Jacques Rancière, 1940 in Algier geboren, hat von 1960 bis 1965 Philosophie an der École normale supérieure studiert, wo er 1963 mit einer Arbeit über den jungen Marx das Diplôme d’études supérieures und 1964 die Aggregation erhält. Ab 1964 nimmt er an Louis Althussers Seminar über Das Kapital teil, woraus ein erster auch ins Deutsche übersetzter Beitrag hervorgeht: „Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie“. Nach einem Jahr als Philosophielehrer an einem Pariser Gymnasium beginnt Ranciére 1966 am CNRS mit einer Doktorarbeit über Feuerbach, die er jedoch 1968 abbricht. Ausgewählt von Michel Foucault erhält Rancière 1968 eine Assistenzstelle an der Universität Paris VIII (damals in Vincennes). 1972 wird er Maître-Assistant, 1985 Maître de Conférence und 1990 zum Professor berufen. Abgesehen von Gastprofessuren bleibt er bis zur Emeritierung im Jahr 2000 an der Universität Paris VIII.
Nach dem Bruch mit Althusser 1968 war er vor allem als Aktivist einer maoistischen Gruppe tätig. 1972 zieht sich Rancière jedoch, unter dem Einfluss von Foucault, in die Archive zurück. Diese historische Recherche mündet 1980 in die Dissertation, die unter dem Titel „La Nuit des Prolétaires: Archives du rêve ouvrier“ veröffentlicht wurde.
La Mésentente (1995), der bis heute wohl einflussreichste Text Rancières, stellt den Versuch dar, Politik als eine Kette von Subjektivierungen zu denken, als Praxis des Streits, die ihren Anfang bereits in der griechischen Polis nimmt. Der Kampf zwischen Arm und Reich, zwischen Mächtigen und von der Macht Ausgeschlossenen ist demnach nicht ein Problem, welches es qua Politik zu lösen gilt, sondern Politik selbst. Indem der gesellschaftliche Anteil der Anteillosen („la part des sans-part“) sich seiner Position bewusst wird und für seine Rechte eintritt, werden soziale Strukturen revidiert. Dies bedeutet u. a. auch eine Absage an den vordergründigen Konsens einer medialisierten Politik.
Wichtig ist auch der Begriff der Polizei, wie Rancière ihn definiert, nämlich als direkten Gegensatz zur Politik, als Festschreibung der Ungleichheit in der Verteilung der gesellschaftlichen Anteile: Dieser legt die Beziehungen der Subjekte zueinander fest, leugnet die Existenz der Anteillosen, die Existenz eines Unmessbaren. Politischer Streit (Dissens) ist der Bruch mit einer solchen Ordnung und damit Politik im Sinne Rancières.
Seit Beginn der 1990er-Jahre beschäftigt sich Rancière vor allem mit Fragen der Ästhetik; er schreibt u. a. Texte über Malerei und Filmtheorie. Sein Ansatzpunkt hierbei ist eine Kritik des Prinzips der Repräsentation, wie es auf Aristoteles’ Mimesis-Begriff fußt. Mit dem Entstehen einer modernen Literatur im 19. Jahrhundert, so Rancière, kam es auch zu einer Veränderung der Wahrnehmung, einer Emanzipation des geschriebenen Wortes von jedweder Abbildungsfunktion. In diesem Spannungsfeld verortet er das Aufkommen des Mediums Film, welches sowohl Repräsentation als auch enthierarchisierter Diskurs ist. Er kritisiert die Filmtheorie von Gilles Deleuze und hält dessen Trennung von Bewegungs- und Zeitbild für unhaltbar.[1]
Le destin des images (2003) unterstreicht die sinnliche Qualität von Bildern: Sie sind nicht nur Darstellung (Repräsentation), sondern auch unmittelbar erfahrbar, keiner Ordnung unterworfen. Gerade solche Überlegungen sind es, die Rancière zu einer Popularität in der Theater- und Medienwissenschaft verhelfen. So beruft sich Hans-Thies Lehmann als ein Theoretiker des postdramatischen Theaters in seinen Essays wiederholt auf Jacques Rancière.
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