Das Manifest an alle Völker Estlands (estnisch Manifest kõigile Eestimaa rahvastele) vom Februar 1918 war die Gründungsurkunde der Republik Estland. Der Tag der öffentlichen Verkündung in Tallinn, der 24. Februar, ist estnischer Nationalfeiertag.
Die Februarrevolution in Russland 1917 und der Sturz der Zarenherrschaft brachten dem Gouvernement Estland, dessen Gebiet seit dem Frieden von Nystad 1721 zum Russischen Reich gehörte, neue, erweiterte Selbstverwaltungsrechte. Am 12. April 1917 erließ die provisorische Regierung Russlands ein Dekret über die Autonomie Estlands. Im Mai und Juni 1917 fanden die allgemeinen, indirekten Wahlen zum provisorischen Landtag des Gouvernements Estland (Ajutine Maanõukogu, inoffiziell Maapäev genannt) statt. Der Landtag konstituierte sich am 14. Juli 1917. Es war das erste demokratisch gewählte Parlament Estlands. Der Landtag wählte eine Landesregierung (Maavalitsus) unter dem Politiker Jaan Raamot, auf den später Konstantin Päts folgte.
Am 28. November 1917, wenige Wochen nach der Machtübernahme der Bolschewiki in Petrograd vom 7. November 1917, erklärte sich der Provisorische Landtag in Tallinn in seiner letzten Sitzung zur obersten Gewalt in Estland bis zum Zusammentritt einer verfassungsgebenden Versammlung.[1] Der Landtag setzte einen Ältestenrat (Eesti maapäeva vanemate nõukogu) ein, der im Krisenfall auch die Kompetenz zur Gesetzgebung haben sollte.
Der Forderung der Bolschewiki nach einer Selbstauflösung des Landtags kamen die Abgeordneten nicht nach. Er wurde daher von den Bolschewiki gewaltsam auseinandergetrieben. Die Abgeordneten gingen in den Untergrund. Ende 1917 kamen sie überein, im Falle einer drohenden deutschen Besetzung Estlands die staatliche Unabhängigkeit auszurufen und die Westmächte um Anerkennung der staatlichen estnischen Selbständigkeit zu ersuchen.
Mitte Februar 1918, nach dem vorläufigen Scheitern der deutsch-sowjetrussischen Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, rückten die deutschen Truppen schnell weiter Richtung Nordosten vor. Die russischen Streitkräfte bereiteten ihren fluchtartigen Abzug aus Estland vor.
Am 18. Februar 1918, dem Beginn der deutschen Großoffensive,[2] setzte der Ältestensrat des Provisorischen Landtags im Zuge des sich anbahnenden Machtvakuums einen Ausschuss ein, der ein Unabhängigkeitsmanifest für ein souveränes Estland ausarbeiten sollte. Ihm gehörten die vier Abgeordneten Karl Ast, Jüri Jaakson, Juhan Kukk, Jüri Vilms[3] bzw. Ferdinand Peterson[4] an. Ziel war die Schaffung eines selbständigen und demokratischen Staats. Die neue staatliche Ordnung sollte später eine zu wählende verfassungsgebende Versammlung ausarbeiten. Das Manifest, das auf frühere Entwürfe zurückgriff, wurde am 21. Februar 1918 angenommen.
Gleichzeitig bildete der Ältestenrat am 19. Februar das dreiköpfige „Estländische Rettungskomitee“ (Eestimaa Päästekomitee) und übertrug ihm umfassende Vollmachten. Dem Rettungskomitee gehörten die estnischen Politiker Konstantin Päts, Jüri Vilms und Konstantin Konik an. Aufgabe des Komitees sollte die Koordinierung der für die Unabhängigkeit erforderlichen Schritte sein.
Ursprünglich war die Verkündung des Manifests für den 21. Februar 1918 im westestnischen Haapsalu vorgesehen, wo sich national gesinntes estnisches Militär befand. Doch bevor die Mitglieder des Rettungskomitees dort eintrafen, wurde die Stadt am frühen Morgen von deutschen Truppen besetzt. Auch das Vorhaben des Rettungskomitees, das Manifest am 24. Februar in Tartu zu verkünden, wurde verworfen.
Erstmals wurde das Manifest am Samstag, dem 23. Februar 1918, gegen acht Uhr abends vom Balkon des Theaters Endla im westestnischen Pärnu durch den Landtagsabgeordneten Hugo Kuusner im Namen des Ältestenrates des Provisorischen Landtags feierlich verlesen und durch Plakate bekanntgegeben.[5] Am 24. Februar 1918 wurde es in Viljandi durch Bürgermeister Gustav Talts und in Tori verlesen. Am selben Tag wurden Plakate mit dem Text in der Hauptstadt Tallinn geklebt und dort am 25. Februar 1918 durch den Provisorischen Ministerpräsidenten Konstantin Päts sowie in Paide durch den Militär Jaan Maide verkündet, einen Tag später auch in Rakvere.[6] Am 25. Februar 1918 erschien der Text in der estnischen Zeitung Päevaleht, am folgenden Tag in estnischen Zeitungen in Petrograd.
Die wichtigsten Aussagen des Manifestes sind:
Am 24. Februar 1918 erklärte das Rettungskomitee in Tallinn erneut die Loslösung Estlands von Russland und rief erstmals in der estnischen Geschichte die staatliche Selbständigkeit aus. Die Regierung erklärte gleichzeitig die Neutralität des Landes und forderte alle estnische Streitkräfte auf, nicht in den deutsch-sowjetrussischen Krieg einzugreifen. Am selben Tag ernannte das Rettungskomitee die (erste) Provisorische Regierung Estlands. Sie repräsentierte ein breites politisches Spektrum. Ihr gehörten die vier größten demokratischen Parteien an. Der 24. Februar ist heute estnischer Nationalfeiertag.
Am Mittag desselben Tages marschierten erste deutsche Truppen in Tallinn ein und besetzten bis Anfang März ganz Estland.[7] Sie übernahmen de facto die alleinige Regierungsgewalt im Land. Die Provisorische Regierung konnte nicht mehr zusammentreten. Ministerpräsident Konstantin Päts wurde verhaftet und interniert, sein Stellvertreter Jüri Vilms in Helsinki wahrscheinlich auf deutsches Geheiß hingerichtet.
Erst Anfang November 1918 kam es mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg zum Ende der deutschen Okkupation in Estland. Am 11. November 1918 unterzeichnete Deutschland den Waffenstillstand von Compiègne.
Am selben Tag konnte die provisorische Regierung der Republik Estland wieder zusammentreten. Einen Tag später wurde in einer gemeinsamen Sitzung der provisorischen Regierung und des Ältestenrates des Landtags ein neues Kabinett und Führung von Konstantin Päts gebildet, die zweite provisorische Regierung (Provisorische Regierung Päts II).