlung nicht gestillt werden. Irinotecan-haltige Arzneimittel sind für Kinder und Jugendliche nicht zugelassen.
Abhängig von Dosis und Infusionsgeschwindigkeit kann ein cholinerges Syndrom auftreten, das sich früh (innerhalb von 24 Stunden, sogenanntes Akutes cholinerges Syndrom) im Auftreten von Bradykardie (Herzfrequenzabfall), Gesichtsrötung (Flush), Nasenlaufen, Tränenlaufen, Schwitzen und Durchfall (Diarrhoe) äußert; oder spät (nach 24 Stunden und später) mit einer Diarrhoe (Durchfall) einhergeht. Weitere mögliche unerwünschte Wirkungen sind Myelosuppression (manifestiert sich in Neutropenie, Anämie und Thrombopenie), Alopezie, Leberschädigung (Transaminasenerhöhung, Hyperbilirubinämie, Gelbsucht bis zum Leberversagen), Nierenschädigung (Kreatininanstieg, bisweilen auch Nierenversagen, vor allem bei gleichzeitigem Flüssigkeitsverlust durch Durchfall), Hypersensitivität (Überempfindlichkeit, allergische Reaktion), Kolitis, Ileus (Darmentzündung und Darmverschluss).
Charakteristisch sind durch Irinotecan verursachte Durchfälle.
„Frühe Durchfälle“ treten während oder kurz nach der Infusion von Irinotecan auf. Sie werden durch eine cholinerge Wirkung von Irinotecan verursacht, welche sich auf eine Hemmung der Acetylcholinesterase (AChE) zurückführen lassen. In den meisten Fällen ist dieser frühe Durchfall bedingt durch Irinotecan kurzandauernd und nur selten schwerwiegend. Parallel zum Durchfall treten oft als zusätzliche Symptome eines cholinergen Syndroms Schwitzen, Nasenlaufen (Schnupfen), gesteigerte Speichelproduktion, Tränenlaufen, Gesichtsrötung (Flush) und gesteigerte Darmtätigkeit auf. Die Gabe von Atropin kann diese Symptome und damit auch den Durchfall abmildern oder verhindern (prophylaktische Gabe). Der vermehrte Speichelfluss kann zusammen mit dem vermehrten Magenschleim zu Würgeeffekten und Erbrechen führen.
„Späte Durchfälle“ treten 24 Stunden nach Irinotecan-Infusion oder noch später auf. Diese Durchfälle sind zumeist schwerwiegender, dauern länger an und können ohne Gegenmaßnahmen auch zu lebensbedrohlichen Zuständen infolge massiven Flüssigkeits- und Salzverlust führen. Als Richtwert gilt für schweren Durchfall mehr als 10 Stuhlgänge am Tag oder Durchfall mit Blutbeimengung. Im Gegensatz zum „frühen Durchfall“ ist der „späte Durchfall“ durch zusätzliche Mechanismen verursacht: neben der cholinergen Wirkung durch Blockade der Acetylcholinesterase ist auch die toxische Wirkung des Medikaments auf die Schleimhaut des Darms ein Mitverursacher dieser Nebenwirkungen. Menschen über 65 Jahren weisen ein höheres Risiko zur Entwicklung von Durchfällen durch Irinotecan auf.
Die Wechselwirkungen zwischen Irinotecan und anderen Arzneistoffen oder Lebensmittelbestandteilen resultieren aus der hepatischen Verstoffwechselung von Irinotecan, vor allem über das Cytochrom CYP3A4. Substanzen, die ebenfalls über CYP3A4 verstoffwechselt werden, können den Abbau und somit Wirkung und Nebenwirkung von Irinotecan beeinflussen.
Eine Reihe von Wechselwirkungen von Irinotecan mit anderen Arzneistoffen und Lebensmittelbestandteilen sind gegenwärtig bekannt.
Verschiedene Antiepileptika wie zum Beispiel Carbamazepin, Phenobarbital, Phenytoin senken durch ihren Einfluss auf das Cytochrom-P450-System wahrscheinlich die Wirkungen des Irinotecan, und zwar durch Steigerung dessen Clearance. Um einen Wirkungsverlust von Irinotecan auszugleichen, ist entweder eine Dosiserhöhung von Irinotecan oder ein Absetzen der Antiepileptika erforderlich. Eine Dauertherapie mit Dexamethason kann ebenfalls die Wirkungen von Irinotecan vermindern, in dem es die Clearance von Irinotecan durch verschiedene Mechanismen steigert, so dass bei gleichzeitiger Gabe eine Dosisanpassung erforderlich werden kann. Auch Johanniskraut senkt die Wirkstärke von Irinotecan. Die Pflanzeninhaltsstoffe fördern die CYP3A4-vermittelte Umwandlung von Irinotecan zu inaktiven Metaboliten, so dass niedrigere Plasmaspiegel der wirksamen Substanz SN-38 resultieren.
Diuretika wie Furosemid, Torasemid usw. verstärken den als Nebenwirkung von Irinotecan auftretenden Durchfall. Die daraus resultierende mögliche Dehydratation (Wasserverlust) kann durch die Diuretika verstärkt werden.
Die gleichzeitige Anwendung von Irinotecan und Etoposid erhöht das Risiko einer Lebertoxizität (Leberschädigung). Die gemeinsame Anwendung von Irinotecan und Prochlorperazin erhöht das unerwünschte Auftreten einer Akathisie (Nicht-Sitzenkönnen).
Monopräparate
Arinotec (A), Axinotecan (D), Campto (D, A, CH), Camptosar (USA, CDN), zahlreiche Generika (D, A, CH)