Siegfried Karg war das jüngste von zwölf Kindern des Redakteurs[1] Johann Jacob Karg (1823–1889) und dessen Frau Maria Friederike geb. Ehlert (1839–1908). 1882 übersiedelte die Familie nach Leipzig, wo der musikalisch begabte Junge in den Chor der Johanniskirche eintrat, Klavierunterricht erhielt und bald erste Musikstücke komponierte. Nachdem er 1896 dem Komponisten Emil Nikolaus von Reznicek eigene Werke vorgelegt hatte, vermittelte dieser ihm ein dreijähriges Stipendium am Leipziger Konservatorium, wo Karg bei Salomon Jadassohn, Carl Reinecke, Alfred Reisenauer, Robert Teichmüller und anderen studierte.
1901 ging er als Klavierlehrer ans Sannemannsche Konservatorium der Musik nach Magdeburg, wo er seinen Namen in Sigfrid Karg-Elert änderte. Ein Jahr später übernahm er auch gleiche Funktionen am Magdeburger Neuen Konservatorium für Musik, kehrte aber bald wieder nach Leipzig zurück. Dort begann er auf Anraten des Komponisten Edvard Grieg, sich verstärkt der Komposition zu widmen, zunächst überwiegend von Klaviermusik. 1904 begegnete er dem Musikverleger Carl Simon, der ihn auf die Möglichkeiten des Kunstharmoniums hinwies. Karg-Elert brachte sich das Spielen des Instruments selbst bei und schuf bis zu seinem Lebensende den umfangreichsten und bedeutendsten Werkkatalog an Harmoniummusik überhaupt. Durch den GewandhausorganistenPaul Homeyer wurde er ermutigt, einige Harmoniumstücke für die Orgel zu bearbeiten, bevor er 1909 mit den 66 Choralimprovisationen op. 65 seine ersten Originalbeiträge zur Orgelliteratur schrieb.
Grabstein auf dem Leipziger Südfriedhof (mit Reliefporträt)
1910 heiratete Karg-Elert Minna Luise Kretzschmar (1890–1971), vier Jahre später wurde die Tochter Katharina (1914–1984) geboren. Im Ersten Weltkrieg absolvierte der Komponist 1915 seinen Militärdienst als Regimentsmusiker. Ab 1919 war er Dozent für Musiktheorie und Komposition am Leipziger Konservatorium, 1932 ernannte man ihn dort zum Professor.
Während seine Werke besonders in Großbritannien und den USA sehr beliebt waren, sah sich Karg-Elert als Orgelkomponist in Deutschland hinter dem von ihm kritisch beäugten Max Reger zurückgesetzt, von dessen in Leipzig wirkenden ApologetenKarl Straube und Hermann Grabner er häufig angefeindet wurde. Auch das in den 1920er und 1930er Jahren zunehmend unter den Einfluss des aufkeimenden Nationalsozialismus geratende Kulturklima schadete dem eher international orientierten Karg-Elert sehr. Obwohl bereits schwer an einer Diabeteserkrankung leidend, nahm er deshalb 1932 die Einladung an, in den USA Orgelkonzerte zu geben. Die Konzertreise entpuppte sich wegen Karg-Elerts begrenzter Fähigkeiten im Orgelspiel bald als Misserfolg. Zurückgekehrt nach Leipzig, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand so sehr, dass er im April 1933 im Alter von 55 starb. Sein Grab befindet sich auf dem Leipziger Südfriedhof.
Nach seinem Tod wurde der Name des Nichtjuden Karg-Elert von den Nationalsozialisten in die erste Auflage des berüchtigten Musikalisches Juden-ABC aufgenommen.[2] Zwar konnte seine Tochter erreichen, dass er 1936 aus dem Lexikon entfernt wurde,[3] dennoch wurden die Werke des Komponisten in Deutschland kaum noch gespielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand einer Wiederbelebung seines Schaffens die an barocken Klangidealen orientierte Orgelbewegung im Wege. Erst seit den 1970er Jahren erkannte man allmählich wieder die Bedeutung von Karg-Elerts Musik.
Zahlreiche Briefe und Musikalien Karg-Elerts sind im Archivgut des Carl Simon Verlags erhalten, das sich als Teil des Bestandes 21081 Breitkopf & Härtel im Sächsischen Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig befindet.
Sigfrid Karg-Elert sah sich selbst als exzentrischen Einzelgänger. Sein Schaffen vereint auf individuelle Weise teils sehr verschiedene Einflüsse, z. B. von Johann Sebastian Bach (dem er in vielen Kompositionen durch das B-A-C-H-Motiv huldigte), Edvard Grieg, Claude Debussy, Alexander Skrjabin und dem frühen Arnold Schönberg. Im Großen und Ganzen lässt sich sein Stil als spätromantisch mit impressionistischen und expressionistischen Einschlägen charakterisieren. Seine ausgezeichneten musiktheoretischen Kenntnisse ermöglichten es ihm, die Harmonik bis an ihre Grenzen auszureizen, ohne dass die tonalen Zusammenhänge verloren gingen. Karg-Elert komponierte überwiegend für kleinere Besetzungen, bevorzugt für Orgel, Harmonium und Klavier, auch Kammermusik, Lieder und Chorwerke. Obwohl er kaum Orchestermusik hinterlassen hat, zeigt sich aber an den übrigen Kompositionen, insbesondere den Orgelwerken, dass er ausgeprägt sinfonische Klangvorstellungen hegte.
Karg-Elert gilt als einer der Hauptvertreter der von Hugo Riemann begründeten polaren Dur-Moll-Auffassung, nach welcher die Untertonreihe das spiegelsymmetrische Gegenstück zur Obertonreihe darstellt. Dur ist aus der Obertonreihe, Moll aus der Untertonreihe entwickelt. Somit ist nach Karg-Elert der Mollakkord die Spiegelung des Durakkordes und baut sich nach unten hin über Unterterz und Unterquinte auf (bei Grundton c’’ ist as’ Unterterz, f’ Unterquinte), woraus für Moll umgekehrte Funktionsbezeichnungen resultieren. Ausgehend davon entwickelte Karg-Elert ein musiktheoretisches System, nach dem jeder Klang innerhalb einer tonalen Ordnung funktional erklärbar ist. Weitergeführt wurden Karg-Elerts Theorien vor allem von seinen Schülern Fritz Reuter und Paul Schenk.
Karg-Elert[4] vertritt die These, dass eine siebenstufige Tonleiter, welche die harmonisch-reine Intonation der Hauptfunktionen T, S und D erlaubt, melodisch unsauber wirkt, da die jeweiligen Terzen – in C-Dur beispielsweise ,e / ,a und ,h – im melodischen Zusammenhang als zu niedrig empfunden werden können.
„In didymischer Auffassung ist ,cis tiefer als 'des; ,gis tiefer als 'as; ,dis tiefer als ,es; usw. Eine Bewertung, die dem melodischen Schrittempfinden des instinktiven Musikers durchaus widerspricht! Und in der Tat ist die naturgewollte primäre Terz gar kein melodisches, sondern ein harmonisches Intervall. […] Die griechische, mathematisch orientierte Musiktheorie zählte die pythagoreische Terz den Dissonanzen zu. Sie hatte in dem Sinne recht, als der Begriff der Konsonanz und Dissonanz ja durchaus eine harmonische Wertung ist. […] Die Linearität der Melodie hat nichts mit großen und kleinen Ganztönen, mit Kommadifferenzen und dergleichen zu schaffen.“[5]
Edvard Grieg. Biographisch-kritische Skizze. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 3 (1903), Nr. 24, ZDB-ID 1410387-4, S. 226–229.
Gustav Mahler. Kritisch-biographische Skizze. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 33 (1903), Nr. 31, S. 299f.
Gottfried Grunewald. Eine kritische und biographische Skizze. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 3 (1903), Nr. 32, S. 306f.
Christian Sinding. Biographie und Erläuterung seiner Werke. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 3 (1903), Nr. 36 und 37, S. 346–348 und 359–361.
Theodor Kirchner. Ein Nekrolog. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 3 (1903), Nr. 38, S. 367–369.
Sophie Menter. Biographische Skizze. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 4 (1904), Nr. 3, S. 18f.
Dr. Eduard Lassen †. Ein Nekrolog. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 4 (1904), Nr. 4, S. 26–28.
Hermann Kretzschmar. Eine biographische Skizze. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 4 (1904), Nr. 19, S. 146f.
Felix von Weingartner als Dirigent und Komponist. Eine Skizze. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 4 (1904), Nr. 22, S. 170f.
Freiherr E. N. von Rezniček. In: Die Musik-Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift. 4 (1904), Nr. 27 und 28, S. 210f, 218f.
Das moderne Kunstharmonium. Eine Plauderei. Simon, Berlin um 1914, DNB362504091.
Die Reform des modernen Druckwind-Harmoniums. Ein Dispositionsvorschlag. Simon, Berlin um 1914, DNB362504105.
Die Grundlagen der Musiktheorie. Ein modernes Lehr- und Aufgabenbuch für die Fachausbildung und den Selbstunterricht. Teil 1: Elementareinführung : Noten-, Schlüssel-, Intervallen- und Skalenlehre (= Kleine praktische Kompositionslehre). Leipzig 1920, DNB560611056.
Wie ich zum Harmonium kam. In: Der Harmoniumfreund. Zeitschrift für Hausmusik und Kunst. 1 (1927), Nr. 1, ZDB-ID 1452771-6, S. 4f.
Orgel und Harmonium. Eine Skizze. In: Musik-Taschenbuch für den täglichen Gebrauch (= Edition Steingräber. Nr. 60), Leipzig um 1929, DNB58079752X, S. 275–301.
Konservatorium und Musikerziehung. In: Deutsche Tonkünstler-Zeitung. 27 (1929), Nr. 5, ZDB-ID 206596-4, S. 433–436.
Akustische Ton-, Klang- und Funktionsbestimmung. Die Polarität der naturgegebenen Ton- und Klangproportionen. Ein Beitrag zu jeder Lehre von der Harmonik und musikalischen Akustik. Rothe, Leipzig [1930], DNB361028784.
Günter Hartmann (Hrsg.): Karg-Elerts Harmonologik. Vorstufen und Stellungnahmen (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik. Bd. 93), ISBN 978-3-922626-93-0.
Thomas Lipski (Hrsg.): Sigfrid Karg-Elert. Die theoretischen Werke. Harmonologik, Akustische Ton-, Klang- und Funktionsbestimmung, Orgel und Harmonium. Ewers, Paderborn 2004, ISBN 978-3-928243-16-2.
Feierlicher Zug zum Münster aus „Lohengrin“ (Richard Wagner). Kunstharmonium, gespielt von Sigfried Karg-Ehlert. Polyphon Nr. 15 452 (Matr. 26 087), aufgenommen um 1914, anzuhören auf YouTube
Hanns Avril: Kompositionsverzeichnis der erschienenen oder demnächst erscheinenden Werke von Sigfrid Karg-Elert (Leipzig) mit einer monographischen Skizze. C. G. Roeder, Leipzig um 1909.[6]
Alfred Baumgartner: Propyläen Welt der Musik. Die Komponisten. Bd. 3: Hauff – Menalt. Propyläen Verlag, Berlin und Frankfurt am Main 1989, ISBN 978-3-549-07833-4, S. 252.
Michael Benedict Bender: Sigfrid Karg-Elert. Die Passionsromanze "Die Grableguing Christi" Op. 84. In: Musica Sacra. Zeitschrift für katholische Kirchenmusik. 128 (2008), Nr. 2, ISSN0179-356X, S. 96–98.
Hermann F. Bergmann: Harmonie und Funktion in den Klavierwerken von Sigfrid Karg-Elert (1877–1933). Diss., Univ. Münster, Münster 1991, DNB920462626.
Frank Conley: Karg-Elert [Karg], Sigfrid (Theodor). In: Stanley Sadie (Hrsg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Bd. 13: Jennens to Kuerti. 8. Auflage. Macmillan Publishers, London 2001, ISBN 978-0-19-517067-2.
Paul Frank (Begr.), Wilhelm Altmann (Bearb.): Kurzgefaßtes Tonkünstler-Lexikon. Für Musiker und Freunde der Musik. Neudr. der Ausg. von 1936, 15. Aufl., Heinrichshofen, Wilhelmshaven 1983, ISBN 978-3-7959-0083-0, S. 288.
Sonja Gerlach: Sigfrid Karg-Elert: Verzeichnis sämtlicher Werke. Zimmermann, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-921729-23-8.
Günter Hartmann: Partita Retrospettiva. Zur Biographie Sigfrid Karg-Elerts. In: Zeitschrift für Musikpädagogik. 12 (1987), Nr. 13, ISSN0341-2830, S. 25–32.
Günter Hartmann: Sigfrid Karg-Elert und seine Musik für Orgel. 2 Bände (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik. Bd. 98 und 99). Orpheus-Verlag, Bonn 2002, ISBN 978-3-922626-98-5.
Volker Hempfling (Hrsg.): Festschrift zum 100. Geburtstag von Sigfrid Karg-Elert. (geb. 21. Nov. 1877 in Oberndorf/Neckar, gest. 9. April 1933 in Leipzig). Karg-Elert-Archiv, Odenthal 1977, DNB1076895883 (online).
Oliver Hilmes: Wer war Sigfrid Karg-Elert? Zum 75. Todestag des Komponisten. In: Musica Sacra. Zeitschrift für katholische Kirchenmusik. 128 (2008), Nr. 2, S. 76–77.
Walter Kwasnik: Sigfrid Karg-Elert. Sein Leben und Werk in heutiger Sicht. Nister 19171, DNB457330449.
Thomas Lipski (Hrsg.): Sigfrid Karg-Elert – Die theoretischen Werke. Ewers, Paderborn 2005, ISBN 978-3-928243-16-2.
Johannes Matthias Michel: Karg-Elert-Artikel. In: Rudolf Faber, Philip Hartmann (Hrsg.): Handbuch Orgelmusik. Komponisten, Werke, Interpretation. Bärenreiter, Metzler, Kassel, Stuttgart und Weimar 2002, ISBN 978-3-7618-2003-2.
Johannes Matthias Michel: Karg-Elert-Bibliographie – Discographie – Nachträge zum Werkverzeichnis. Strube, München 2001, ISBN 3-921946-59-X.
Johannes Matthias Michel: Sigfrid Karg-Elert und Max Reger. In: Musik und Kirche. Zeitschrift für Kirchenmusik. 56 (1986), Nr. 5, ISSN0027-4771, S. 240–246.
Paul Schenk: Sigfrid Karg-Elert. Eine monographische Skizze mit vollständigem Werkverzeichnis. Radelli & Hille, Simon, Leipzig und Berlin 1927, DNB575991712.
Thomas Schinköth: Sigfrid Karg-Elert und seine Leipziger Schüler. Bockel, Hamburg 1999, ISBN 3-928770-85-3.
John Allan Stallsmith: Impressionist organ music of Sigfrid Karg-Elert. Diss., Univ. of Alabama, Ann Arbor, Mich. 1993, DNB949541443.
Wolfgang Stockmeier: Dichtung und Wahrheit. Gedanken zu Sigfrid Karg-Elert (1877–1933). In: Musik und Kirche. Zeitschrift für Kirchenmusik. 78 (2008), Nr. 2, S. 110–114.
Reiner Schuhenn: Sigfrid Karg-Elert: "Wir danken dir, Herr Jesu Christ". In: Musica Sacra. Zeitschrift für katholische Kirchenmusik. 127 (2007), Nr. 1, S. 33–34.
Alwin Wollinger: Die Flötenkompositionen von Sigfrid Karg-Elert (1877 – 1933). Haag und Herrchen, Frankfurt am Main 1991, ISBN 978-3-89228-699-8.
↑Leipziger Adreß-Buch 64 (1885), S. 159 (online, abgerufen am 26. November 2024).
↑Christa Maria Rock, Hans Brückner: Musikalisches Juden-ABC. Brückner-Verlag, München 1935. Die 2. Auflage erschien 1936 unter dem Titel Judentum und Musik. Mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener.